Farbigere Gottesdienste im reformierten Zürich
Alle vier Jahre formuliert der Zürcher Kirchenrat für die Landeskirche Legislaturziele. Dies geschieht mit einem Seitenblick auf die gesellschaftliche Entwicklung: "Auf dem Markt der Möglichkeiten überlebt, wer Profil zeigt. Ist das Wort der Kirche wiedererkennbar und profiliert, wird es auffallen und ankommen". Die Kirchensynode mochte die Legislaturziele trotz zahlreichen bemerkenswerten Akzenten nicht grundsätzlich diskutieren.
Im übernächsten Sommer wird ein klotziger Hafenkran an der Limmat unweit des Rathauses den ehrwürdigen Kirchtürmen Konkurrenz machen. Einst liess sich die Kleinstadt von Zwingli reformieren, der Bürger- und Christ-Sein im Blick aufs Gemeinwohl zusammendachte. Heute wird in der Banker- und Party-Stadt mit einer Mehrheit von Einpersonenhaushalten Distanz zur überlieferten Religion getanzt und die Privatisierung der Landeskirchen gefordert, auch Suizidhilfe gefeiert und (nach einem Urteil in Köln) eilig ein Moratorium für Knabenbeschneidungen beschlossen...
Säkulare Stimmung
Zürich ist nicht Winterthur und der Anteil der Reformierten an der Bevölkerung liegt in Landgemeinden noch deutlich höher als in der multikulturellen Grossstadt (ganzer Kanton: ein Drittel, Stadt: ein Viertel). Doch Zürichs medial durchsäuerte säkulare Stimmung strahlt auf die Agglomeration und die ganze Deutschschweiz aus. In dieser Atmosphäre lebt die Landeskirche und sucht ihren Weg in die Zukunft.
Spardruck
Ihre finanzielle Situation erlaubt ihr noch zu agieren: Sie spürt auf hohem Niveau Spardruck (BVK-Debakel, weniger Staatsbeiträge, Austritte) und sieht einer Volksabstimmung über die Abschaffung der Kirchensteuern für Unternehmen entgegen. Zwar konnte ihr öffentlich-rechtlicher Status im neuen Kirchengesetz 2007 gesichert werden, doch hat der Kanton keine Hemmungen mehr, ihr an den Karren zu fahren: Pfarrhäuser, auch bestgelegene und historische, sollen künftig nach Wert versteuert werden und neuerdings muss die sie für die Benützung des Rathauses in der Limmat Miete bezahlen.
Prioritäten nach innen
Das gesellschaftliche Umfeld wird in den Legislaturzielen 2012-2016 unter dem "Titel Freiheit ergreifen - Hoffnung erfahren" knapp skizziert. Die Kirche Zwinglis will im "öffentlichen Werte-Diskurs" Präsenz zeigen und "aus evangelischer Freiheit christliche Verbindlichkeiten" vertreten. Mit den zwölf Zielen, je drei in den vier Handlungsfeldern der Kirche, und 33 Massnahmen setzt der Kirchenrat jedoch vor allem nach innen Prioritäten. Er lädt die Kirchgemeinden ein, sie mit ihren eigenen Zielsetzungen zu verbinden. Die Kirchensynode hat am 12. Juni die Legislaturziele besprochen, ohne die von der Evangelisch-kirchlichen Fraktion angeregte Grundsatzdebatte zu führen.
Gottesdienst stiftet Identität
"Befreit von aller Beliebigkeit werden wir frei zur Verbindlichkeit". Der Kirchenrat strebt in der Flut der Informationsgesellschaft eine profilierte Verkündigung an. Dazu tragen nicht nur biblischer Bezug und evangelischer Inhalt bei, sondern auch eine "geprägte liturgische Form". So soll der herkömmliche reformierte Gottesdienst zum "identitätsstiftenden, sichtbaren und lesbaren Zeichen der Zürcher Landeskirche" werden (Legislaturziel 1).
"Mutig, prophetisch und verheissungsvol"
Pfr. Willi Honegger, der Sprecher der Evangelisch-kirchlichen Fraktion, wollte diese Formulierung verstehen als "Verheissung, die sich - so Gott will - erfüllen darf", und als Aufforderung für die Arbeit in den Gemeinden. Der Baumer Pfarrer unterstrich die Bedeutung des regelmässigen Gottesdienstes. Dass der Kirchenrat daran festhalte, sei "mutig, prophetisch und verheissungsvoll".
Neue Formate
Der gesellschaftlichen Pluralität und der Vielfalt der 2011 untersuchten Milieus trägt der Kirchenrat Rechnung, indem er in Ergänzung zum herkömmlichen Predigtgottesdienst alternative gottesdienstliche Formen und Formate für unterschiedliche Zielgruppen wünscht. Dabei gilt weiter: "Herzstück des reformierten Gottesdienstes ist die Predigt als evangelische Auslegung der Bibel". Aber den Kirchgemeinden wird vorgegeben, dass sie "neue Gottesdienstformen pflegen und ihr Gottesdienstprofil finden". Die Formate sollen "rhetorische, musikalische und dramaturgische Vielfalt" aufweisen und Freiwillige aktivieren.
Abendmahl als Inbegriff der Feier
Das Abendmahl erhält mehr Gewicht in der Gottesdienstgestaltung. Es verweise auf Jesu Mahlgemeinschaften, schreibt der Kirchenrat; "diese bringen sinnlich und real Gottes Menschenfreundlichkeit zum Ausdruck". Das Abendmahl führe auch zum "Alltag praktizierter Nächstenliebe" hin. In alledem will der Kirchenrat "die Kultur des Feierns in Wort und Musik, mit Symbolen und Ritualen" fördern. Bis 2016 sollen die Gemeinden "ihr eigenes oder ein übergemeindlich gemeinsames Profil des Gottesdienstes" finden.
Für alle Mitglieder da
Anspruchsvolle Akzente setzt der Kirchenrat im Gemeindeaufbau (Legislaturziel 10). Er "bekommt Gewicht auf allen Ebenen der Landeskirche". Erfahrungen von wachsenden und sich entwickelnden Gemeinden sollen anderswo einfliessen. "Die Landeskirche wird sensibel für die Vielfalt von Lebensstilmilieus, Frömmigkeits- und Glaubensrichtungen sowie Mitgliedschaftsverständnissen. Sie fördert die Ausgestaltung mehrerer Orte, Formen und Stile der Kirche". Neue Milieus (vor allem junge und Leitmilieus) sollen erschlossen, übergemeindliche Kooperationen und Zusammenschlüsse gefördert werden. Zudem sollen 10-20 Orte übergemeindlicher Entwicklung entstehen, durch Kooperation, übergemeindliche Strukturen und Zusammenschlüsse.
"Vielfältige Mitgliedschaft"
Die vierte Massnahme zum Gemeindeaufbau sei hier ungekürzt und kommentarlos zitiert: "Die Mitgliedschaft in der Landeskirche gewinnt an Plausibilität. Es gibt in der Kirche verschiedene Glaubensorientierungen, Bindungstypen und Mitgliedschaftsverständnisse. Die Landeskirche stärkt das Bewusstsein, dass vielfältiger Glaube identitätsstiftende Kirche braucht. Sie stärkt die korporative Identität und ermöglicht so vielfältige Mitgliedschaft. Sie bewahrt und vertieft ihre geistliche Einheit, welche ihre Mitglieder verbindet und stärkt. Sie zeigt überzeugend, welchen Mehrwert Kirchenmitgliedschaft bringt. Sie trägt Sorge zu ihren Mitgliedern, ermöglicht Zugehörigkeit und fördert ihre Partizipation. Sie wirbt für Kircheneintritte".
Schritte Richtung Beteiligungskirche
Für Willi Honegger ist die Absicht des Kirchenrats, den Gemeindeaufbau auch als "organisches Wachstum" von "Beziehungsnetzen in Richtung einer Beteiligungskirche" zu fördern, ein Paradigmenwechsel. Die Einheit von Staatsbürger und Kirchenmitglied, in der Reformation vorausgesetzt, gebe es seit langem nicht mehr. Mit der "Beteiligungskirche" stelle sich der Kirchenrat der Zukunft. Die neue Sicht auf die Kirche gilt es laut Honegger zu verinnerlichen und entsprechend zu handeln. Er äusserte die Vermutung, dass "wir langfristig nur noch jene Menschen als Mitglieder halten können, die sich auch in irgend einer Form am Leben der Kirche beteiligen". Daher müsse jeder willkommen sein, der sich beteiligen wolle. "Menschen und Gruppen, die sich in unserer Kirche intensiv für die Sache des Evangeliums engagieren, dürfen keinesfalls unter Verdacht gestellt werden, sie brächten die Institution durcheinander
... Engagierte wollen wir behalten".
Der Einzelne und die Welt im Blick
In den Legislaturzielen zum Bereich Diakonie und Seelsorge sind sowohl der Einzelne wie das Gemeinwesen im Blick: die "Begleitung und Unterstützung in kritischen Lebensphasen und Lebenslagen" und couragiertes Handeln in der Zivilgesellschaft. Die Landeskirche "ist allen Menschen, Kulturen und Religionen gegenüber offen". Wenn der Kirchenrat endlich sein Diakoniekonzept vorgelegt hat (diesen Herbst, heisst es), sollen die Kirchgemeinden je ihre Schwerpunkte vor Ort bestimmen. Generationenverbindende und vernetzte Familienprojekte werden gefördert, auch Hilfe für "Jugendliche in prekären Situationen". Zudem will man "aufsuchende Seelsorge" erproben, unter anderem Menschen ohne Wohnsitz nachgehen, denen Verwahrlosung und Isolation drohen.
Mehr für junge Erwachsene
"In christlicher Sicht sind Bildung, Wissenschaft und Kultur Gestaltungen des Glaubens", schreibt der Zürcher Kirchenrat 150 Jahre nach Darwin. Der Protestantismus sei eine Bildungsbewegung, die "selber zu glauben und selber zu denken" erlaube. Der Traditionsabbruch steigere "den Bedarf nach kulturellem und religiösem Wissen". Wissenschaft und Bildung müssten auf Menschlichkeit ausgerichtet werden.
Im Bereich Bildung soll "in 20-30 Gemeinden eine Jugendarbeit über die Konfirmation hinaus möglich" werden. Die Kirchgemeinden sind gehalten, auch den Eltern den christlichen Glauben nahezubringen - die Kinder allein zu unterrichten, genügt infolge des Traditionsabbruchs nicht mehr. Die Landeskirche entwickelt zu den Themen, die den Kindern geboten werden, "Module für die Erwachsenen- und Elternbildung".
"Es ist zwei vor zwölf"
Was der Kirchenrat für die Jugendlichen tun will, genügt Jürg Schoch, Direktor des Instituts Unterstrass, nicht. In der Synode mahnte er dringend, jetzt auf 16-24-Jährige zuzugehen. Es sei nicht mehr fünf vor zwölf; es sei zwei vor zwölf. "Unsere Kirche hat junge Erwachsene nötig, die sich engagieren."