Ökumene: «Evangelische Einheit möglich»

Die Reformation hat Europa verwandelt. Wie stellen sich die Reformierten fünf Jahrhunderte später für das Jubiläum auf? Der SEK-Ratspräsident Gottfried Locher hat im November für den „Perspektivenwechsel“ in der Ökumene plädiert. Er lud die Kirchen des Kirchenbunds ein, miteinander Kirche zu werden. Die deutsche Beauftragte für das Jubiläum Margot Kässmann legte bei einem Besuch in Zürich dar, wie man im Lande Luthers auf 2017 zugeht.

50 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils fällt die Bilanz der Ökumene namentlich für die Kirchen im Westen ernüchternd aus. Wie Gottfried Locher in der SEK-Abgeordnetenversammlung vom 5. November 2012 sagte, sind Rom und die protestantischen Kirchen nicht nur uneins; sie haben auch kein gemeinsames Ziel, während an der Basis da und dort zusammen gebetet und gefeiert wird.

Das erzeugt Verdruss: „Viele haben genug von einer Amtsökumene, die sich offensichtlich im Kreise dreht“, bemerkte Locher mit Verweis auf den deutschen Aufruf „Ökumene jetzt“. Lang gehegter Illusionen ledig müsse man heute konstatieren, dass die katholische Weltkirche sich gegenüber den Protestanten nicht für einen partnerschaftlichen Dialog mit offenem Gesprächsausgang öffnete. Im Vatikan gelten bekanntlich die reformierten Kirchen wegen ihres Verständnisses von Amt und Abendmahl nicht als „Kirchen im eigentlichen Sinn“.

„Ein Leib und ein Geist…“
Die Getrenntheit der Grosskirchen mag jenen heute weniger als Skandal aufstossen, die unterschiedliche Gestalten von Kirche als Ergebnisse der Kulturgeschichte und als Teil der globalen religiösen Landschaft akzeptieren. Ein bleibendes Ärgernis ist die Getrenntheit jedoch im Licht des Gebets von Jesus für die Einheit seiner Nachfolger (als Ausdruck der Einheit zwischen Gott Vater und Sohn, Johannes 17) und der apostolischen Grundlage: „Ein Leib und ein Geist…, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe“ (Epheser 4,4.5). Laut Locher setzt die Trennung „ein Fragezeichen hinter Jesu Botschaft. Wie soll ich einer Kirche glauben, die sich selber nicht versöhnen kann?“ Da helfe auch interreligiöser Dialog nicht: „Ein in sich gespaltenes Christentum wird nicht glaubwürdiger, indem es sich anderen Religionen zuwendet.“

Wo Fortschritt möglich ist
Angesichts dieser Tatsachen schlägt Locher den Schweizer Reformierten vor, das Machbare in der Ökumene unter Protestanten in den Blick zu nehmen: „Konzentrieren wir unsere Kräfte eher dort, wo Fortschritt möglich ist, dort wo heute Versöhnung und kirchliches Zusammenwachsen eine Chance haben.“ Beginnend mit der eigenen reformierten Kirchenfamilie, solle Einheit gesucht werden mit lutherischen und anderen altprotestantischen Kirchen, die der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa GEKE angehören. Die Fusion von Reformierten und Lutheranern in Frankreich in diesem Jahr zeigt, so Locher: „Der ökumenische Perspektivenwechsel lohnt sich, evangelische Einheit ist möglich.“

In der Ansprache vor den SEK-Abgeordneten blieben die Täufer und die jüngeren Freikirchen, Zweige am evangelischen Ast, unerwähnt. Dabei ist dem Kirchenbund laut seiner Verfassung von 1950 „die Zusammenfassung aller protestantischen Kräfte“ aufgegeben; er soll auch „die kantonalen Freikirchen sowie andere auf dem Boden der Reformation stehende kirchlich organisierte Glaubensgemeinschaften“ umfassen.

Anläufe und Abbrüche
Es gab dazu Anstösse und Anläufe: In der Schweizerischen Evangelischen Synode (1983-87) sprachen Freikirchenvertreter mit. In der Romandie führten die Kontakte 1998 zu einer Gemeinsamen Erklärung des SEK und des Westschweizer Freikirchenverbands FREOE. Dessen Vertreter bezeichnete die Erklärung, als sie 2001 den Abgeordneten des SEK zur Kenntnisnahme vorgelegt wurde, als Wunder; SEK-seitig wurde sie als gegenseitige Anerkennung gewertet. Damals strebte der Rat des SEK mit dem Deutschschweizer Freikirchenverband VFG eine „ähnliche Gemeinsame Erklärung“ an; bis heute gibt es sie nicht.

2004 regte Hans Corrodi in einer Broschüre „ein Dach für die Evangelischen der Schweiz auf der Grundlage des Apostolikums“ an, mit der Frage an die Kirchen: „Werden sie in Zukunft das ihnen aufgetragene Werk gemeinsamer tun, oder gedenken sie in Eigensinn und Selbstprofilierung zu verharren?“ Neu aufgemischt wird die Freikirchenszene, deren Vitalität das Nationale Forschungsprogramm 58 belegt hat, derzeit durch Hunderte neue Migrationskirchen, welche nirgends angeschlossen sind.

Ecclesia semper reformanda
Am unübersichtlichen religiösen Markt gilt es für Gottfried Locher die Marke evangelische Kirche zu profilieren – mit einem biblisch begründbaren, reformatorisch verankerten evangelischen Verständnis von Einheit. Damit belebt der SEK-Ratspräsident die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts geführte Debatte über Kernfragen des Kirche-Seins (ecclesia reformata semper reformanda) neu.

Wenige Jahre vor dem Reformationsjubiläum ist dies auch insofern bedeutsam, als die Reformierten im Kirchenbund lange über ihr gesellschaftliches Engagement wahrgenommen werden wollten. Doch das politische Eintreten für ur-christliche Anliegen (Sonntag, soziale Gerechtigkeit, Integration von Randgruppen, Ausgleich mit dem globalen Süden) konnte die Schwäche der weiter schrumpfenden Kirchen im Kern, als Gemeinschaft, immer weniger verbergen. So mangelte auch dem Versuch von Lochers Vorgänger Thomas Wipf, die Reformierten als interreligiös kompetente Bauleute der multikulturellen Gesellschaft zu positionieren, die Überzeugungskraft.

“Miteinander Kirche werden“
Locher nimmt implizit die Fragen des Berichts “Für einen Kirchenbund in guter Verfassung“ auf. Der Rat des SEK hatte ihn 2010 als Grundlage für die Arbeiten an der Verfassungsrevision erstellt. Als Kandidat für die SEK-Präsidentschaft zeigte Locher sich damals – im Unterschied zu den Mitbewerbern – offen für ein tiefergehendes Miteinander der Kantonalkirchen. Da ist es konsequent, wenn er die Abgeordneten zu „konkreter Annäherung“ mit dem Ziel evangelischer Einheit aufruft. „Auch wir haben die Kraft, miteinander Kirche zu werden, evangelische Kirche Schweiz“, sagte er in Bern. „Eine Kirche aus mehreren Kirchen. Kirche bleiben, je vor Ort, und Kirche werden, gemeinsam. Das ist die Ökumene, die heute möglich ist. Das ist realistische Ökumene jetzt. … Vereint sind wir stärker, profilierter, glaubwürdiger. Das hilft.“

Mehrere Kirchenleitungen haben indes deutlich gemacht, dass sie den Kirchenbund zwar als Instrument für gemeinsame Aufgaben und als ihre Vertretung gegenüber dem Bund und anderen Kirchen sehen, aber nicht als Kirche. Ihre Identität wollen sie nicht in ein grösseres Ganzes einbringen. Im Zuge der Verfassungsrevision wird diese Grundfrage des Schweizer Protestantismus bearbeitet.

Evangelisch – oder reformiert?
Die Rede von der ‚Evangelischen Kirche Schweiz‘ steht überdies in einer gewissen Spannung zum reformierten Branding, das etwa die Zürcher nach Ruedi Reich betreiben: Aus der evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich ist (nicht nur) auf Briefköpfen die Reformierte Kirche Zürich geworden. Ohne Zweifel wirkt in der Debatte die aufs Individuum setzende Imagekampagne der Reformierten Medien von 2000 „Selber denken. Die Reformierten“ nach. Und vor allem: für Generationen hat sich reformierte Kirche am Ort und nur da ereignet.

Aufgrund der föderalistischen Struktur, Ausfluss des kongregationalistischen Verständnisses von Kirche, scheint es nicht einfach, „Evangelische Kirche Schweiz“ zu gestalten und in der öffentlichen Wahrnehmung zu etablieren. Das SRF-Wirtschaftsmagazin eco zeigte vor Weihnachten in einem Portrait des kirchlichen Markenstrategen Locher, dass ihm Grübeln und Zweifel nicht fremd sind.

Vor dem Reformationsjubiläum
Vor der Tür steht die 500-Jahr-Feier der Reformation: beste Gelegenheit für die Protestanten, einig aufzutreten – oder ihre Vielfalt auszuspielen? Locher hat im Juni 2012 vor den SEK-Abgeordneten für eine Kombination plädiert: eine gemeinsame Feier 2017 im Verbund mit dem deutschen und weltweiten Protestantismus und der Kernbotschaft „Wer glaubt, ist frei“, und kantonale Feiern in späteren Jahren (Zürich fokussiert auf 2019, 500 Jahre nach dem Amtsantritt Zwinglis am Grossmünster). Ein Signal für die Schweizer Beteiligung an der weltumspannenden Feier 2017 soll im Oktober 2013 ein Reformationskongress an der Limmat setzen, den der Kirchenbund und die Evangelische Kirche in Deutschland auf Einladung der Zürcher Kirche gemeinsam ausrichten.

„Was feiern wir eigentlich?“
Die deutschen Protestanten nähern sich dem Reformationsjubiläum mit einer „Lutherdekade“ (Themenjahre 2007-2016), doch geht es weit über das Gedenken an den überragenden Kämpfer für Glauben und evangelische Freiheit hinaus. Dies machte die prominenteste deutsche Protestantin Margot Kässmann am 27. November bei einem Besuch in Zürich deutlich. Sie trat zusammen mit Gottfried Locher vor die Medien und legte der Kirchensynode sieben deutsche Akzente für die 500-Jahr-Feier dar. Im Zürcher Rathaus erinnerte Gottfried Locher daran, dass Huldrych Zwingli, als Martin Luther 1517 seine Thesen anschlug, im Kloster Einsiedeln lebte. „Beide haben ihre Gedanken betend entwickelt... Echte Reformation beginnt in der Stille.“

Beidseits Schuld bekennen?
Margot Kässmanns Perspektiven weiten den Horizont für die Arbeiten am Reformationsjubiläum im föderalistischen Kleinstaat. Nützlich schon deshalb, weil die Deutungshoheit der Protestanten fürs Reformationsjubiläum von Rom bestritten wird, ein Jahr nach dem enttäuschenden Besuch von Papst Benedikt XVI. in Deutschland. Nach der Vollversammlung des Päpstlichen Rats für die Einheit der Christen sagte sein Leiter, der Schweizer Kardinal Kurt Koch, am 16. November, Katholiken und Reformierte bräuchten eine Heilungsgeste. Luther sei die Erneuerung der ganzen Kirche nicht gelungen; in dem Sinn sei die Reformation gescheitert. Die konfessionelle Spaltung habe zu den Konfessionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts geführt. Das „positive Anliegen Luthers und diese schrecklichen Konsequenzen unter den einen Hut des Feierns zu bringen, das ist einfach zu schwierig“, sagte der Kardinal auf Radio Vatikan. Der päpstliche Rat schlage daher einen gemeinsamen Bussgottesdienst vor, mit Bekennen von Schuld beider Seiten und einer Bitte um Vergebung, im Verlangen nach „Heilung der Wunden“.

Aus römischer Sicht
Dass die Wunde weh tut und Balsam ersehnt wird, zeigte der Andrang zur ökumenischen Tagung mit Gottfried Locher und Kurt Koch, welche die Fokolar-Bewegung am 8. November in Bern durchführte. Vor vollem Saal schilderte der Kardinal die Beiträge der letzten Päpste zur Ökumene. Benedikt XVI. führe diese Linie weiter, sagte Koch und zitierte aus seiner ersten Botschaft, es gelte vorrangig „mit allen Kräften an der Wiederherstellung der vollen und sichtbaren Einheit aller Jünger Christi zu arbeiten“. Dabei gestand der Kardinal die „prekäre Situation“ der Ökumene ein. Rom und die Protestanten seien „heute noch uneinig über ihr Ziel“ und müssten aufpassen, dass sie sich nicht weiter voneinander entfernten.

Wandlung – der Schlüssel zur Einheit
Der Ökumeniker Gottfried Locher überraschte die Anwesenden mit Gedanken zum Verständnis des Abendmahls – die tiefste Kluft der Reformation, in Bekenntnissen und Katechismen zementiert. Als wollte er den Stier bei den Hörnern packen, bezog der SEK-Ratspräsident die beiden Positionen auf die allen Gläubigen gemeinsame „Sehnsucht nach Ver-Wandlung“.

Die Wandlung der Elemente in der Eucharistie könne als ökumenisches Grundproblem gelten, sagte Locher. „Die Reformationskirchen lehnen die liturgische Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi ab.“ Doch legte er mit Zitaten der Reformatoren dar, dass „auch die reformierte Tradition eine Art von ‚Wandlung‘ kennt“: Reformierte vertrauen darauf, „dass im Vollzug, also in der gesprochenen und gehörten Predigt, zuverlässig die Kraft und Gegenwart Gottes erfahrbar sei“. Locher vermutet, dass nicht der Begriff der Wandlung trennt, sondern seine Zuordnung. „Ob aus Brot und Wein Leib und Blut Christi werde, das ist für reformierte Theologie nicht die wesentliche Frage. Wesentlich ist, dass Christus nun ganz präsent ist.“

Wo Christus anwesend ist
Die unterschiedlichen Kirchenverständnisse führte Locher auf den Umgang mit dem „einen Wort Gottes“ zurück: Die einen hätten es sakramentalisiert, die anderen intellektualisiert. Der Protestant endete seinen Vortrag mit dem Vorsatz, fröhlichere reformierte Abendmahlsfeiern zu fördern, der Bitte an seinen langjährigen Freund Kurt Koch, sich für möglichst grosse eucharistische Gastfreundschaft einzusetzen, und der Einladung, gemeinsam ein Büchlein über Wandlung zu schreiben. An den Schluss setzte er ein Wort Augustins, des grossen Kirchenvaters der Westkirchen: „Verwandle das Herz – und das Werk wird sich auch wandeln.““

Gemeinsam auf 2017 zugehen: Margot Kässmann und Gottfried Locher im Zürcher Rathaus (Bild: Medienpark / Pfander).

Margot Kässmann und Gottfried Locher in Zürich.