Wie weiter im heruntergekommenen Europa?
Wie kann Europa seine Seele wiedergewinnen? Die Integration der letzten Jahrzehnte hat zu viele Verlierer hervorgebracht. Die Tagung, die am 24. Januar in Zürich stattfand, beschäftigte sich mit der Frage, ob und wie die Werte der Aufklärung bei aggressiv beanspruchter Diversität noch tragen. Und wie die Kirchen sich in der aktuellen Verunsicherung einbringen sollen.
Der ETH-Politologe Prof. Frank Schimmelfennig skizzierte das Werden der Europäischen Union. Die gängige Auffassung, die europäische Wertegemeinschaft habe sich auf dem Boden der Aufklärung entwickelt, hinterfragte er nicht offen, verwies aber (mit H.A. Winkler) auf mittelalterliche Vorgänge, welche die Gewaltentrennung einleiteten. Die Reformation kam nicht in den Blick.
Die westliche Wertegemeinschaft sei nicht positiv durch eine Vorstellung vom anzustrebenden Gemeinwohl bestimmt, resümierte Schimmelfennig, sondern negativ: Beschränkung von Herrschaft ermögliche Freiheit. Das säkulare Europa meine, erst in freier Auseinandersetzung stelle sich heraus, was das Gemeinwohl ausmacht.
Kants wegweisende Vision
Der Politologe verwies auf Immanuel Kants visionäre Schrift «Vom ewigen Frieden». Der Königsberger Philosoph habe aber keineswegs einen europäischen Superstaat im Sinn gehabt, sondern an freie Staaten gedacht, die eng zusammenarbeiten und miteinander eine Kultur der «Hospitalität» entwickeln. Die Vision habe sich im freiwilligen europäischen Einigungsprozess, der Europa eine Entwicklung in Frieden ermöglichte, bestätigt. Der EU-Vertrag spiegle das kantische Erbe, die Freizügigkeit Kants Hospitalität.
Frank Schimmelfennig schilderte die Entwicklung der EU von ihren wirtschaftlichen Anfängen her. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit waren, als Francos Spanien anklopfte, noch kein Kriterium. Jahre später wurden sie angemahnt, in einem weiteren Schritt die Achtung der Menschenrechte eingefordert und Verfahren zur Legitimierung von Mehrheitsentscheiden entwickelt. Die EU sei in ihrer ursprünglichen Anlage keine Wertegemeinschaft gewesen, sagte Schimmelfennig – ohne zwischen ihr und Europa zu differenzieren (wie es Otfried Höffe kürzlich in der NZZ eingefordert hat).
Populismus
Die aktuelle «populistische Herausforderung» ist laut Schimmelfennig im Kern eine Verabsolutierung des Volkswillens – mithin Ablehnung von Gewaltenteilung und Minderheitenschutz, ja sämtlicher von Kant vorgestellter Werte. Die Proteststimmung werde durch zunehmende Ungleichheit in den Ländern der EU angefacht.
In Schimmelfennigs Analyse hat die «Identitäts- und Solidaritätsentwicklung» der Völker in der EU nicht Schritt gehalten mit starken Integrationsschüben. Integration und Globalisierung hätten zu viele Verlierer hervorgebracht.
Mehr als Prozeduren und Freiheiten
Dass sich die EU-Staaten über Prozeduren, Freiheiten und Menschenrechtsstandards verständigten, kann als «basale Wertegemeinschaft» angesehen werden. Laut Prof. Marianne Heimbach-Steins funktioniert diese aber nur zukunftsträchtig, wenn sich Menschen, überzeugt von einer Idee des Zusammenlebens, dafür einsetzen und Zumutungen in Kauf nehmen (etwa in der Aufnahme von afrikanischen Asylanten). Am Projekt Wertegemeinschaft sei festzuhalten – Krisen zeigten aber, dass «wir es offenbar nicht in der Tasche haben».
Die katholische Sozialwissenschaftlerin von der Uni Münster in Westfalen, sprach über «Religion(en), Freiheitsanspruch und Toleranzgebot». Sie ging aus von Zygmunt Baumans Befund (Retrotopia, 2017), den globalen Abhängigkeiten entspreche kein kosmopolitisches Bewusstsein, und zitierte seine Frage: Wie kann Integration gelingen «ohne vorausgehende Separation» – ohne dass das Eigene, die Heimat, in Abgrenzung vom Anderem bestimmt wird?
Europa-Visionär aus Argentinien
Um vorwärts zu blicken, zitierte Marianne Heimbach-Steins wichtige Passagen der Rede, die Papst Franziskus anlässlich der Verleihung des Aachener Karlspreises 2015 hielt. Angesichts des Verlusts der «grossen Ideale» vermittelte er die Vision eines neuen Humanismus, welcher das «heruntergekommene Europa» neu dynamisieren könnte.
Die Kreativität und die Fähigkeit, sich wieder aufzurichten und aus den eigenen Grenzen hinauszugehen, gehörten zur Seele Europas, sagte der Papst. Seine Identität sei immer eine dynamische und multikulturelle gewesen (auf den Begriff des christlichen Abendlands verzichtete Franziskus). «Das Gesicht Europas unterscheidet sich …nicht dadurch, dass es sich andern widersetzt, sondern dass es die Züge verschiedener Kulturen eingeprägt trägt und die Schönheit, die aus der Überwindung der Beziehungslosigkeit kommt.»
Für Marianne Heimbach-Steins ist nun eine «starke kulturelle Integration» vonnöten. Die Europäer hätten Verantwortung füreinander zu übernehmen als fundamental Gleiche – auch gegenüber den künftigen Generationen.
Kirchen besonders gefordert
Die Kirchen hätten sich für den Dialog und die Ermöglichung von Teilhabe einzubringen, sagte die Professorin aus Münster. Sie hätten sich einzulassen auf gesellschaftliche Prozesse, um fähig zu werden zum «Dialog in sich wandelnden Zusammenhängen». Dabei müssten sie soziale Konflikte auch austragen. Die katholische Kirche sei gefordert, ein «konstruktives Verhältnis zu gesellschaftlicher Pluralität» weiterzuentwickeln. Sie solle für Gleichheit eintreten und Solidarität leben, dabei sich eine «prophetische Freiheit» bewahren durch Distanz zu den Machthabern.
Das Versagen der EU
Wenn Schimmelfennig betonte, die Glaubwürdigkeit der EU werde zu Recht an der Fähigkeit ihrer Politiker gemessen, Probleme zu lösen, nannte Heimbach-Steins den grössten Skandal: dass Dutzende Millionen junge Europäer keine rechte Arbeit haben. Jagoda Marinic, deutsche Autorin mit kroatischen Wurzeln, setzte in ihrem Vortrag einen drauf, indem sie die Kluft des Mindestlohns zwischen West- und Osteuropa anprangerte.
Die Kosmopolitin präsentierte einen hohen Anspruch an Europa und prangerte das eigennützige Verhalten der Westeuropäer bei der (Süd-)Osterweiterung an. «Was Solidarität angeht, ist Europa Jahr um Jahr ein Stück mehr gescheitert.» Das Misstrauen gegen Eliten müsse glaubwürdig bekämpft werden. «Wir brauchen die Autorität der Eliten, um die Werte Europas zu stärken.»
Gibt es noch gemeinsame Nenner?
Ist in einer Gemeinschaft mit immer mehr Diversität und pluraleren Einheiten Konsens über die Werte noch zu erreichen? Marinic spitzte ihre Frage im abschliessenden, von Jeannette Behringer geleiteten Podium zu: «Wie haben wir noch die Möglichkeit, gemeinsame Nenner zu kreieren?» Die Schriftstellerin wünschte, dass «wir mit viel mehr Enthusiasmus werben für das, was unser Wert ist», im Glauben an den demokratischen Aushandlungsprozess.
Frank Schimmelfennig brachte das Problem von EU-Europa auf den Punkt: «Je grossflächiger und diverser eine Gemeinschaft wird, desto dünner sind die Werte, auf die man sich in dieser Gemeinschaft noch einigen kann.» Das europäische Projekt brauche Bescheidenheit. Eloquent machte Marianne Heimbach-Steins Mut, christliche Werte in die Prozesse einzubringen.
Gefährdungen ohne Scheuklappen sehen
Am Abend wurden wesentliche Fragen gestellt, etwa wie in einer pluralen, vielschichtigen Gesellschaft «Heimat» kultiviert wird. Die anregende Tagung wurde von der Paulus-Akademie gemeinsam mit der reformierten Landeskirche, dem Europa-Institut der Universität und dem Ökumenischen Forum G2W durchgeführt. Sie schärfte, ohne einen explizit evangelischen Denkweg aufzuzeigen, den Blick für die Verletzlichkeit Europas in der globalen Konkurrenz.
Es mag an der komplexen Fragestellung gelegen haben, dass wesentliche Gefährdungen – 50 Jahre nach 1968 – nicht in den Fokus kamen: die hedonistische Schwächung des Gemeinsinns, religiöser Traditionsabbruch, gesellschaftlicher Narzissmus («das falsche Leben», Hans-Joachim Maaz), Gender-Ideologie, technologische Fortschrittsgläubigkeit – und Islamismus.
Offensichtlich lehnen viele traditionsverhaftete Muslime Kernelemente des aktuellen europäischen Wertegefüges ab. Säkulare Blauäugigkeit führt da nicht weiter. Die Auseinandersetzung mit der These des pakistanischstämmigen Anglikaners Michael Nazir-Ali, dass aggressiver Säkularismus, radikaler Islamismus und Multikulturalismus Europa dreifach herausfordern, hätte der Veranstaltung gutgetan.