«Ein Leib, viele Glieder»: Spaltungen und das Ringen um Glaubwürdigkeit

Woran hält sich die Kirche in den spätmodernen Umbrüchen? Wie verstehen Reformierte ihre Kirche heute vom Neuen Testament her? Was haben Landeskirche, Gemeinschaften und Bewegungen einander zu geben? Diese Fragen hat die landeskirchliche Gemeinschaft Jahu in Biel an ihrem Sommerseminar aufgegriffen. An vier Abenden sprachen die Theologieprofessoren Ralph Kunz, Ulrich Luz, Peter Winzeler und Matthias Zeindler. Sie bezogen die aktuellen Herausforderungen aufs 19. und 20. Jahrhundert, die Urkirche und die Reformationszeit.

Aus einem Rückblick auf die Umbrüche der vergangenen 250 Jahre entwickelte Ralph Kunz Fragen an die Kirche von morgen. Die Weichenstellungen und Trennungen des 19. Jahrhunderts wirken nach. Damals warfen die vom Freiheitsdrang und Rationalismus der Aufklärung geprägten liberalen Theologen den alten Glauben über Bord und lehnten das überkommene Bekenntnis ab. Während bibelorientierte „"positive“" Christen an der Wahrheit der Schrift festhielten, mahnten religiöse Sozialisten angesichts schreiender Ausbeutung Gerechtigkeit für alle an. Im 19. Jahrhundert, so Kunz, agierte die Kirche im Dreieck Freiheit-Wahrheit-Gerechtigkeit.

Nach der Volkskirche das Ringen um Relevanz
Im Ersten Weltkrieg versank das hochmütige, imperiale Europa in den Schützengräben; die tief versehrten Völker kehrten nicht zum alten Glauben zurück. Die Kirche schlafe noch, rief der Zürcher Theologe Emil Brunner 1934, sie sehe noch nicht, "„wie die Welt sich von ihr emanzipiert hat, wie illusionär ihre überlieferten Begriffe von der Einheit von Volk und Kirche sind"“. Nach 1945 potenzierten sich Pluralismus und Marktkräfte. Heute sieht Kunz die Landeskirche (immer weniger Volkskirche!) in einem anderen Dreieck, im dreifachen Ringen um Heiligkeit (Erneuerung aus dem Evangelium), Relevanz in der säkularen Öffentlichkeit und Wirtschaftlichkeit. Er warnte: „"Wenn statt '‚Erbauung‘' und '‚Erweckung'‘ der Gemeinde die ‚'Erhaltung der Organisation‘' auf der Agenda steht, hat die Kirche den eigentlichen Challenge nicht verstanden".“

Ralph Kunz legte die beiden Dreiecke übereinander und deutete an, dass sich die Institution auch als Bewegung verstehen muss. Er riet, sich in "„wilde Milieus“" vorzuwagen und auf die "„Rückeroberung der Massenreligiositä"t“ zu fokussieren. Unter Reformdruck soll die Kirche in Qualitätsgemeinden und Gemeindequalität investieren: „"Ein Umbau der Kirche ist nötig, um den Service zu erhalten, aber für den Erhalt der Dienstgemeinschaft braucht es den Aufbau der Gemeinde".“ Für ihre Pluralität, die fortwährende „"pragmatische Entschärfung der Spaltgefahr"“, zahlen die Grosskirchen laut Kunz einen hohen Preis: die „"Durchschnittslähmung"“. Das führt zur These: "„Wenn wir zusammen Kirche bleiben, müssen wir Formen des gemässigten Separatismus zulassen".“ Die Ausdifferenzierung der Gemeinde sei nicht zu stoppen, doch „"dürfen wir die Vision der inklusiven Gemeinschaft nicht aus den Augen verlieren".“

Gemeinde nach dem Neuen Testament
Zu den Ursprüngen der Kirche ging Ulrich Luz in seinem Vortrag zurück. Gelehrt und engagiert schilderte er sechs neutestamentliche Bilder von Kirche (radikale Nachfolger, umfassende (Güter-)Gemeinschaft, Organismus mit begabten Gliedern, der Grösste der Diener von allen, vorbildliche Vorsteher, in Jesus bleiben). Als gemeinsamen Nenner in dieser Vielfalt benannte Luz die Ausrichtung auf Christus und Gott -– und koinonia. „"Für die Nachfolger Jesu war das Mit-Sein und Mit-Gehen mit Jesus das Wichtigste".“ Dazu koinonia: das griechische Wort wird übersetzt mit Gemeinschaft, aber auch mit Partizipation und Anteilhabe. Dies zeichnete die ersten christlichen Gemeinden aus: vom Heiligen Geist gestiftete, mit autoritativen und unterstützenden Diensten gestärkte Gemeinschaft. An „"sichtbarer, erfahrener und praktizierter Gemeinschaft“" habe es den meisten protestantischen Grosskirchen in ihrer Geschichte gefehlt, hielt Luz fest. Das Festhalten an der Gemeinschaft (schon in Hebräer 10,24f angemahnt) ist ihre Stärke nicht: „"Eine Erblast des Protestantismus ist, dass er aus einer Spaltung entstand und dass aus ihm immer wieder neue Spaltungen entstehen".“

Eine makellose irdische Kirche gibt es nach dem NT nicht. Die ersten Christen hätten „"Kirchenbilder und Kirchenträume"“ entwickelt, um ihre Kirchen zu bewegen und zu Christus zu rufen. „"Jede Kirche, die sich bewegen und rufen lässt, kann zum Ort werden, an dem Kirche geschieht".“ Christus stifte nicht Uniformität, „"sondern eine Gemeinschaft von Verschiedenen, die mitsamt ihren Besonderheiten durch das Band der Liebe miteinander verbunden sind"“. Ulrich Luz schloss mit der These: „"Im nachdenklichen Gespräch zwischen verschiedenen Gemeinschaften und Kirchen lernt man, die Besonderheiten der andern als Anfrage an sich selbst verstehen. So werden sie zur Chance, sich selbst zu bewegen und Kirche Jesu Christi zu werden".“

Der Streit um die Taufe und die Folgen
Peter Winzeler behandelte eine in der Reformationszeit aufgerissene Wunde, die erst in unseren Tagen zu heilen beginnt: die Kluft in der Taufpraxis und die tiefgehenden Verhärtungen. Er legte dar, wie Huldrych Zwingli "„zwischen Luther und den Täufern"“ den Weg zu einer mündigen Gemeinde suchte. Warum liess man vom 16. bis 18. Jahrhundert die pazifistische Minderheit der Täufer nicht in Frieden, „"damit sie als ecclesiola (Kirchlein, Avantgarde) in der ecclesia den grossen Kirchenwagen ziehe"?“ Winzeler zitierte Karl Barths Urteil, der Täuferstreit sei die Krankheit der Reformation gewesen. Zwingli grenzte sich von den Täufern scharf ab, um dem Urteil Luthers über die Schwärmer zu entgehen –- und weil die Täufer die "Gemeinde der Heiligen"“ hier und jetzt verwirklichen wollten.

Der Zürcher Reformator habe die Mündigkeit der Gemeinde nicht vereiteln wollen, betonte Winzeler –- "„er suchte sie nur anders, an einem anderen Ort"!“ Er hielt den Täufern entgegen, man müsse mit der ganzen „"Gschrifft“" leben, nicht nur mit der Bergpredigt (Feindesliebe), sondern auch mit dem Gesetz. Kühn, wie Winzeler sagte, formulierte Zwingli eine Sonderlehre von der Taufe. Er bezeichnete sie analog der Beschneidung im alten Israel als Zeichen des Bundes, verbunden mit der „"Verpflichtung, die Kinder im Glauben zu erziehen, sie den Glauben Abrahams zu lehren, bis sie zur Annahme des Christus-Glaubens fähig sind und der Geist den lebendigen Glauben in ihren wirkt"“. Die Glaubenstaufe wurde so ein Werk des Heiligen Geistes, nicht von Menschen.

Im Zusammenhang mit diesem Taufverständnis habe Zwingli, so Winzeler, "„drei Kreise des Christseins und der Kirche"“ unterschieden: zwischen dem Volk und der unsichtbaren, geglaubten Gemeinschaft der Erwählten den "„irdischen Christus-Leib der Abendmahlsgemeinde, die im Bekenntnis zu dem einen Haupt geeint ist und in ihrer Vielfalt die Gaben des Leibes Christi teilt“". Diese "„ökumenisch sichtbare mündige Gemeinde"“ von zum Zeugnis und Dienst herausgerufenen Menschen, "dieser „innere Kreis der tätig bekennenden Gemeinde sei nun aber „der allergrösste Zankapfel der Ökumene von heute"“.

Kirche und Gemeinschaften: Vom Nebeneinander zum Miteinander
Aus dem Neben- und Gegeneinander in der Kirche -– zu ihr gehören im Kanton Bern auch die landeskirchlichen Gemeinschaften EGW, Jahu, Vineyard und Neues Land -– kann ein Miteinander werden. Nüchtern und irenisch beleuchtete Matthias Zeindler die Qualität der Beziehungen (vgl. die LKF-Tagung vom 20. Juni). Er klopfte Distanz, Gegnerschaft und Kooperation auf Stärken und Schwächen ab. „"Was fehlt uns ohne die andere Kirche/Gemeinschaft"?“ ist dabei die Schlüsselfrage. Sie leitet an, "„die unterschiedlichen Geistesgaben (Charismen) am einen Leib Christi"“ zu entdecken. Dies hätten sich die Landeskirche und ihre Gemeinschaften in der Gemeinsamen Erklärung vom November 2013 vorgenommen.

Matthias Zeindler stellte neben das Modell der Familie (Matthäus 12,50) das der Freundschaft: "„Ihr seid meine Freunde“" (Johannes 15,14). Freundschaft bedeute freiwillige Gemeinschaft, grosse Nähe und ausreichende Distanz. Zeindler rief dazu auf, Respekt, konstruktive Kritik und echtes Interesse am andern zu kultivieren. Dies werde allen Seiten gut tun, auch der Berner Landeskirche, die 2015 vor der Grossratsdebatte über das Verhältnis Kirche-Staat unter stärkerer öffentlicher Beobachtung stehe. Die Reformierten wollten nicht den Status quo erhalten, aber weiterhin für die Gesellschaft da sein; dazu bräuchten sie Unterstützung von Gemeinschaften, Information wo immer möglich, um Vorurteile und Ressentiments abzubauen. Zeindler schloss mit der Bemerkung, ein Abbau der landeskirchlichen Präsenz in der Öffentlichkeit schädige auch Gemeinschaften. Das gemeinsame Zeugnis mit Reformierten helfe auch ihnen.