«Ehe für alle»: Streit im Kirchenbund
Die reformierten Kirchen sollen gleichgeschlechtliche Paare gleich trauen wie Mann und Frau. Der Rat des Kirchenbunds beantragt seinen Abgeordneten, «den allfällig neuen zivilrechtlichen Ehebegriff für die kirchliche Trauung vorauszusetzen».
Bibelorientierte Reformierte stellen sich mit einem Offenen Brief und mit einer theologischen Erklärung dagegen. SEK-Theologen beleuchten im Antrag des Rats, woher die Reformierten kommen.
Am 5. November beraten die Abgeordneten des Kirchenbunds in Bern, was den Mitgliedkirchen im Zusammenhang mit der parlamentarischen Initiative «Ehe für alle» empfohlen werden soll. Denn die Kantonalkirchen entscheiden dies. Der Rat des Kirchenbunds stellt vier Anträge: Ja zur «Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare auf zivilrechtlicher Ebene», Übernahme des neuen Ehebegriffs für die kirchliche Trauung, Gewissensfreiheit für Pfarrerinnen und Pfarrer und gleiche Trauliturgien für anders- und gleichgeschlechtliche Paare.
Offener Brief mit Unterschriftensammlung
Dagegen hat sich Widerstand formiert. In der Romandie verfassten bibelorientierte Reformierte einen Offenen Brief an die Abgeordneten des Kirchenbundes. Für diesen Brief werden auch in der Deutschschweiz Unterschriften gesammelt. In ihm werden die Abgeordneten ersucht, sich nicht für die Ehe für alle auszusprechen. Die Unterschriftensammlung läuft bis Anfang November.
Ausserdem haben reformierte Pfarrerinnen und Pfarrer eine theologische Erklärung erstellt und unterzeichnet. Am 21. Oktober fand dazu in Zürich eine Tagung statt. Die Erklärung findet sich auf der Webseite www.mt194.ch.
Die Rundschau des Schweizer Fernsehens berichtete am 23. Oktober über die Tagung und stellte die Ehe-Kontroverse in der Zürcher Landeskirche dar.
Die beiden Initiativen halten am Verständnis der Ehe fest, das Jesus mit Verweis auf die Schöpfung («Gott schuf sie als Mann und Frau») bekräftigte. Sie wenden sich gegen die Übernahme eines geänderten zivilrechtlichen Ehe-Begriffs in die kirchliche Praxis.
Umstürzender Sommer
Der Rat des Kirchenbunds plädierte im Frühjahr für die Achtung der unterschiedlichen Ehe-Verständnisse und den respektvollen Dialog zwischen ihren Vertretern. Die Abgeordneten befürworteten jedoch im Juni nur einen Teil seiner Positionierung, mit der Aussage, Homosexualität werde als« «Ausdruck geschöpflicher Fülle» wahrgenommen.
Ende August, nach einem Zeitungs-Interview seines Präsidenten Gottfried Locher, entschied der Rat, die «Ehe für alle» und die kirchliche Trauung für gleichgeschlechtliche Paare zu befürworten (vgl. die auf dieser Website veröffentlichte Chronologie).
Anträge des Rates SEK
Seine aktuellen Anträge, die dementsprechend ausfallen, begründet der Rat mit der «grundsätzlich positiven Haltung zur Homosexualität» im Juni-Beschluss der Abgeordneten und der «unvoreingenommenen Liebe von Jesus zu den Mitmenschen». Mit ihr habe Jesus immer wieder Grenzen aufgebrochen.
Die Kirche solle «als Anwältin ausgegrenzter Minderheiten» auftreten, schreibt der Rat weiter. «Ob die Liebesbeziehungen, die Menschen mit der Absicht dauerhafter, treuer und verlässlicher Bindungen eingehen, heterosexueller oder homosexueller Natur sind, macht für den Rat theologisch keinen Unterschied, weil er diese Art von Beziehung als schöpfungsgemäss und als evangeliumsgemäss erachtet.»
Der Rat sieht ausgehend vom reformatorischem Verständnis des Traugottesdienstes (Segnung und Fürbitte) «keinen Unterschied zwischen einem öffentlichen Segnungsgottesdienst und einer kirchlichen Trauung». Den Abgeordneten werden die Anträge vorgelegt, damit die Entscheide «demokratisch breit abgestützt sind». Die Versammlung wird mit einfacher Mehrheit entscheiden.
Wenn die Tradition gehört wird…
Der Rat unterlegt seine Anträge mit zwei Papieren, einem Text seiner Haustheologen Frank Mathwig und Luca Baschera sowie Thesen des Instituts für Theologie und Ethik ITE des Kirchenbunds, insgesamt 44 Seiten. Hier wird versucht, den dichten und bezugsreichen ersten Text zu resümieren.
Der Ausgangspunkt ist eine biblisch-theologische Perspektive. Mathwig und Baschera behandeln Auslegungsfragen aufgrund von «sola scriptura» (Allein die Schrift), fassen dann Aussagen der Bibel und der Reformatoren zu Ehe, Sexualität und Elternschaft zusammen und stellen Aussagen zur Ehe von Emil Brunner und Alfred de Quervain gegenüber. Die aktuelle Debatte, die Frage nach dem Kindswohl bei «gleichgeschlechtlicher Elternschaft», das «gemeinsam Kirche sein» angesichts der unterschiedlichen Haltungen, die ökumenische Dimension und das Eheverständnis werden ebenfalls knapp thematisiert.
«Mainstreams, Moden, Mehrheitsdiktate»
Einleitend bemerken Mathwig und Baschera, in der liberalen Gesellschaft seien es «gesellschaftliche Mainstreams, Moden oder Mehrheitsdiktate, die sich auch in der Kirche machtvoll durchsetzen wollen». Im Neuen Testament (Epheser 5) sehen sie eine «christologisch-eschatologische Imprägnierung des Eheverständnisses», nachdem Jesus auf den Schöpferwillen verwiesen hat (Matthäus 19). «Sexualität hat ihren ausschliesslichen Ort innerhalb der Ehe.»
Jesus und Paulus «verstehen beide die Ehe als Gottesordnung, in die Gott selbst die Paare einsetzt». Homosexualität begegne bei Paulus «nicht nur als Folge des Sündenfalls, sondern auch als ‹Lohn für ihre Verirrung›, d.h. als Strafe für die Abwendung des Menschen von Gott». Die Bibel kenne keine homosexuelle Orientierung, lediglich homosexuelle Praktiken.
Ehe und Familie geben der Gesellschaft Halt
Von den Reformatoren beziehen Mathwig und Baschera fürs Eheverständnis sieben Aspekte, darunter: «5. Ehe und Familie haben als konstitutiver Sozialraum für die Ausbildung und Stabilisierung reziproker Normen eine grundsätzliche gemeinschaftskohäsive und gesellschaftsstabilisierende Funktion.»
Die Vielfalt reformatorischer Anschauungen wirkte sich langfristig aus: Während Alfred de Quervain (+1968) die Ehe von der Verkündigung des Evangeliums her bestimmte, durch welche Eheleute einander zu Nächsten werden, ging Emil Brunner (+1966) von der Schöpfungsordnung aus. Er sah die monogame Ehe als «eine der grossen kulturellen Leistungen des Christentums» und betonte, dass «jeder Mensch … das Kind eines Vaters und einer Mutter» ist.
Die letzten Jahrzehnte haben dies in Frage gestellt. Doch schrieb der Rat des Kirchenbunds noch 2002, für die allermeisten Reformierten sei klar, dass «eine deutliche Unterscheidung von Ehe und gleichgeschlechtlicher Partnerschaft unbedingt zu wahren ist». Letztere stelle eine eigenständige Lebensform dar. Die Ehe sei als Lebensform und Rechtsinstitut einzigartig, war damals im Papier des Rats zu lesen.
Drei Optionen
Mit der «Ehe für alle» sehen die Autoren eine neue Situation gegeben, mit drei Optionen: Erstens könne sie aufgrund der Ablehnung der Homosexualität zurückgewiesen werden. Zweitens könne sie aufgrund der Anerkennung homosexueller Orientierung ergebnisoffen diskutiert werden. Drittens könne die Öffnung der Ehe mit der Gleichberechtigung von hetero- und homosexuellen Lebensformen begründet werden.
Wie umgehen mit der Kluft zwischen Heiliger Schrift und Tradition und aktueller Debatte? Mathwig und Baschera meinen, homosexuelle Praktiken würden in der Bibel «in Zusammenhängen gedacht und problematisiert, die uns heute fremd sind». Umgekehrt werde heute von homosexuellen Prägungen und Orientierungen gesprochen, die für das biblische Menschenbild, die alte Kirche und die Reformatoren undenkbar waren. «Wir müssen begreifen lernen, dass wir uns in verschiedenen Räumen in Gottes Haus aufhalten.»
Schöpfung war anders
Wer allerdings (wie im SEK-AV-Beschluss vom Juni) Schöpfung mit Natur gleichsetzt, bestreitet laut dem Papier «die Wirklichkeit des Sündenfalls, die Notwendigkeit von Karfreitag und Ostern, die Unverzichtbarkeit der Rechtfertigung…». Zugleich mahnen die Autoren, nicht weiter paternalistisch über Betroffene zu reden. Sie sollten «als Glieder seiner Kirche und Leserinnen und Leser seines Wortes selbst zu Wort kommen».
In den Erwägungen zum Kindswohl halten die Autoren gravierende Probleme fest: «Wenn sich gleichgeschlechtliche Paare genetisch-eigene Kinder wünschen, müssten sie ihrem Kind in gleicher Weise den Wunsch auf dessen genetisch-eigene Eltern zugestehen»!
Steiniger Weg
Der Gefährdung der entstehenden Kirchengemeinschaft der EKS soll begegnet werden, indem der Streit «verantwortungsvoll ausgetragen» wird – das heisst nicht als Bekenntnisfall (status confessionis). Konfliktträchtige Themen sollten «nicht im Gestus des Wissens, sondern in der Haltung des gemeinsamen Fragens und sich Befragens geführt werden» (Zitat aus dem SEK-Papier von 2008).
Abschliessend erinnern die Autoren an das reformierte Verständnis von Trauung (mit Berufung auf den Zürcher Reformator Heinrich Bullinger, der davon ausging, dass «aufrichtige und rechtschaffene Obrigkeiten gute und angemessene Ehegesetze erlassen»): «Die ordinierte Pfarrperson erbittet den Segen Gottes für die Eheleute und die versammelte Gemeinde hält Fürbitte für sie.» Die zentrale Frage ist, «ob ein Paar für einen Entschluss gesegnet werden könne, der in der kirchlichen Tradition und ihrer Bibelrezeption eindeutig verworfen wird».
Das Büro der Abgeordnetenversammlung hat das Traktandum als letztes grosses der zweitägigen Beratungen angesetzt, auf Dienstag Nachmittag, 5. November.