«Drei Jahre, bis eine neue Atmosphäre da ist»
In der Kirche erwartet man Harmonie – und dann schlagen Konflikte auf die Stimmung. Ein Neuanfang ist möglich, wenn daraufhin gearbeitet wird. Was es zur Lösung braucht, weiss der Pfarrer, Gemeindebauspezialisten und Berater Karl Flückiger aus eigener Erfahrung. Er arbeitet in der Kirchgemeinde Zürich-Industrie, welche in die Schlagzeilen gelangt ist. Flückiger macht Mut, Streit durchzustehen.
LKF: Versöhnung heisst Beziehungen wiederherstellen oder darum ringen: Was kann man dafür tun – und was kann man nicht leisten, weil es von oben her geschehen muss?
Karl Flückiger: Beides gehört dazu. Es geht nicht ohne Gebet. Ich denke, es braucht Gebetsunterstützung, ob allein gemacht oder organisiert, ob in der Fürbitte im Gottesdienst oder in einer Gebetsgruppe. Die Form ist zweitrangig; es darf, aber muss nicht von einem bestimmten Frömmigkeitsstil geprägt sein. Aber die Bitte darum, dass Gottes Reich kommt und wächst, ist notwendig. Gott ist ja auch in der dunkelsten Ecke. Wo es am verrücktesten ist, da zieht es Gott hin, es scheint, als ob es Gott ganz wohl ist im Konflikt. „Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt“ (Jochen Klepper, RG 372,5).
Das ist Ihre Erfahrung?
Das ist meine Überzeugung. Dort will er hin. Wo alle anderen fortlaufen, da geht er hin. Wo alle anderen die Hände verwerfen, dort ist er präsent. Wo alle sagen, das ist nicht mehr Kirche, da ist Gott. Manche Leute finden, wenn gestritten wird, sei es nicht mehr Kirche. Man erwartet in der Kirche Harmonie, gutes Essen, dass man der Seele wohl tut – und einander ja nicht zu nahe kommt. Man darf gewiss erwarten, dass Gott nährt, gerade im Streit. Aber nur gut essen und es friedlich haben macht satt und platt.
Was Sie hier tun in Zürich-Industriequartier, nach dem Strafverfahren gegen den langjährigen Kirchgemeindepräsidenten und heftigem Streit – diese Arbeit scheuen andere Pfarrer?
Für mich ist es keine Heldentat. Es ist normal, nichts Besonderes. Andere sagen, sie würden es nie tun. Die letzten vier Monate waren tatsächlich gar nicht einfach.
Versöhnung braucht Gebet, auch Hören auf Gott. „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ – die vertikale Dimension.
Ja, und für mich kommt das biblische Gebot hinzu: „Segnet, die euch fluchen!“ Das ist täglich, ja stündlich zu üben, wenn du im Konflikt steckst. Sonst schaukelst du dich ständig hoch, der Krampf hält an. Die Last ist sonst schon gross genug. Es braucht dieses Segnen – nicht nur als Hygiene für dich, sondern um den Status aufrechtzuerhalten und das Aufschaukeln nicht mitzumachen.
Wenn man das aushält und durchhält, kommt dann auch der Segen, eine Wende. Nach meiner Erfahrung braucht es drei Jahre, bis eine neue Atmosphäre da ist – wenn du intensiv daran arbeitest. Wenn du dich nicht bemühst, dann wird sozusagen Sand darüber gestreut. Wenn man dann ein bisschen kratzt, bricht der Konflikt wieder offen aus. Kollektive Archetypen von Destruktion, destruktive Muster, wiederholen sich in gewissen Gemeinden. Sie haben über Jahrzehnte deutlich mehr Konflikte als andere.
Das sagen Sie im Blick auf die Zürcher Landeskirche als ganze?
Ja. Jahre später sind andere Akteure am Werk. Doch die Konflikte wiederholen sich in einer ähnlichen Form.
Das Leitungsmodell der Zürcher Kirche, in dem Pfarrer und Kirchenpflege einander zugeordnet sind und bei je eigenen Aufgaben aufeinander angewiesen sind, ohne Weisungsrecht …
…ist ein Schönwettermodell. Ein Modell der Kooperation in gegenseitiger Achtung. Wenn diese verschwindet, ist das Modell so schwerfällig. Hier in Zürich-Industriequartier hat der Zürcher Kirchenrat nach jahrelangem Zuwarten einen Sachwalter eingesetzt, der umfassende Kompetenzen hat. Ein Krisenmanager sollte rascher eingesetzt werden können. Der Kirchenrat muss eine Form finden, schneller eingreifen zu können, ohne die Kirchenpflege abzusetzen.
Ich begleitete eine Kirchgemeinde. Der Konflikt war in einem halben Jahr nicht zu lösen. Ich schlug der Bezirkskirchenpflege vor, der Kirchenpflege einen Moderator von aussen zur Seite zu stellen. Einen Sitzungsleiter mit weitgehenden Kompetenzen im Alltagsgeschäft, der Entscheide speditiv umsetzt. Da wird die Kirchenpflege nicht ersetzt, sondern auf gewisse Weise bevormundet, aber gleichzeitig trainiert und ermächtigt. Das Modell ist noch nicht erprobt. Es wäre nötig. Es würde einiges verkürzen.
Konflikte gab es schon immer. Fällt es uns heute schwerer zu sagen: „Es gut mir leid“?
Wir haben hier sehr gute Beziehungen zu den Katholiken. In jeder Messe wird „unsere Schuld, unsere übergrosse Schuld“ von allen bekannt. Uns fehlt das. Wir haben die Busse, die eigentlich zu jedem Gottesdienst gehört, aus unserer Agenda gestrichen. Das Schuldbekenntnis wird nicht mehr gesprochen…
…das die Lutheraner und auch andere reformierte Kirchen noch in ihrem Gottesdienst kennen.
Ja. Über Schuld redet man nicht, nicht mal im Gottesdienst. Die geistliche Haltung, die sich darin zeigt: Wir sind dran, wir machen es richtig, der Heilige Geist ist ja da – für was de no grüble? Wozu unsere Beziehungen klären – die Hauptsache ist doch, dass wir zusammen an der Arbeit sind.
Zwingli hat seiner Kirche das Vertrauen auf den Heiligen Geist mitgegeben – etwas Kostbares. Das Schuldbekenntnis war als Korrektiv da, es ist später weggefallen.
Von Zerbrechlichkeit allgemein wird geredet. Aber von Schuld? Auch in der Abendmahlsliturgie fällt das Reden von Schuld meistens weg. Bekanntlich haben wir die höchste Psychiaterdichte der Welt – das gibt mir zu denken. Vor einigen Jahrzehnten zeigte eine Statistik in reformierten Kantonen viel mehr Einweisungen in die Psychiatrie als in katholischen Gebieten. Man führte das damals zurück auf die Beichte, welche die Seele reinigt.
Mit dem Schuldbekenntnis im Gottesdienst würde die Kirche Versöhnungs- und Vergebungsbereitschaft kultivieren.
Ja. Die gemeinsame Busse hilft mir, innerlich zu sagen: Da habe ich einen Fehler gemacht. Ich darf dann mir und anderen sagen, dass etwas nicht gelungen ist...
…und den Schmerz vor Gott bringen, dass ich mit einem anderen Gemeindeglied nicht auskomme.
Wenn ich im Konflikt bin – das ist hier zu sagen –, kann ich das nicht fordern. Dann stecke ich so fest, dass ich nicht vom anderen fordern kann, Busse zu tun. Dann gilt es zuerst den Konflikt durchzustehen und in einen Stand zu kommen, wo ich mich integer (=unberührt) fühle.
Ein gemeinsames Schuldbekenntnis im Gottesdienst – Prävention gegen Verhärtungen?
Ja. Es geht nicht darum, Konflikte zu vermeiden, sondern in den Stand zu setzen, dass wir gut durch Konflikte hindurchgehen. Im weiteren Zusammenhang ist zu fragen, wie Seelsorge geschieht. Sie ist, von den Kasualien abgesehen, in den meisten Pfarrämtern an einem kleinen Ort. Einzelne Gemeinden geben ihr Raum; man kommt mit Belastendem ins Pfarrhaus und kann es aussprechen. Nach meiner Erfahrung hat eher der Diakon seelsorgerliche Gespräche als der Pfarrer.
Was leistet Mediation?
Sie ist ein kurzes, klar strukturiertes Verhandeln. Im besten Fall schafft Mediation die Möglichkeit, dass man geordnet weiterarbeiten kann. Aber dass Vertrauen wächst, dass ich vergebe, eigene Anteile bekenne und wieder Achtung vor dem Bruder und der Schwester gewinne – das ist nicht Thema der Mediation.
Wie geschieht dieser Neuaufbau?
Das Eine ist die seelsorgerliche Seite: Bekennen, Vergeben, die Bereitschaft, in einer schwierigen Situation auch Gottes gutes Handeln an mir zu finden. In einem Kirchgemeindekonflikt ist jedoch auch viel gute organisatorische Handhabe vonnöten: Krisenmanager, die möglichst rasch eingreifen, eine Mediation, welche die Arbeitsfähigkeit erhält oder neu herstellt…
…und Perspektiven für ein anständiges Miteinander schafft.
Ja. Für ein Miteinander als Erwachsene (lacht). Es gilt ohne Verzug pragmatisch zu handeln. Aber das ist noch nicht das Aufdecken – und Auflösen – von Mustern, die die Gemeinde bis anhin geprägt haben
Was für Muster meinen Sie?
Eines von vielen Mustern ist Misstrauen dem Pfarramt gegenüber. Es äussert sich zu unterschiedlichen Zeiten in ganz verschiedenen Vorwürfen: Der Pfarrer sei faul, wolle alles bestimmen, mache die Arbeit mit den Konfirmanden nicht gut… Ein anderes ist gerade von der anderen Seite her zu beobachten: Die Kirchenpfleger sind alle unfähig, sie verstehen als Laienbehörde ja sowieso nicht nicht, was die Mitarbeiter beschäftigt...
Karl Flückiger, bei allen Konflikten, die Sie mitbekommen haben, machen Sie Mut.
Ja. Der Konflikt gehört zum Alltag. Er ist eine Chance, die Gott den Menschen schenkt. Dann kann die Tiefe des Christseins erlebt werden wie sonst nicht. Wenn alles nach Wunsch läuft, am Sonntag, kommt man nicht an Grenzen. Wie gehe ich ins Gebet für eine Gemeinde, der es nicht mehr gut läuft? Rückzug, Schmollen, den Bettel hinschmeissen – mit welcher Kraft stehe ich die Spannung denn durch? Vielleicht braucht es auch einen Anteil trotziger Kraft, aber sie genügt nicht. Es braucht eine gestaltende Kraft, dass ich neu hoffe, jetzt passiert das Reich Gottes, jetzt kommt er zum Zug. Geduld gehört dazu – und die Erwartung, dass es in drei Jahren anders sein wird.
Danke für das Gespräch.