Die Reformierten im Jahr 2022
Neu besteht der Rat der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz aus fünf Frauen und zwei Männern. Wenn Rita Famos, im zweiten Jahr Ratspräsidentin, wiedergewonnene Normalität signalisieren wollte, konnte dies 2022 im Zeichen der Erschütterungen nicht gelingen. Wichtige Debatten wurden nicht geführt, während sich die gesellschaftlichen Trends fortsetzten. – Eine kommentierende, unvollständige Rückschau.
Die Bearbeitung der durch die Causa Locher aufgeworfenen Fragen hat die Reformierten auf nationaler Ebene auch 2022 noch beansprucht. Die meisten der 2020 verlangten Massnahmen, in einen 17-Punkte-Aktionsplan gefasst, wurden vom Rat mit der Geschäftsstelle abgearbeitet; dies nahmen die Synodalen im Juni zur Kenntnis.
Doch machte die Rückweisung der Vorschläge zum Schutz der persönlichen Integrität im November deutlich, wie kritisch die Synodalen auch dem personell erneuerten Rat gegenüber eingestellt sind.
Die Rückkehr der Reformierten zum ersehnten Courant normal wurde gewiss auch dadurch erschwert, dass die gesellschaftlichen Krisen sich nicht mehr folgen, sondern überlappen – wenn auch die Schweiz bisher weniger geschüttelt wurde als andere europäische Länder.
Abwahl als Signal
In der Sommersynode wurde Daniel Reuter, einer der erfahrensten Kirchenmänner der Schweiz, aus dem Rat abgewählt. Seine Kandidatur für eine dritte Amtszeit misslang, weil zwei Kantonalkirchen Kandidatinnen portierten und sein Zürcher Kirchenrat – auch das ein Novum – ihn nicht mehr unterstützte.
Reuter, Vizepräsident des Rats, hatte 2020 zusammen mit Esther Gaillard die EKS-Exekutive durch die Chaosmonate geleitet (ohne dafür angestellt zu sein). Zudem führte er als politisch versierter Brückenbauer das jahrzehntealte, überaus hürdenreiche Geschäft des Zusammenschlusses von HEKS und BFA mit zum Erfolg.
Die breite Wertschätzung dafür half ihm nicht; er war 2019 im Auftrag der vorberatenden Kommission für die Gleichachtung des traditionellen Ehe-Modells neben der «Ehe für alle» eingetreten.
Nach dem Rücktritt von Esther Gaillard und Ueli Knoepfel wählten die Synodalen für die nächsten vier Jahre einen Rat von fünf Frauen (neu die Juristinnen Lilian Bachmann und Catherine Berger) und zwei Männern (neu Pfr. Philippe Kneubühler).
Ob im Kollegium – allein die EMK-Vertreterin wohnt im geografischen Dreieck Bern-Zürich-Basel – die Schweizer Reformierten und namentlich die mehr austrittsgeneigten Männer gut repräsentiert sind, muss sich zeigen. (Bei der Bundesratswahl am 7. Dezember warnte der SP-Fraktionschef nach dem ersten Wahlgang angesichts vieler Stimmen für den Zürcher Jositsch das Parlament, eine 5:2-Mehrheit von Männern im Bundesrat sei nicht akzeptabel.)
Konservativer Flügel nicht mehr im Rat vertreten
Im Rat wird bloss Pierre-Philippe Blaser mehr als drei Jahre Erfahrung haben. Zudem ist nach Daniel Reuters präzedenzloser Abwahl der konservative Flügel der Reformierten nicht mehr in der EKS-Exekutive vertreten. Der Thurgauer Kirchenratspräsident Wilfried Bührer, der als sein Sprecher gelten konnte, schied infolge Pensionierung aus der Synode aus.
Mit der Berufung von Stephan Jütte als «Leiter Theologie und Ethik» der Geschäftsstelle und persönlicher Mitarbeiter von Rita Famos akzentuiert sich eine fragwürdige Einseitigkeit. Sie hat allerdings Tradition im Schweizer Protestantismus: Die «Frommen» konzentrieren sich traditionell auf die Gemeindeebene; in Kirchenleitung, Fakultäten und kirchlichen Medien sind sie untervertreten oder gar nicht präsent.
Daniel Reuter kommentierte die Entwicklungen im Oktober in einem IDEA-Interview. Seine Bemerkung, wichtige Debatten würden vom Tisch gewischt, deutet darauf hin, dass die Reformierten sich etwas vormachen und sich wesentlichen Fragen nicht stellen. Ob der Habermas-Spezialist Stephan Jütte, der mit dem grosszügig finanzierten RefLab der Zürcher Kirche (Podcasts und Blogs) seit 2020 Aufsehen erregte, in der EKS dies ändert, ist offen. Reuter konstatiert einen verengten Diskurs; die «Frommen» seien zunehmend nur mehr geduldet.
Frauen am Steuer
Von den 24 reformierten Kantonalkirchen werden derzeit neun von Frauen präsidiert. Auf nationaler Ebene ist ihre Mehrheit in Leitungspositionen augenfällig: Die Synode wird von Evelyn Borer präsidiert, der Rat von Rita Famos; die Geschäftsstelle wird von Hella Hoppe geleitet.
Auch den beiden ständigen Kommissionen stehen ab Neujahr Frauen vor (Annelies Hegnauer ad interim; sie kandidierte nach den Turbulenzen als einzige nochmals für die GPK).
Ein eigenwilliges Signal setzte die Frauenkonferenz der EKS, deren Sprecherin Gabriela Allemann sich in der Causa Locher in den Vordergrund spielte. An ihrer jährlichen Tagung Ende Oktober benannte sich die Frauenkonferenz eigenmächtig um in «Frauen- und Genderkonferenz».
In der Geschäftsstelle der EKS arbeiten etwa doppelt so viele Frauen wie Männer. In einer Umstrukturierung wurden im Sommer vier Bereiche geschaffen; sie werden alle von Männern geleitet. Auf die vielfältigen Aktivitäten der Geschäftsstelle kann hier nicht eingegangen werden; der Rat führt sie im jährlichen Rechenschaftsbericht auf.
Stossen die Reformierten zum Wesentlichen vor?
Eine wesentliche Frage nahm Rita Famos auf. Sie hatte an den Freiburger Studientagen einen Vortrag des Religionsphilosophen Hans Joas besucht, dessen neues Buch «Warum Kirche?» heisst. Vor den Synodalen sagte sie, diese Frage werde sich im Frühling nicht mehr stellen, wenn die Reformierten durch den dunklen Winter hindurch ihre Dienste der Bevölkerung leisten und herzhaft feiern würden.
Es ist zu vermuten, dass die Frage sich weiterhin stellen wird, auch vor dem Hintergrund der nochmals gestiegenen Austrittszahlen, welche die Bevölkerungsanteile der Grosskirchen mindern und ihren öffentlichrechtlichen Status politisch angreifbarer machen. Das Pastoralsoziologische Institut in St. Gallen stellte im September sechs Videos zu den Religionstrends ins Netz (eine Zusammenstellung der Befunde hier).
Über die Finanzen später reden
Unter den Themen, welche die Reformierten auf nationaler Ebene vor sich herschieben, ist die Finanzierung. Die beiden Landeskirchen hatten eine ecoplan-Studie zu den finanziellen Perspektiven bis 2045 erstellen lassen. Sie prognostiziert schweizweit eine Halbierung der Kirchenmitglieder und einen Rückgang der Einnahmen aus Kirchensteuern und Staatsbeiträgen um ein Viertel.
Die Synodalen nahmen die Studie im Juni zur Kenntnis. Doch die finanzielle Entwicklung «proaktiv» (Daniel Reuter als Ratssprecher) anzugehen und zum Thema der ersten Gesprächssynode zu machen, lehnten sie ab. Zugleich fand ein Berner Antrag, «Fundraising» zu erörtern, keine Mehrheit. Im Herbst forderte der Aargauer Gerhard Bütschi, die bisherigen Einnahmen der EKS nicht bis 2027 unverändert fortzuplanen.
Drängende Fragen
Darüber hinaus gibt es grundlegende Fragen zur Stellung der Kirchen in der Gesellschaft. Zu erörtern wäre etwa, wie die Reformierten umgehen wollen mit der immer stärkeren Neigung von Schweizerinnen und Schweizern, «Spiritualität» zu gestalten ohne Kirche und gemeinschaftlich praktizierten Glauben. (Ritualangebote von Pfarrpersonen auf einer Website sind keine angemessene Antwort.) Die gesellschaftliche Grosswetterlage hat sich schon vor dem 24. Februar 2022 dramatisch verändert: Nach einigen Krisenjahren, welche die Fortschrittseuphorie abgewürgt haben, lässt der Klimawandel apokalyptische Ängste aufkommen.
Wenn die Reformierten für Meinungsvielfalt, respektvollen Diskurs und Ausgleich eintreten, werfen ringsum extreme Äusserungen und Aktionen höhere Wellen. Misstrauen und Hass nehmen in Europa zu. Wie positionieren sich die Reformierten – ohne eine robuste biblische Eschatologie – in den säkularen Polarisierungen?
Halten sie sich heraus, um nicht hin- und hergerissen zu werden, sind sie irrelevant. Steigen sie ein, kommt ihre theologische Oberflächlichkeit und Uneinigkeit an den Tag. Und: Welche Antworten, welche Hilfe geben die Reformierten den vielen tausend haltlosen Jugendlichen, von denen nun eine grössere Zahl seelisch erkrankt? Wie schlagen sie Brücken zu der Generation, die in der Verwirrung Wege suchen muss, ohne auf Erarbeitetes und Erfolgserlebnisse zurückgreifen zu können?
Der Krieg in der Ukraine und das Moskauer Patriarchat
Zu reden gab in der nationalen Synode die russische Invasion in der Ukraine. Sie brachte die Genfer Ökumene in eine Zerreissprobe. Denn die russisch-orthodoxe Kirche ist bei weitem die mitgliederstärkste des Weltkirchenrats ÖRK. Der Zürcher Kirchenratspräsident Michel Müller forderte in der Sommersynode, im Zentralausschuss des ÖRK auf eine Suspendierung der Mitgliedschaft des Patriarchats zu drängen.
Dies gelang natürlich nicht; die Vollversammlung in Karlsruhe brachte keine Annäherung; der folgende Besuch des ÖRK-Generalsekretärs in Moskau wurde von Rita Famos im November mit hörbarer Frustration kommentiert. Die Schweizer Reformierten verfügen mit G2W in Zürich seit 50 Jahren über eine unübertreffliche alternative Informationsstelle zu Fragen der Ostkirchen; sie hätten sich schon zu Sowjetzeiten gegen die Unterwürfigkeit der russisch-orthodoxen Kirchenspitzen (und ihre Verschleierung von Repression) wenden können.
Die Bemühungen zur Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine beanspruchten Kirchgemeinden landauf landab stark; bei stärkerem Zustrom aus anderen Ländern kamen Kantone im Herbst an ihre Grenzen.
«Ehe für alle»
In den kantonalkirchlichen Synoden gab die «Ehe für alle» zu reden. Das Zivilrecht änderte am 1. Juli; die Kantonalkirchen reagierten unterschiedlich. Die Kirchenordnung der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn spricht neu von «geehelichten Personen» statt von Mann und Frau; die Revision passierte nach einer Gesprächssynode 2021 in zwei Lesungen. Der Synodalrat betonte, dass keine Pfarrperson gegen ihre Überzeugung zu einer solchen Trauung gezwungen werden könne.
Die Zürcher änderten die diesbezüglichen Bestimmungen im Rahmen einer Teilrevision, ohne zu diskutieren (was der Präsident der Evangelisch-kirchlichen Fraktion kritisierte). Der Kirchenratssprecher lakonisch: «Wir wechseln von ‹Braut-Bräutigam› zu ‹Ehepaar› – eine rein redaktionelle Geschichte.»
In der Waadtländer Synode hingegen wurde die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare 2022 dreimal traktandiert. Geregelt wurde nach emotionalen Debatten ein «culte de bénédiction de mariage» mit dem Zweck der «l’invocation de la grâce que le Dieu de Jésus-Christ accorde par son Esprit à deux personnes civilement mariées». Im Herbst traten drei der sieben Synodalräte, darunter die Präsidentin, ein Jahr vor Ende ihrer Amtszeit wegen Überlastung zurück.
Im Thurgau haben nicht nur Pfarrpersonen das Recht, solche Trauungen abzulehnen, sondern auch Kirchgemeinden, aufgrund ihrer Autonomie. «Als Kirchenrat können und wollen wir den Gemeinden nicht vorschreiben, wem sie ihre Räume zu Verfügung stellen», sagte Kirchenratspräsidentin Christina Aus der Au.
Zunehmender Pfarrermangel
Durch die Pensionierung starker Jahrgänge und das Schwinden der Studentenzahlen akzentuiert sich der Pfarrermangel in den Schweizer Kirchen. Die Studiengänge in Bern und Zürich/Basel für Quereinsteiger können die Lücke nicht schliessen. 2028 werden schweizweit am meisten Pfarrer das Pensionsalter erreichen. In einzelnen Kantonalkirchen werde in wenigen Jahren über die Hälfte der Pfarrerinnen und Pfarrer pensioniert, sagte Michel Müller, Vorsitzender des Deutschschweizer Konkordats zur Pfarrerausbildung, im Juni vor der Zürcher Synode.
Die STH Basel hat im Oktober ihre Akkreditierung als Universitäre Theologische Hochschule erneut erhalten.
Innnovation in den Kantonalkirchen
Die Berner Kirche will mit der Pfarrstellenzuteilung Neues ermöglichen, auch wenn grundsätzlich an den örtlichen Kirchgemeinden und ihren Pfarrstellen festgehalten wird. Die Sommersynode beschloss, innovative Formen kirchlicher Präsenz zu fördern, indem drei Prozent des Stellenkontingents dafür reserviert werden. Kleine Gemeinden sollen ermuntert werden, mit anderen zu kooperieren, damit gemeinsam Pfarrstellen mit einem attraktiven Anstellungsgrad angeboten werden können.
Im November nahm die Zürcher Synode das Innovationskonzept des Kirchenrats zur Kenntnis. Auf über 40 Textseiten wird Innovation definiert (mit einzelnen Verweisen auf die Bibel) und es werden Elemente und Kriterien ihrer Förderung benannt. Das Konzept zielt auf «neue Formen und Orte, die keinen der bisher bekannten Logiken von Kirchgemeinden folgen» – bis 2030 an 20 Orten im Kanton, gestaltet von Menschen, «die bisher nicht aktiv in der Kirche waren». Zur Förderung werden 5 Millionen Franken zur Verfügung gestellt. Die Synodalen nahmen das Konzept zur Kenntnis, nicht ohne Kritik und Vorbehalte anzubringen.
«Partnerschaftliches Joint Venture»
Die Baselbieter Kirche verstärkt das Netzwerk mit Migrationskirchen durch eine Zusammenarbeits-Vereinbarung mit der Evangelischen Stadtmission Basel. Dies beschloss die Synode im November. Das bestehende Netzwerk soll bis Ende 2026 zwei Fünftel der rund 80 Migrationskirchen der Region Basel umfassen, doppelt so viele wie aktuell. Der Kirchenrat begründete seinen Antrag mit dem «Integrations-Auftrag über die eigene Institution hinaus», welchen die steuerfinanzierte Kantonalkirche habe. Sie und die Stadtmission hätten «in den letzten Jahrzehnten wirkungsvolle Begleitungs und Betreuungsangebote für Migrant/innen» in der Region entwickelt.
Ermutigende Tagung
Das LKF steuerte 2022 zum Kirchenleben eine gehaltvolle Tagung bei. Sie beinhaltete eine nüchterne Analyse des Glaubensverlusts in Europa wie auch der Schwäche der Kirchen («Jesus-Demenz») und gab viele Impulse zum geistlichen Neuanfang. Die Referenten vermittelten Einsichten in die Möglichkeiten von Kirchgemeinden aufzubrechen, Menschen zur Mitgestaltung der Gemeinschaft zu motivieren und nachhaltig ins Umfeld hineinzuwirken.
Bilder von den Synoden der EKS: EKS/Nadja Rauscher