Die Reformierten im Jahr 2021
Im zweiten Pandemiejahr suchten die Kirchen, von den staatlichen Massnahmen betroffen, ihren Weg. Gefordert waren Kreativität, Anpassungsfähigkeit und Durchhaltewillen. In der Ehe-Frage hatte die nationale Synode schon 2019 entschieden. Die Abstimmung zur Konzernverantwortung zeitigte Nachwehen. Mehr Kirchen werden von Frauen präsidiert. – Ein unvollständiger, selektiver Rückblick
auf ein unruhiges Jahr.
Themen: Start von Rita Famos – Untersuchungskommission – Drei Handlungsfelder für die EKS –
Von der «Ehe für alle» zur «Trauung für alle» – Berner Gesprächssynode und Zürcher Inklusion –
Im zweiten Corona-Jahr – Kirchenpräsidentinnen – Kirche und Politik –
Ökumenische Distanzierungen – Digitale Präsenz – Statistik
Offenheit ...
Was für Pflöcke würde Rita Famos, die neue Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) einschlagen? Das fragten sich manche nach dem Chaosjahr 2020. Die Zürcher Pfarrerin mit Berner Wurzeln packte am Sulgenauweg in Bern an, rühmte öffentlich die Offenheit und Modernität der Reformierten – und unterstrich das frühe Ja (2019) der nationalen Versammlung der Reformierten zur Änderung des Zivilrechts. Der Rat der EKS positionierte sich für den Abstimmungskampf mit dem Ja von 2019; in einer Medienmitteilung vor den Sommerferien betonte er den Schutz vor Diskriminierung.
Die EKS-Broschüre «Zankapfel Ehe», welche den biblischen Befund und die komplexen Fragen darlegt, verschwand von der Website der nationalen Kirchengemeinschaft. Dabei äusserte Famos im Interview mit ref.ch im Juni: «Gerade in herausfordernden Zeiten profitiert eine Institution aber von unterschiedlichen Zugängen, dem Dialog und dem respektvollen Umgang mit anderen Haltungen.» Es sei die Stärke der Reformierten, verschiedene theologische Strömungen «miteinander im Diskurs zu halten».
... und Abgrenzung
Im bref-Interview im Oktober zog sie eine rote Linie: Ein reformierter Pfarrer, der die homosexuelle Lebensweise als Sünde sehe, werte diese Menschen im Innersten ab und achte ihre Würde nicht. Das gehe nicht. Rita Famos verwies in dem Zusammenhang auf das «wissenschaftliche Fundament» der an den staatlich finanzierten Fakultäten gelehrten reformierten Theologie (d.h. ihrer historisch-kritischen Bibelauslegung); dieses werde mit einer solchen Anschauung missachtet. Dass manche Pfarrpersonen gleichgeschlechtliche Paare nicht trauen wollten – das müsse man akzeptieren, sagte Famos und äusserte gleich die Meinung, in zwanzig Jahren werde die kirchliche Ehe für solche Paare «selbstverständlich sein».
Dass den Reformierten, wenn sie «mit der Zeit» gehen wollen, künftig weitere Forderungen und Zumutungen um die Ohren geschlagen werden dürften, führte der bref-Interviewer gleich vor: Die Kirche könne sich doch mit der Klimajugend solidarisch zeigen und ihr ihre Infrastruktur anbieten. Rita Famos sah in dem Punkt keine Schranken für Kirchgemeinden – aber: «Eine vom biblischen Zeugnis entkernte Gemeinde macht sich überflüssig.» Und zum Klima: In der Kirche müssten stark gegensätzliche Meinungen ausgehalten werden.
Aufarbeitung des Rücktritts
Die Vorwürfe gegen Gottfried Locher, der im Mai 2020 vom Ratsvorsitz zurückgetreten war, erachtete die von der Synode eingesetzte Untersuchungskommission aufgrund des Berichts einer beauftragten Anwaltskanzlei im August als «glaubwürdig». Eine frühere Mitarbeiterin hatte den Ratsmitgliedern Esther Gaillard und Sabine Brändlin ihre Erfahrungen mit Locher erzählt und darauf Beschwerde eingereicht. (Dass die Versuche der Frau, dies früher im Kirchenbund zur Sprache zu bringen, nicht gefruchtet hatten, war für die Synode im Sommer 2020 Anlass, die Untersuchung auszuweiten auf Abläufe und Zustände in der Geschäftsstelle des Kirchenbundes.)
Laut dem Bericht der Anwälte hatte Locher durch «unerwünschte Avancen» die Mitarbeiterin «in ihrer persönlichen Integrität verletzt» und gegen seine Fürsorgepflicht verstossen. Die Kommission formulierte 17 Empfehlungen an Rat und Synodebüro der EKS, welche von einer ausserordentlichen Synode im September bestätigt wurden. Innert einem Jahr ist ein «Aktionsplan» zu unterbreiten. Die Kommission wurde entlassen und ihre Arbeit verdankt, ohne dass eine vertiefte Debatte stattfand; die Synode ging nicht auf einen von Gottfried Lochers Frau unterzeichneten Brief ein, den die Synodalen kurz vor der Sitzung erhalten hatten.
Locher, der den Kirchenbund 2011-2020 geleitet hatte, war abgetaucht und hatte sich der Untersuchung verweigert. Zum Jahresende trat er als Weltwoche-Autor in Erscheinung. In einem Artikel zur Erscheinung des Engels vor den Hirten schrieb er: «Meinungsmacher … moralisieren. Sie wissen immer, was richtig und falsch ist. Sie transportieren Inquisition lieber als Information ...»
Drei EKS-Handlungsfelder
So mühsam, kostspielig und unbefriedigend die Aufarbeitung der «Causa Locher» verlief, suchten die Synode und der Rat unter Rita Famos den Weg zurück in die Normalität. Im Juni 2020 hatten die Synodalen den noch unter Locher erstellten Vorschlag, die gesamte Tätigkeit der EKS in sechs Handlungsfelder zu gliedern, von der Traktandenliste gestrichen. Ein Jahr später beschlossen sie drei Handlungsfelder für vier Jahre: Kommunikation, Bildung und Berufe, Bewahrung der Schöpfung. Die Synodalen (und vorberatend die kantonalen Kirchenpräsidenten) bestimmen damit über die mittelfristigen Tätigkeitsschwerpunkte ihrer nationalen Kirchengemeinschaft.
Die Synodalen genehmigten endlich das Reglement der Synode, das 2019 von einer Kommission entworfen und 2020 in erster Lesung stark bearbeitet worden war, sowie das Finanzreglement der EKS mit dem Beitragsschlüssel der Mitgliedkirchen. Sie fassten im September eine Resolution an den Bundesrat zur vermehrten Aufnahme von Flüchtlingen aus Afghanistan (Materialien und Beschlüsse 2021).
Die Synodalen wählten zudem Mitglieder des Stiftungsrats des «Hilfswerks der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz» (HEKS), das aus der Fusion von HEKS und «Brot für alle», gegründet 1946 bzw. 1961, hervorgeht. Die Fusion auf Anfang 2022 hatte die Synode 2020 nach mehrjährigen Vorarbeiten beschlossen. Die Anstrengungen der Werkverantwortlichen und das unermüdliche Wirken von Ratsmitglied Daniel Reuter wurden verdankt. Mit der Fusion kommt einer der langwierigsten Prozesse im reformierten Protestantismus zu einem formell befriedigenden Abschluss; die Fragen über die Kirchennähe des neuen Werks bleiben.
Von der «Ehe für alle» zur «Trauung für alle»
Gegen die Vorlage «Ehe für alle», in der Pandemie 2020 vom Parlament beschlossen, kam Anfang 2021 das Referendum zustande. Am 26. September sagten bei einer Stimmbeteiligung von 52,6 Prozent 1,83 Millionen Stimmende
(64 Prozent) Ja zur Neudefinition der Ehe im Zivilgesetzbuch und zur Samenspende für lesbische Paare.
Als Reaktion auf die Bereitschaft reformierter Kirchenleitungen und grosser Teile der Pfarrschaft, dem gesellschaftlichen Mainstream zu folgen, gründete eine Gruppe von Pfarrern im Oktober in Winterthur das Netzwerk Bibel und Bekenntnis Schweiz.
Für jene, die die Änderung als Bruch mit der christlich-abendländischen Tradition ablehnten, stellt sich unter anderem die Frage, wie viel die Kirchen – besonders die Reformierten, die sich positiv zur Vorlage stellten – künftig noch zum Ethos der Ehe zu sagen haben. (Die Zahl der Trauungen hat in der Zürcher Kirche innert 20 Jahren um 78 Prozent abgenommen.) Paul Bernhard Rothen deutete in einer Broschüre die «Ehe für alle» als Versuch, «aus der Bejahung des gleichgeschlechtlichen Begehrens ein Heilmittel zu formen, das die gesamte Gesellschaft von allen krankhaften Verkrampfungen frei mache» (Website).
Berner Gesprächssynode
Mehrere Kantonalkirchen wollen ab Juli 2022 zur Trauung gleichgeschlechtlicher Paare übergehen, als Folge der Gesetzesänderung, ohne dies eigens zu beschliessen. (Leitungen argumentieren, die bestehenden Regelungen ermöglichten dies.) Dagegen haben die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn die «Trauung für alle» für die nächste Sommersynode traktandiert (Themenseite). Zur Vorbereitung führten sie im Oktober eine Gesprächssynode durch, in der Vertreter der LGBT-Szene wie jene des herkömmlichen Ehe-Verständnisses zu Wort kamen.
In einem Positionspapier, das im Januar erschienen war, wurde der Dissens, den die Theologen der Berner Kirche und ihre Gemeinschaften (EGW, Jahu, Vineyard Bern) in der Bibelauslegung haben, offen benannt und zugleich der Wille bekräftigt, gemeinsam respektvoll weiterzugehen.
Im Papier für die Synodalen hielt der Synodalrat im Herbst diese Absicht fest, als er schrieb: «Jede Kirche steht vor der Frage, wie sie angesichts von Spannungen, die im Zusammenhang mit dieser Thematik entstehen, ihre Einheit erhalten kann.» Im Papier wurde jedoch nur die auf historische Kritik gründende Bibelauslegung ausgeführt.
Der Zürcher Neutestamentler Jörg Frey sagte am Ende seines Vortrags zum biblischen Befund, ein kirchliches Trauritual für gleichgeschlechtliche Paare sei aus seelsorglichen Gründen heute theologisch begründbar. Angesichts der «klar entgegenlautenden biblischen Aussagen» könnten ihm manche Christen hier nicht folgen; dies sei zu respektieren. Wie bei allen Kasualien dürfe niemand gegen sein oder ihr Gewissen gezwungen werden (LKF-Bericht).
Gender-Offenheit in der Zürcher Kirche
Die Reformierten Medien gaben Anliegen und Forderungen der LGBTIQ* vor und nach dem 26. September breiten Raum (die Gegenseite kam vereinzelt zu Wort). Der Zürcher Kirchenratspräsident Michel Müller äusserte: «Die Kirche muss ein Schutzraum sein für alle Lebensformen, die in der Gesellschaft unter Druck stehen».
Die Kirchgemeinde Zürich schuf ein LGBTIQ*-Pfarramt. Priscilla Schwendimann, die 70 der 100 Stellenprozente übernahm, sagte im öffentlich-rechtlichen Radio, wenn Jugendliche sich als non-binär bezeichneten, habe die Kirche dies anzuerkennen.
Im zweiten Corona-Jahr ...
Die teils einschneidenden Restriktionen des gottesdienstlichen und Gemeindelebens, namentlich das Singverbot fürs Kirchenvolk, schmerzten. Dem Schutz der Schwachen verpflichtet, wählten die reformierten Kirchenleitungen regelmässig die vorsichtige Option, wenn die staatlichen Behörden ihnen Spielraum gewährten.
In der gesellschaftlichen Verunsicherung schafften die Kirchen kein Gegengewicht zu den zunehmend gereizten säkularen Diskursen – obwohl die Botschaft vom ewigen Heil in Christus (mit Auferstehung des Leibes) ihre Ressource wäre, um das Vorletzte der aktuellen Not deutlich zu machen und aus Hoffnungslosigkeit herauszuführen.
Das erschreckend unberechenbare Virus konfrontiert die Menschen auf der Wohlstandsinsel Schweiz mit dem Tod. Wie der Urdorfer Pfarrer Ivan Walther in einem unveröffentlichten Text formuliert hat, wären wir «eine armselige Kirche, würden wir das Leben rein diesseitig verstehen und die Dimension der Ewigkeit ausser Acht lassen».
Wird das Evangelium mit persönlicher und globaler Eschatologie vor Ort verkündigt und gelebt – oder verhindert dies der säkulare Horizont der Gesellschaft, der ohne Hemmungen propagierte Unglaube? Walther diagnostiziert «eine paradoxe Unfähigkeit etablierter Theologie, die tiefgreifenden Veränderungen, welche unsere Zeit charakterisieren, theologisch zu deuten und sie dort zu verorten, wo es am naheliegendsten wäre: beim Endzeitthema».
... von der Zertifikatspflicht überrascht
Die kantonalen Kirchenleitungen arbeiteten 2021 weiter in ihrer nationalen, von der EKS koordinierten Arbeitsgruppe zusammen, um die Massnahmen des Bundes umzusetzen und ihre Anliegen bei den Bundesbehörden vorzubringen. Im zweiten Corona-Herbst wurden die Kirchen von der Zertifikatspflicht überrascht, mit welcher zwei Klassen von Kirchgängern zu entstehen drohen. Dass der Bund weiterhin 50 Personen ohne Zertifikat in Gottesdiensten zuliess, stellten die Kirchen als Vorrecht heraus. Wo vor Corona deutlich mehr als 50 Glieder regelmässig Gottesdienst gefeiert hatten, litt man mehr.
Die Gemeindeverantwortlichen waren mit wechselnden Weisungen stark gefordert. Die mit den Änderungen verbundene Ungewissheit erschwerte das kirchliche Leben, nicht zuletzt das Bemühen, Freiwillige wieder zu motivieren, die sich zurückgezogen hatten. Chöre hatten lange einen schweren Stand; im Herbst konnten sie wieder proben.
Livestream und Gottes Gelegenheiten
Wie wirkt sich der Digitalisierungsschub aus? Eine Forschergruppe führte im März eine Online-Tagung durch. Der Livestream kommt zwar Schutzbedürfnissen entgegen und erlaubt das ortsunabhängige digitale Verfolgen von (oft kunstlos aufgenommenen) Gottesdiensten. Doch wird Konsumneigungen und Komfortwünschen (Predigt auf dem Sofa) flattiert, wo es endlich um Nachfolge ginge, und individualistisches Switchen und Vergleichen wird gefördert, leibliche Gemeinschaft relativiert.
In einem Interview mit dem Landeskirchen-Forum legte der Rohrbacher Pfarrer Alex Kurz dar, wie die durch Corona herausgeforderte Kirche vor Ort ihren Fokus schärfen kann. Christen dürften auch in diesen Zeiten damit rechnen, dass das Evangelium sich im konkreten Leben bewährt und bewahrheitet, sagte Kurz. «Wir müssen anfangen, die Geschichten wieder zu erspüren, die Gott mit uns schreiben will. Wir müssen wieder lernen, wo offene Türen und geschenkte Gelegenheiten sind.»
«Stresstest» für die Gesellschaft
Was tragen die Kirchen zum Schliessen der Klüfte bei, die sich in der Gesellschaft geöffnet haben? Die Impfdebatten seien «längst zum Stresstest für das Selbstverständnis der spätliberalen Gesellschaft geworden», schreibt Frank Mathwig, Ethiker der EKS. Die Impfung werde «zu einem Vehikel, an dem sich die tiefen politischen, gesellschaftlichen und auch religiösen Verunsicherungen durch die Pandemie festmachen und verselbständigen».
In der Broschüre «Die Corona- und Impfdebatte» hat Mathwig Ende Jahr ethische und kirchliche Perspektiven formuliert und frühere Stellungnahmen aktualisiert. Für ihn ist klar, «dass eine geimpfte Gesellschaft vor den gesundheitlichen, sozialen und ökonomischen Folgen einer Infektion sicherer geschützt ist, als eine Gesellschaft ohne Impfschutz». Freiheiten in der Pandemie sind für Mathwig gleich, «wenn davon nicht nur die robustesten und resilientesten Gesellschaftsmitglieder profitieren, sondern die am stärksten gefährdeten in gleicher Weise».
Dem Ethiker gibt zu denken, dass im Streit um «Fakten» die zentrale Frage nach den gesellschaftlichen Wertorientierungen vollständig ausgeblendet wird. «Wie Politik und Medizin ihre Expertisen nutzen, müssen die Kirchen mit gleicher Konsequenz aus ihrer Quelle schöpfen», fordert Mathwig. Und pointiert: «Der innerkirchliche Streit wird auf dem gemeinsamen biblischen Fundament ausgetragen. Verzichtet er darauf, ist er keine kirchliche Kontroverse und hat deshalb keine kirchliche Relevanz.»
Personen
Neben Rita Famos und Evelyn Borer, die in der EKS den Rats- und den Synodevorsitz antraten, haben mehrere Frauen 2021 den Vorsitz mehrerer kantonaler Kirchenleitungen übernommen oder wurden dafür gewählt: Judith Pörksen Roder (BEJUSO), Eva di Fortunato (GE), Christina Aus der Au (TG), Erika Cahenzli (GR), Martina Tapernoux (AI/AR) und Ursula Müller-Wild (ZG).
Die Zahl der von Frauen geleiteten Kantonalkirchen – zu ihnen gehören auch Waadt, Luzern und Solothurn – hat sich innert kurzem mehr als verdoppelt; damit ändert sich auch das Miteinander in der (infolge der neuen EKS-Verfassung einflussreicheren) Konferenz der Kirchenpräsidien.
Im Thurgau musste, weil Christina Aus der Au nicht ordiniert ist, die Kirchenverfassung aber zwei Ordinierte verlangt, ein zusätzlicher sechster Kirchenrat gewählt werden. Hauchdünn schaffte es Paul Wellauer im dritten Wahlgang.
Ende Jahr gaben sechs EKS-Ratsmitglieder bekannt, dass sie sich für die Jahre 2023-2026 zur Verfügung stellen; allein der Glarner Ulrich Knoepfel tritt zurück.
Auf einer der prominentesten Kanzeln der Schweiz steht neu ein deutscher Lutheraner. Für Niklaus Peter, der nach 17 Jahren im Sommer pensioniert wurde, wirkt am Zürcher Fraumünster neu Johannes Block, der aus Wittenberg berufen wurde.
Kirche und Politik
Die Nachwehen des KVI-Abstimmungskampfs 2020 dauerten an. Die meisten Kirchenvertreter verteidigten – mit diversen Nuancen – das Recht auf politische Stellungnahmen (vgl. Serie in reformiert.). Die Bundeskanzlei rügte das Verhalten der Kirchen als «zumindest grenzwertig». Öffentlich-rechtliche Körperschaften seien zu Sachlichkeit, Transparenz und Verhältnismässigkeit verpflichtet.
Das Bundesgericht wies im April Stimmrechtsbeschwerden, von Jungfreisinnigen in vier Kantonen eingereicht, nach dem knappen Ablehnung der KVI als gegenstandslos ab, doch anerkannte es ein öffentliches Interesse, das Engagement von Landeskirchen und Kirchgemeinden bei Abstimmungen zu klären. (Dies könne jedoch nur geschehen, nachdem das Engagement einen Ausgang tatsächlich beeinflusst hätte.)
Die Plattform «Kirche für Konzernverantwortung» begrüsste den Bundesgerichtsentscheid und kritisierte den Versuch, den Kirchen einen Maulkorb zu erteilen.
Die Jungfreisinnigen hingegen werteten den Entscheid als Warnschuss an die Landeskirchen. Auf kantonaler Ebene gehe es darum, «den politischen Spielraum der Kirchen rechtlich eng zu halten». (In mehreren kleinen Kantonen wurden die Kirchensteuern juristischer Personen angefochten – und bestätigt.)
Der Zürcher FDP-Ständerat Ruedi Noser forderte mit einer Motion, dass die Eidgenössische Steuerverwaltung überprüft, ob die Anforderungen an die Steuerbefreiung, welche NGOs erfüllen müssen, von ihnen bei politischer Tätigkeit eingehalten werden. Auf ein hauchdünnes Ja im Ständerat folgte im Dezember ein knappes Nein der Grossen Kammer.
Der katholische Kirchenrechtler Martin Grichting hat in der NZZ die Meinung vertreten, der Freisinn habe sich die heutige Situation (Wirtschaft vs. links-grün politisierende Christen) selbst zuzuschreiben, da die im 19. Jahrhundert nach seinen Vorstellungen konzipierten Landeskirchen «in den staatlichen Säkularisierungs- und Demokratisierungsprozess einbezogen» worden seien. Diese Politik habe die Kirchen zu Politagenturen werden lassen.
Ökumenische Distanzierungen
Dass die Eidgenossenschaft 101 Jahre nach Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zum Heiligen Stuhl dort eine Botschaft einrichten will, stiess reformierterseits auf Vorbehalte und Kritik. Den Besuch von Kardinalsstaatssekretär Pietro Parolin in Bern Anfang November nahm Rita Famos zum Anlass für eine Einladung in die gleichzeitig tagende Synode.
Da legte sie den Gästen die reformierte Sicht auf demokratische Kultur (inkl. Gleichstellung der Geschlechter), parlamentarische Prozesse, Partizipation sowie Synodalität dar (vgl. katholischer Kommentar). Der führende Kardinal und der Aussenminister wählten in ihren Grussworten eine andere Ebene, um das Ringen um Frieden und Verständigung, das Staaten und Kirchen gemeinsam ist, christlich zu verankern: Sie zitierten Niklaus von Flüe.
Die Schweizer Freikirchen erhielten nach zweijährigem Gaststatus einen Sitz im Rat der Religionen (SCR). Die Tatsache, dass Jean-Luc Ziehli auch die Schweizerische Evangelische Allianz vertritt, deren Sektionen über 75 reformierte Kirchgemeinden angehören, provozierte den Zürcher Kirchenratspräsidenten Michel Müller zu einer Frage in der nationalen Synode. Rita Famos stellte daraufhin klar, sie allein vertrete im SCR die Reformierten.
Michel Müller sprach sich im Winterthurer «Landboten» und in der kantonalkirchlichen Synode persönlich gegen die Mitgliedschaft von reformierten Kirchgemeinden in Allianzsektionen aus (Anlass war die Mitgliedschaft der Kirchgemeinde Flaachtal in der neugegründeten Allianz «Wyland»).
Digital präsent
Die Berner Synode beschloss einen neuen Web-Auftritt – und drängte bei der Erstellung zur Eile. Das von der Zürcher Landeskirche siebenstellig finanzierte RefLab verzeichnete nach knapp zwei Jahren über 15'000 Abos auf allen Kanälen; in dieser Zeitspanne wurden die Podcasts total 240'000 Mal heruntergeladen.
Eine grosse Zahl hochstehender Videos stellte das Studienzentrum Glaube und Gesellschaft der Uni Fribourg online; die für den Juni geplanten Studientage mussten auf Januar und dann auf Juni 2022 verschoben werden.
Die Landeskirchen der Romandie hatten zur Kenntnis zu nehmen, dass RTS die von ihren Medienleuten mitproduzierte halbstündige Wochsendung «Faut pas croire» im Juni 2022 einstellen wird. Als Grund wurde der Spardruck angegeben. Die Landeskirchen kritisierten, im Bereich Religion werde doppelt so stark gespart wie anderswo. Die RTS-Verantwortliche sagte, ein Teil der Mittel werde für digitale Angebote eingesetzt.
Die Träger der Zeitung reformiert. wollen ihr Angebot vermehrt digital positionieren und verschiedene Zielgruppen besser ansprechen. Die Delegierten des Vereins, der die vier kantonalen Trägerschaften der Zeitung (monatliche Gesamtauflage 710'000) zusammenbindet, genehmigten ein Kommunikationskonzept. Das Präsidium des Vereins wechselte von Fadri Ratti (Felsberg) zu Lorenz Wacker (Olten).
Für das Landeskirchen-Forum und den Verein reformiertbewegt machten Lukas P. Huber und Anna Näf seit Mai den Blog «Aufwärts stolpern» für die ambitionierte Kirchgemeinde. Nach einer ersten Staffel über Jugendarbeit führten sie neun Gespräche mit Kirchenleuten. Diese zweite Staffel gipfelte im Gespräch mit dem Basler Kirchenratspräsidenten Lukas Kundert, der die Zukunft seiner Kirche skizzierte.
Religionsstatistik
Die kantonalkirchlichen Finanzen werden von der Reform der Unternehmenssteuern betroffen sein. In den meisten Kantonen waren sie 2021 noch im Lot. Die Kirche von Basel-Stadt, die einen überdurchschnittlichen Mitgliederverlust verzeichnet, wehrt dem Mangel, indem sie um Spenden wirbt. Aktive Mitglieder zahlen in einen Förderverein ein.
Der Mitgliederschwund nahm in etlichen Kirchen 2020 nochmals zu. Die Mitgliederzahl der Zürcher Landeskirche ist in 20 Jahren um ein Fünftel gesunken, während die Kantonsbevölkerung um 29 Prozent zulegte. Dabei schwand die Zahl bis 2010 um sieben Prozent, bis 2020 um weitere 14 Prozent.
Neben den Austrittszahlen wird von den Statistikern des Bundes auch die religiöse Gleichgültigkeit vermerkt, die zunehmend in Religionslosigkeit kippt. Bezeichneten sich 1970 noch 49 Prozent der Schweizer Bevölkerung als protestantisch, waren es 2019 noch 22,5 Prozent – der stärkste Rückgang aller Glaubensgemeinschaften. Das Bundesamt registrierte auch, dass die Spiritualität bei den Reformierten am schwächsten ist und dass sie den Glauben weniger an ihre Kinder weitergeben als andere, dies auch weniger wichtig finden.