Die Reformierten im Jahr 2019
Was macht die Gemeinschaft der Reformierten wichtig für Menschen in der Mitte des Lebens? Wie positionieren sich die Kirchen, was unternehmen die Verantwortlichen? Ein unvollständiger Rückblick auf 2019 zeigt Normalität und Schwäche, die Macht des Zeitgeistes, Vorausdenken und mutige Einsprache, Glaube, Hoffnung und Liebe, aber auch das Beharren auf Gewohntem.
Themen: Leerer Himmel? – verneinen oder staunen | Trauung für alle? | Aus SEK wird EKS | Kirchliche Werke im Gegenwind | Karl Barth | Globale Verantwortung | Zukunftsprozesse in Kirchen | Regionalisierung | Wahlen und Rücktritte | Neue Ära in Bern | Jubiläen | Würde am Lebensende | Kräftiger kommunizieren | Pfarrstellenabbau | Quereinsteiger | Zu wenig Religionskunde | Theologie erneuern | Als Gemeinde wachsen
Wie glauben Christen gemeinsam an den auferstandenen Christus und bezeugen ihn ihren Nachbarn und Kollegen als Retter der Menschen und wiederkommenden Herrn, wenn für jene der Himmel leer geräumt ist? Die Frage liegt nahe am Ende des Jahres 2019. Zum 90. Geburtstag von Jürgen Habermas hat der Suhrkamp Verlag dessen Summe herausgegeben: «Auch eine Geschichte der Philosophie», auf 1650 Seiten.
Himmel ausgeräumt?
Der Bedeutungsverlust der hiesigen Grosskirchen hängt offensichtlich mit dem Erfolg der Naturwissenschaften zusammen, die seit der Aufklärung mit der methodischen Voraussetzung vorgingen, «als ob es Gott nicht gäbe», und sich auf ihrem Siegeszug aufplusterten. So meinen aufgeklärte Westeuropäer heute, die Wissenschaften hätten «den Himmel ausgeräumt» (so Res Strehle zu Habermas, Bund, 21. Dezember).
Die Mehrheit der Zeitgenossen sucht ihr Weltverständnis und ihre Grundsätze des Handelns vernünftig zu begründen – in der Regel Gott-los, ohne eine überweltliche Instanz zu akzeptieren. Wie kann da Gott noch als Herr der Geschichte geglaubt und bekannt werden? Den Kirchen wird geraten, säkular verständlich zu reden, um Menschen mit Sinnfragen und Trostbedürfnis weiterhin spirituell zu bedienen – und um den zunehmend gefährdeten Rechtsstaat zu stabilisieren (an ihm ist Habermas besonders gelegen).
Verneinen – oder staunen
Dabei steht der deutsche Soziologe und Analytiker der Säkularisierung, so eindrücklich sein Durchgang durch die abendländische Geistesgeschichte ist, nur für einen Strom des neuzeitlichen Denkens. Andere Ströme werden weniger bemerkt, eingedämmt, schlecht geredet. Doch gerade Astronomen und Astrophysiker sind uneins – manche staunen angesichts der majestätischen Sternenwelt unverhohlen und geben dem Glauben Raum.
Der emeritierte ETH-Professor Arnold Benz und seine Frau Ruth Wiesenberg Benz bringen in ihrem ebenfalls Ende Jahr erschienenen Buch «Das Universum. Wissen und Staunen» (Berchtold Haller Verlag) astrophysikalische Erkenntnisse und religiöse Erfahrungen zusammen.
Ehe für alle?
Am meisten zu reden gab im Schweizer Protestantismus 2019 die parlamentarische Initiative «Ehe für alle». Der Kirchenbund hatte sich in der Vernehmlassung der nationalrätlichen Rechtskommission zu äussern. Als Antwort auf eine Motion der St. Galler Kirche, 2016 überwiesen, hatte eine Arbeitsgruppe ein Papier erstellt, in dem sie bei Reformierten unvereinbare Positionen zur Ehe feststellte und für einen respektvollen Dialog plädierte. Der Rat des Kirchenbunds übernahm im Frühling diese Vorschläge.
Das Papier wurde im Juni von SEK-Abgeordneten kritisiert, auch die vom Rat bezogene Position. Auf Antrag des Zürcher Kirchenratspräsidenten Michel Müller nahmen die Abgeordneten nur wenige Sätze daraus an, namentlich die Aussage, auch in homosexueller Lebensweise komme «geschöpfliche Fülle» zum Ausdruck. In seiner Vernehmlassungsantwort im Juli ersuchte der Rat des Kirchenbunds den Bund um Verständnis dafür, dass es in den reformierten Kirchen verschiedene Ansichten gebe und manche von ihnen sich noch in einem Klärungsprozess befänden.
Oberflächliche Debatte
Ratspräsident Gottfried Locher gab jedoch im August ein Tamedia-Interview. Darin riet er den Reformierten, Ehe-Rechte für gleichgeschlechtliche Paare und ihre kirchliche Trauung eindeutig zu befürworten. Zur Begründung behauptete Locher einen «neuen gesellschaftlichen Konsens».
Der Rat des Kirchenbunds folgte diesem Positionsbezug Ende August mit vier Anträgen. Drei von ihnen fanden Anfang November die Zustimmung der Abgeordneten. Mit einer Vier-Fünftel-Mehrheit bejahten sie nach oberflächlicher Debatte (die Argumente in der Vorlage des Rats wurden nicht gewogen) eine zivilrechtliche Neudefinition der Ehe und die kirchliche Trauung gleichgeschlechtlicher Paare.
Dies geschah trotz schweren Bedenken bibelorientierter Abgeordneter, trotz einem Offenen Brief mit über 6000 Unterschriften und einer theologischen Erklärung von über 200 Pfarrpersonen, die ihr Nein mit Jesu Statement (Matthäus 19,4) begründeten. Neben dieser Erklärung lag im Berner Rathaus ein anderes, von über 400 Pfarrpersonen unterzeichnetes Pro-Statement auf (Sitzungsbericht auf lkf.ch).
Empfehlungen
Den kantonalen Kirchen wurde empfohlen, solche Trauungen zu regeln und dabei die Gewissensfreiheit der Pfarrpersonen zu gewährleisten. Die Kirchenräte setzten in den folgenden Wintersynoden unterschiedliche Akzente. Während der Aargauer und der St. Galler Kirchenratspräsident die Wahrung der Gewissensfreiheit als selbstverständlich hinstellen, wollte der Zürcher Kirchenrat gar nicht mehr von Gewissensfreiheit gesprochen haben, sondern allein von der «Gewissensnot» von Pfarrern, welche homosexuelle Paare nicht zu trauen vermöchten.
Michel Müller betonte, Homosexuelle dürften sich in der Kirche nicht mehr diskriminiert fühlen – andernfalls erwäge der Kirchenrat Sanktionen gegen Amtsträger, Angestellte und Behördenmitglieder.
Austritte?
Die Auseinandersetzung könnte in den reformierten Kirchen zur Marginalisierung des bibelorientierten Flügels führen und – auch darüber hinaus – zahlreiche Austritte provozieren (in Medien war von «Spaltung» die Rede). Verlauf und Ergebnis der Debatte lassen sich auch nehmen als Gradmesser dafür, wie stark sich die Reformierten von medial verstärkten Forderungen einer säkularen Bewegung beeinflussen und bestimmen lassen. Die römisch-katholischen Bischöfe, der Freikirchenverband und der Schweizerische Israelitische Gemeindebund äusserten sich dezidiert anders zur Vorlage; das kümmerte die allermeisten Abgeordneten nicht.
Im Kanton Zürich, einem der Zentren der LGBT-Szene, liessen sich in den letzten zehn Jahren gesamthaft weniger als 25 homosexuelle Paare reformiert segnen. Wenn die Forderung nach Trauungsfeiern für sie die reformierte Agenda dominiert, stellt sich die Frage, wie viel Aufmerksamkeit die Landeskirchen den jungen Hetero-Paaren schenken, wie sie ihnen helfen, ihre Beziehung im Vertrauen auf Gott zu stabilisieren. Defizite in der Arbeit mit Konfirmierten und jungen Erwachsenen sind nicht zu übersehen. Die Zahl der reformierten Trauungen dürfte 2019 weiter gesunken sein.
Aus Kirchenbund wird Kirchengemeinschaft
Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund hat seit 1920 bestanden. An Neujahr 2020 wandelt er sich zur Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS). Nach der Verabschiedung ihrer Verfassung Ende 2018 wollten die Abgeordneten im vergangenen Jahr die Grundlagen für die Leitung der Kirchengemeinschaft legen.
Doch es lagen viele Steine auf dem Weg. Der Tag des SEK wollte im Juni seine Legislaturziele für 2020-2023 erörtert haben. Die SEK-Abgeordneten setzten das Traktandum kurzerhand ab, auf Antrag des Aargauer Kirchenratspräsidenten Christoph Weber-Berg. Im Herbst stellten sie den Entwurf fürs Reglement der neuen nationalen Synode an wichtigen Punkten in Frage; die vorgesehene Bestimmung zum Konsensverfahren etwa wurde gestrichen. In erster Lesung behandelten die Abgeordneten erst 16 von 75 Artikeln.
Kirchliche Werke im Gegenwind
Die Kluft zwischen grossen, finanziell gutgestellten Kantonalkirchen einerseits und kleinen und darbenden Kirchen andererseits war an der letzten Abgeordnetenversammlung offensichtlich. In der Budgetberatung wurden die Mittel für den neuen Web-Auftritt der EKS nicht gesprochen.
Zu reden gaben die Schwierigkeiten der kirchlichen Werke HEKS, Brot für alle, Mission 21 und DM, sich am Spendenmarkt zu positionieren und – bei divergierenden Erwartungen – sinnvoll zu kooperieren (HEKS und Brot für alle verhandeln die Fusion). Im Bereich der Diakonie ist die Vereinfachung der Leitungsstrukturen unter dem Dach des SEK gelungen; gesichert wurden auch die Finanzen für die ansprechende neue Plattform diakonie.ch. Dagegen steht die gewünschte Bündelung im Medienbereich aus.
Karl Barth fürs 21. Jahrhundert!
Dass ein unbekannter Landpfarrer mit einer Römerbrief-Auslegung im Jahr nach dem Ende des 1. Weltkriegs Furore machte, gab hundert Jahre später Anlass für ein Karl-Barth-Jahr (eingeläutet im November 2018, zum 50. Todestag). Publikationen – namentlich eine überzeugende neue Biografie aus der Feder der Zürcher Theologieprofessorin Christiane Tietz – und Veranstaltungen beleuchteten den Weg des streitbaren Theologen und suchten sein Denken auf heutige Fragen zu beziehen. Für den Buchautor Ralf Frisch hat Barths Theologie die beste Zeit noch vor sich.
Globale Verantwortung
Auf nationaler Ebene wurde reformiertes Engagement für die Konzernverantwortungsinitiative mit einer kirchlichen Plattform sichtbar (prominent: Brot für alle). Der Rat des Kirchenbunds unterstützte im September die Forderungen, mit dem Ziel eines griffigen Gegenvorschlags. Der neugewählte Ständerat lehnte allerdings im Dezember Haftungsregeln für Konzerne ab, sodass die Initiative zur Abstimmung kommen dürfte.
Die Aargauer Synode hatte im Juni ein Postulat nicht überwiesen, das den Beitritt der Landeskirche zur kirchlichen Pro-Plattform forderte. In der Diskussion überwogen Bedenken zu den geforderten rechtlichen Instrumenten – und dass die Kirche derart tagespolitisch aktiv werde.
In die Zukunft denken
Der Aargauer Kirchenrat präsentierte im Advent die «Perspektive 2030». Darin figurieren Rahmenkonzepte für Gottesdienst (Ziel: mehr Freiheit der Kirchgemeinden für vielfältige Gottesdienste) und Diakonie. Zudem soll die freie Wahl der Kirchgemeinde ermöglicht werden. (Die Steuersoftware des Kantons wird erlauben, Steuerbeträge direkt der Wahlkirchgemeinde zuzuweisen.) Der Kirchenrat will auch die Wohnsitzpflicht der Pfarrerinnen und Pfarrer überprüfen. Die reformierte und die römisch-katholische Kirche im Aargau führen die Seelsorge im Gesundheitswesen künftig gemeinsam.
Freie Wahl der Kirchgemeinde
Die Synode der Baselbieter Kirche genehmigte im November die totalrevidierte Verfassung. Sie legt den Grundstein für die freie Wahl der Kirchgemeinde und für die Bildung von neuen Kirchgemeinden, etwa durch Fusionen. Die Bestimmung, dass «Kinder evangelisch-reformierter Eltern von Geburt an Mitglied sind» wurde in der zweiten Lesung weggelassen.
Die Neuenburger Kirche, die ohne Kirchensteuern auskommen muss, sucht im «Processus EREN 2023» ihren Auftrag und die sinnvolle Struktur für die nächsten Jahrzehnte zu bestimmen. Die Synodalen wollen neue Ideen entwickeln. Die bisherigen Sparmassnahmen genügen nicht, wie eine Kommission im Dezember darlegte. Die Synode verabschiedete ein Budget mit einem siebenprozentigen Fehlbetrag.
Regionalisierung
Die Bündner Kirche geht nach dem Inkrafttreten der neuen Verfassung Anfang 2019 an die Umsetzung. In Arbeit ist u.a. ein Gesetz über die Kirchenregionen, die statt der bisherigen Kolloquien das «verbindende Glied“ zwischen Kirchgemeinden und Landeskirche sein sollen. Die Autonomie der Gemeinden bleibt gewahrt; sie können den Regionen wesentliche Aufgaben (Koordination von Gottesdiensten, Sozialarbeit, Unterricht etc.) übertragen. Der Evangelische Grosse Rat soll das Gesetz im Juni 2020 beraten. Auch Aufbau und Leben der Kirchgemeinden sollen neu geregelt werden.
Wahlen und Rücktritte
In der Waadt wählte die Synode im Juni den Synodalrat neu. Fünf von sieben Sitzen waren neu zu besetzen; einer von zwei Bisherigen wurde nicht wiedergewählt. In der vorangehenden Amtsperiode hatte der Umgang des Synodalrats mit profilierten Pfarrern zu heftigen, öffentlich ausgetragenen Kontroversen geführt.
Xavier Paillard, der die Conférence des Eglises réformées romandes (CER) präsidiert hatte und als Waadtländer Synodalratspräsident zurückgetreten war, wurde an der CER-Winterversammlung verabschiedet. Neu steht der Waadtländer Pfarrer Jean-Baptiste Lipp der CER vor. Die Synode der Freiburger Kirche bestätigte im Dezember die sieben bisherigen Synodalräte im Amt.
In Zürich schaffte Michel Müller die Wiederwahl als Kirchenratspräsident nach acht Jahren mit einem schlechten Resultat. Er erhielt 67 von 116 gültigen Stimmen. 21 Synodale schrieben andere Namen als die der beiden Gegenkandidaten Gina Schibler (9) und Marcus Maitland (19 Stimmen) auf den Zettel.
Der Berner Landeskirche steht ein Wechsel 2020 bevor. Synodalratspräsident Andreas Zeller erklärte an der Wintersynode seinen Rücktritt auf Ende September. Er wird im Sommer 65.
Das Amt abgegeben hat auf Ende Jahr der Baselbieter Kirchenratspräsident Martin Stingelin. Die Universität Basel verlieh ihm einen Ehrendoktor-Titel. Nachfolger ist Christoph Herrmann. Auf Mitte 2020 kündigte Andreas Thöny, Bündner Kirchenratspräsident, seinen Rücktritt an.
Neue Ära in Bern
Die drei Landeskirchen im Kanton Bern werden im Zug der Einführung des Landeskirchengesetzes auf Neujahr 2020 die Arbeitgeber ihrer 600 Geistlichen. Sie bekommen auch mehr Freiheiten, sie einzusetzen. Der Kanton bezahlt die Pfarrlöhne bis 2025 im bisherigen Umfang.
Die Übergabe wurde im Dezember im Münster gefeiert. Die zuständige Regierungsrätin Evi Allemann sprach von einer «behutsamen Entflechtung». Ein religionspolitisches Monitoring soll einen Überblick über die Religionsszene im Kanton ermöglichen.
Multireligiöses Zürich
In Zürich, wo drei Kirchen und zwei jüdische Gemeinden öffentlich-rechtlich anerkannt sind, machte sich die für Religionsfragen zuständige Regierungsrätin Jacqueline Fehr im September stark für «mehr Klarheit und Verbindlichkeit» im Verhältnis zu muslimischen Verbänden und für intensivere Beziehungen zu ihnen. «Wir lernen einander besser kennen.» Für die islamische Seelsorge in öffentlichen Institutionen lief im Herbst ein zweiter Ausbildungskurs.
Jubiläen
Huldrych Zwinglis Amtsantritt am Grossmünster 1519 wurde in Zürich mit einem «Zwinglijahr» gefeiert. Die Kirche stellte die Frage «Was fehlt, wenn Gott fehlt?» und gab einzelne der 362 Antworten mit gelehrten Texten in einem Büchlein heraus.
Einen farbigen Schlusspunkt setzte am 2. November das Jugendfestival YAY-REFOR-MOTION-DAY, das die Landeskirche gemeinsam mit zwanzig christlichen Jugendverbänden organisiert hatte. 2‘000 Jugendliche nahmen teil. Das Interesse am Reformator ebbte im Jahr nach dem Grosserfolg des Films ab.
Gemeinsam feiern
Feststimmung kam im Kanton Thurgau auf: Am 1. Advent begannen die reformierte und die katholische Kirche ihr 150jähriges Bestehen zu feiern – gemeinsam, in einer festlichen Veranstaltung in der Kartause Ittingen. An vielen Orten bieten Kirchgemeinden und Pfarreien 2020 Glaubenskurse und -foren an. 16 Glaubenskurse stehen zur Auswahl.
Das höchste Jubiläum feierte die Basler Kirche: Das Münster wurde am 11. Oktober 1019 geweiht. Die Kirche richtete das Tausend-Jahr-Jubiläum – von Palmsonntag bis Anfang November – gemeinsam mit anderen Institutionen aus.
Verletzlichkeit und Würde am Lebensende
In den reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn zog sich die Kontroverse über einen Positionsbezug des Synodalrats hin. Dieser hatte der Pfarrschaft im Juni 2018 nahegelegt, Sterbewillige bis ans Ende zu begleiten – auch beim assistierten Suizid. Der Evangelisch-theologische Pfarrverein lehnte dies ab. An einer Tagung des Kantonalen Pfarrvereins diskutierten 100 Personen. Pfr. Michael Graf forderte den Synodalrat auf, sein Papier zurückzunehmen.
Andere Akzente setzt die Aargauer Kirche seit zehn Jahren mit einem mehrstufigen Lehrgang für die Begleitung von Sterbenden und der Koordination dieser Begleitung in den Regionen des Kantons. Im November erhielten 47 Frauen und vier Männer, Fach- und Begleitpersonen, an einer Feier ihre Zertifikate. Zum Thema Trauerbegleitung wurde ein neuer Kurs angeboten.
«Den Weg zu Ende gehen»
Auch die Thurgauer Kirche hat Schulungen durchgeführt. Sie wendet sich gegen die Banalisierung des Suizids und die Versuche, ihn zur «mehr oder weniger normalen Option fürs Lebensende» zu machen. Im Büchlein «Den Weg zu Ende gehen» hat sie theologische, medizinische, ethische und juristische Gesichtspunkte mit Erfahrungen von Angehörigen zusammengebunden. Das 120-seitige Bändchen wurde Ende August in der Kartause Ittingen vorgestellt.
Der Kirchenrat als Herausgeber erinnert eingangs an Dietrich Bonhoeffer, der vor seiner Hinrichtung den Tod als «Beginn des Lebens» bezeichnete und dem Selbstmord entgegenhielt, «dass es über den Menschen einen Gott gibt», der gnädig die Verzweifelten ruft. Wilfried Bührer, Präsident des Kirchenrats, zeigte sich in der Kartause besorgt über die Forderung, Gift solle auch für Lebenssatte zur Verfügung stehen.
Jeder Suizid hinterlässt schwer Betroffene. Die Zürcher Kirchensynode setzte ein Zeichen, indem sie einen kleinen jährlichen Beitrag an den Verein Trauernetz bejahte, der Selbsthilfegruppen aufbaut und begleitet.
Kräftiger kommunizieren
Die St. Galler Kirche bündelte und stärkte ihre Kommunikation. Die Synode beschloss im Juni, dass künftig die Redaktion des von ihr herausgegebenen kantonalen Kirchenboten und die Kommunikationsstelle des Kirchenrats (von 60 auf 130 Prozent aufgestockt) unter einem Dach arbeiten. Die Redaktion der Mitgliederzeitschrift zieht ins Verwaltungsgebäude der Kantonalkirche um. Zudem flexibilisierte die Synode das Rentenalter: Kirchliche Angestellte können fortan mit 65 weiterarbeiten. Die Reglemente der Kirche werden angepasst.
Pfarrstellenabbau
Die meisten Kantonalkirchen müssen aufgrund der Austritte die Zahl ihrer Pfarrstellen vermindern. Die Zürcher Landeskirche führte mit der teilrevidierten Kirchenordnung 2018 einen neuen linearen Zuteilungsmodus ein (grundsätzlich 10 Stellenprozent für 200 Mitglieder, mindestens aber 50 Prozent).
Ende Jahr teilte der Kirchenrat den Gemeinden die Stellenprozente ab Mitte 2020 mit. 27 Kirchgemeinden mit über 1‘000 Mitgliedern müssen mit 20-30 Prozent Minus zurechtkommen, mehrere fusionierte Gemeinden auf dem Land mit 30-60 Prozent Minus. Die grössten Gemeinden (mit Ausnahme der Anfang Jahr gebildeten Riesengemeinde Stadt Zürich) erhalten zusätzliche Stellenprozente.
Quereinsteiger im Dienst
Im August wurden die ersten Theologen ordiniert, die als Quereinsteiger (mit Master-Abschluss) in Zürich und Basel Theologie im Quest-Modus erfolgreich studiert und das Vikariat in einem der Konkordatskantone durchlaufen hatten. Der zweite Quereinsteigerkurs läuft seit 2018; die Verantwortlichen gaben bekannt, dass das Kurzstudium künftig jedes Jahr begonnen werden kann.
Das Konkordat betreibt Werbung fürs Studium, auch an Mittelschulen. Der Berner Synodalratspräsident Andreas Zeller lobte vor der Wintersynode diese Anstrengungen. Er sagte gleichzeitig, dass der zunehmende Pfarrmangel (Spitze der Pensionierungen um 2030) mit den Quereinsteigern im Konkordat und den Absolventen des Berner ITHAKA-Programms nicht behoben werden könne.
Weniger Bibel in der Schule
Ein wichtiges Arbeitsfeld ist der Pfarrschaft in den meisten Kantonen abhanden gekommen: der schulische Religions-Unterricht. Mit dem Lehrplan 21 für die Deutschschweiz hat die Religionskunde den traditionellen, von den Kirchen mitverantworteten und gestalteten Unterricht in zahlreichen – nicht in allen – Kantonen verdrängt. Sind Hindu-Bräuche, muslimische Strömungen und ethische Fragen zu thematisieren, gerät der Reichtum biblischer Geschichten in den Hintergrund.
Angesichts der neuen kantonalen Stundentafeln kritisierte die Interreligiöse Arbeitsgemeinschaft in der Schweiz im Dezember, der vorgesehene Unterricht finde für tausende Kinder kaum statt. Nur drei Kantone gäben dem NMG-Fachbereich, in dem Religion vorkommen soll, die vorgesehene Lektionenzahl.
Theologie erneuern
Um wieder Gewicht in der Gesellschaft zu erlangen, hat die Theologie ihre ureigene Aufgabe, die wichtigsten Fragen des Lebens von Gott her zu beleuchten, neu aufzugreifen. Ein Manifest zur Erneuerung der Theologie wurde im Juni an den sechsten Studientagen in Freiburg vorgestellt. Prof. Miroslav Volf (Yale) erläuterte dafür seine Vision des «guten Lebens», aufgrund des biblischen Bogens vom Paradies zum neuen Jerusalem, in dem Gott selbst bei den Seinen wohnt.
In Christus reicher
Die Kirchgemeinden können trotz den gesellschaftlichen Trends jünger, grösser und in einem geistlichen Sinn reicher werden. Dies unterstrich das Landeskirchen-Forum mit seiner Herbsttagung in Frauenfeld (Bild unten). Eine gesunde Gemeinde-Entwicklung ist laut Prof. Ralph Kunz von der Uni Zürich eine Frucht des Heiligen Geistes. Nüchtern äusserte er, der Volkskirche gehe es – wie den Gletschern – ans Lebendige. Als Strategien für die Zukunft taugten weder Selbstsäkularisierung noch Selbstabschottung noch traditionalistische Selbstbehauptung.
Die Kirche habe vor allem die Aufgabe, das Evangelium intelligent mitzuteilen. Zwischen Verdampfung und Versteinerung gebe es den flüssigen Aggregatszustand; in diesem Raum sei zu arbeiten. Dies setzt, so Kunz, Klärungen voraus: «wer wir als Kirche sind, warum wir Kirche bleiben und wie wir Gemeinden gründen, aufbauen und stärken wollen».