Die Reformierten im Jahr 2018
Nach dem internationalen Reformationsjubiläum 2017 machten die Schweizer Reformierten 2018 weniger Schlagzeilen. Während die säkularen Debatten um Religion im Staat anhielten, schienen sie weitgehend mit sich selbst beschäftigt. Öffentlich wahrgenommen wurde der Protest gegen die Waffenausfuhr in Konfliktländer. – Ein unvollständiger Rückblick fasst anderes zusammen.
Themen: Respekt für Kirchen – und innere Distanz | Tod von Ernst Sieber
Wahlen im Kirchenbund | Schweizer Kirche werden | Reformation kreativ feiern
Personelle Wechsel | Wie viel Kirche im Dorf? | Theologie für Quereinsteiger
Seelsorge bis ans Ende | Konferenzen und Tagungen
Die ersten Pfarrerinnen – Karl Barth | Wandel in den Kirchen | Ist Gott erlebbar?
Die reformierten Landeskirchen sind wichtig fürs soziale Gewebe der Schweiz. Doch ihr Alleinstellungsmerkmal ist nicht der Nutzen, den Staat und Gesellschaft und bestimmte Gruppen aus ihnen ziehen. Es kommt auf die Verkündigung an und das, was sie vermittelt, auslöst und fördert: religiöse Beheimatung und Werte-Orientierung, christliche Lebensgestaltung, Wille zur Gemeinschaft und zum Dienen, Weltverantwortung.
Die Wertschätzung in der Bevölkerung für Leistungen der staatlich gestützten Kirchen und ihre öffentliche Präsenz kontrastiert mit einer verbreiteten Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Botschaft, dem Evangelium. Neu gibt es Versuche zur «Mitgliederpflege» in den Kirchen. Können diese vom Marketing abgeleiteten Bemühungen bei denen fruchten, die der Botschaft der Kirche und ihren Aktivitäten vor Ort fern stehen?
Gott mehr als eine Kraft?
Laut Beobachtern hält die distanzierte Mehrheit der Kirchenmitglieder Gott im Alltag für eine Kraft oder eine ferne letzte Instanz; der Glaube an ein personales Gegenüber, an Christus als Retter und Herr der Geschichte ist geschwunden. Vor den Abgeordneten des Kirchenbunds konstatierte Gottfried Locher im Herbst einen «freundlichen Atheismus»: Gott sei für eine grosse Öffentlichkeit derart bedeutungslos geworden, dass ihn niemand mehr bestreiten müsse. Viele lebten heute selbstverständlich ohne Gott, auch ohne die Frage nach Gott.
So steht institutionelles Christentum im Gegenwind des Zeitgeistes. Dieser bläst unvermindert, obwohl bedenkliche Folgen der Säkularisierung unübersehbar sind: Nach dem Schwinden des Einflusses der Kirchen werden westeuropäische Gesellschaften zusehends von Interessengruppen polarisiert, von Protestbewegungen aufgeschreckt und durch rücksichtslosen Narzissmus irritiert.
Gottfried Lochers Analyse ist beizufügen, dass es antireligiöse Angriffe – oft undifferenziert – weiterhin gibt: Den Kirchen, dem Christentum oder den (monotheistischen) Religionen werden pauschal gesellschaftliche Übel angelastet und ihre Verbannung aus dem öffentlichen Raum gefordert. Die Jusos dachten öffentlich über die Abschaffung von Weihnachten nach; die Freidenker fordern die Abschaffung des Blasphemie-Verbots im Strafgesetzbuch. Dies nachdem Religionskunde und Ethik in den meisten Schulzimmern an die Stelle des christlichen Religionsunterrichts getreten sind.
Der originellste Pfarrer
Im Mai starb Ernst Sieber, der bekannteste Pfarrer der Schweiz, im Alter von 91 Jahren. Er war der stärkste Sympathieträger der Reformierten – gerade weil er ganz anders war, so viele Rollenbilder unterlief. Das von ihm gegründete Sozialwerk wirbt neuerdings auch mit dem Kopf und Hut des Obdachlosenpfarrers, der Bauernschläue und franziskanische Spiritualität, die Kunst der Pointe und herzhaft zupackende Menschlichkeit einzigartig verband. Danke, Ernst Sieber, für die christlichen Glanzlichter im wohlstandsverwöhnten Zürich!
Der andere reformierte Pfarrer, der Schlagzeilen machte, war Gottfried Locher. Nach acht Jahren an der Spitze des SEK stellte sich der Berner erneut zur Wahl. Spät trat die Zürcherin Rita Famos gegen ihn an. Sie tat es nach einer Schmutzkampagne; die erhobenen Vorwürfe wurden von der GPK des Kirchenbunds als haltlos befunden. Zwei Drittel der Abgeordneten des SEK gaben Gottfried Locher ihre Stimme.
Schweizer Kirche werden
Der Kirchenbund wandelt sich zur Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS). Die Abgeordneten brachten die erste Lesung der neuen Verfassung nach harzigem Beginn 2017 mit zahlreichen Änderungsanträgen im April zu Ende; die zweite Lesung folgte im Juni. Die Reformierten der Schweiz (und die Methodisten) wollen nicht nur zusammenarbeiten, sondern Kirchengemeinschaft sein. Dies unterstreichen Präambel und Eingangsartikel der neuen Verfassung, die auch den Bezug zu den altkirchlichen Bekenntnissen und reformierten Bekenntnisschriften enthalten.
Eine bedeutende Neuerung der Verfassung, die auf Anfang 2020 in Kraft tritt, ist die dreigliedrige Leitung (nationale Synode, Rat und Präsidium) mit der Aufgabe, das geistliche Leben in den Kirchen zu fördern. Die grossen Kirchen werden in der Synode stärker vertreten sein als bisher in der Abgeordnetenversammlung. Die EKS kann Handlungsfelder festlegen und sie mit Kommissionen bearbeiten; eingebunden wird die Konferenz der kantonalen Kirchenpräsidien.
Für den Beitritt zur EKS wird Kandidaten kein Mitgliederminimum abverlangt; neu können sich Kirchen und Gemeinschaften auch mit ihr assoziieren. Nach der Schlussabstimmung im Dezember dankten die Abgeordneten ihrer Präsidentin Claudia Haslebacher mit einer Standing Ovation.
Den Übergang zur EKS wird der Neuenburger Pierre de Salis, bisher Vizepräsident der Abgeordnetenversammlung, leiten. In den Rat wurde nach dem Rücktritt von Daniel de Roche der Murtener Pfarrer Pierre-Philippe Blaser gewählt. Für die Betreuung von Asylsuchenden in Bundeszentren wurde für 2019 ein grösserer Beitrag beschlossen.
Im Rahmen der Vollversammlung der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa GEKE in Basel führten der SEK und die Basler Kirche am Bettag einen «Schweizer Tag» durch; am Festgottesdienst nahmen Bundesrat Ignazio Cassis und Kardinal Kurt Koch teil.
Die Reformation für heute feiern
Die St. Galler Reformierten feierten 500 Jahre Reformation von Ende 2017 bis zum Reformationssonntag 2018. Zum Abschluss fand in Zwinglis Geburtsort Wildhaus ein Festgottesdienst statt, in dem Kirchenratspräsident Martin Schmidt und der Bischof von St. Gallen Markus Büchel mitwirkten. Am Vortag wurde das Pop-Oratorium «Luther» mit einem 300-köpfigen Projektchor in den Olma-Hallen aufgeführt – beide Aufführungen waren ausverkauft.
Unter den rund 200 Veranstaltungen in der Agenda der St. Galler Kirche stach das Refresh Camp hervor: Die Idee eines Rheintaler Jugendarbeiters griff man auf und 340 Jugendliche und Leiter aus allen Ecken der Kantonalkirche verbrachten eine Woche in Kroatien. Eine Première, die als grosses, verrücktes Abenteuer erlebt wurde.
Regionaler Kirchentag
In Zürich lief das Kultur-Festival zum Jubiläum mit diversen Veranstaltungen weiter. Die Reformierten im Zürcher Oberland wagten einen regionalen Kirchentag mit katholischer und freikirchlicher Beteiligung. Der dafür gegründete Verein stellte ein facettenreiches viertägiges Programm zusammen: ökumenische Gottesdienste und Tagzeitengebete, diverse Konzerte, Vorträge und Podien, Sternmarsch und Marktplatz ... Manche erlebten im Horizont-weitenden Miteinander den Duft der christlichen Kirche. Von Gebet getragen, schloss der Grossanlass in Wetzikon dank Sponsoren mit einer schwarzen Null ab.
Wechsel in Kirchenleitungen
Im Synodalrat von Bern-Jura-Solothurn nehmen drei Pfarrpersonen neu Einsitz (Lucien Boder war im Amt verstorben). Martin Stingelin und Frieder Tramer, die Kirchenratspräsidenten von Basel-Land und Schaffhausen, kündigten ihren Rücktritt an. In der Waadtländer Kirche wurde bekannt, dass fünf von sieben Synodalräten ausscheiden, auch der Vorsitzende Xavier Paillard. Der ungeschickte, teils harsche Umgang der Kirchenleitung mit Pfarrern (Kündigungen 2016) gab in der Synode erneut zu reden.
Wie viel Kirche im Dorf?
Die Zürcher Landeskirche war mit der Teilrevision der Kirchenordnung beschäftigt. Sie bringt eine neue, im Grundsatz lineare Pfarrstellenzuteilung (zehn Stellenprozent für 200 Mitglieder, 50 Prozent als Minimum, zusätzliche Prozente für grosse Gemeinden). Die Regelung wird viele Landgemeinden ab 2024 einschneidend treffen. Überdies werden Taufe, Trauung und Abdankung stärker auf Wünsche von Mitgliedern ausgerichtet. Mit der Teilrevision kann die entstehende Stadtkirchgemeinde Zürich, der zwei Quartiergemeinden nicht beitreten, ein Parlament bestellen.
Manche Punkte waren in der Synode umstritten; ein Nein-Komitee stellte sich gegen die Vorlage. In der Volksabstimmung am 23. September gab es in vier Landbezirken über 30 Prozent Nein-Stimmen (insgesamt 76 Prozent Ja).
Theologie für Quereinsteiger
An der Theologischen Fakultät der Uni Bern läuft das ITHAKA-Intensivstudium für Quereinsteiger zum Pfarrberuf. Die ersten Studierenden wie auch Absolventen des von den anderen Deutschschweizer Kirchen angebotenen Quest-Kurses kamen ins Vikariat; ein zweiter Quest-Kurs wurde mit 20 Teilnehmenden gestartet.
Künftig wird das Aufnahmeverfahren für den «Quereinstieg in den reformierten Pfarrberuf» jährlich durchgeführt; es steht Personen mit Master-Abschluss zwischen 30 und 54 Jahren offen. Die im Sommer 2017 eröffnete Haute Ecole de Théologie in St-Légier VD verzeichnete 22 neue Studentinnen und Studenten (total 82).
Printmedien
Der Verein reformiert. feierte das zehnjährige Bestehen der Zeitschrift, die von einer Redaktion in Zürich, Bern, Aarau und Chur für die Reformierten in den vier Kantonen produziert wird. In Zürich wurde beschlossen, das Blatt zur Mitgliederzeitung der Landeskirche zu machen; die Redaktion bleibt unabhängig. Die St. Galler Synode entschied, ihren Kirchenboten und die Kommunikation der Landeskirche enger zu verbinden und die Information auszubauen.
Seelsorge bis ans Ende
Zu reden gab in der Berner Landeskirche ein Papier des Synodalrats zur seelsorglichen Begleitung von Menschen, die assistiert Suizid begehen wollen. Darin wird betont, es gehe nicht nur um die Selbstbestimmung des Menschen (dominant in öffentlichen Debatten), sondern auch um Verantwortung und Solidarität.
Unter den Leitlinien findet sich der Satz: «Pfarrerinnen und Pfarrer sollen Menschen, die sie begleiten, auch im schwierigsten Moment, dem Akt der Selbsttötung, Beistand leisten, wenn diese es wünschen.» Von der Hoffnung auf die Auferstehung und das ewige Leben ist im Papier nicht die Rede. Sowohl das Vorgehen des Synodalrats wie der Inhalt des von drei Professoren formulierten Papiers stiessen auf Kritik.
Die Thurgauer Landeskirche plant eine Schrift «Den Weg zu Ende gehen» herauszugeben. Der Kirchenrat will zum Nachdenken über begleiteten Suizid anregen und Position beziehen.
Die Aargauer Landeskirche, die seit Jahren auf die Stärkung der Palliative Care setzt, verzeichnete einen neuen Rekord in der Ausbildung zu palliativer Begleitung. Mittlerweile sind 250 Personen in 14 regionalen Begleitgruppen im ganzen Kanton unterwegs, um betroffene Personen zu Hause zu betreuen.
Konferenzen und Tagungen
Das Jahr begannen 6‘500 Christinnen und Christen aller Konfessionen an der EXPLO-Konferenz in Luzern mit der Absicht, «Neuland» zu betreten. Gut besucht waren die Freiburger Studientage im Juni, die vom Studienzentrum an der Uni zusammen mit Kirchenbund und Bischofskonferenz organisiert wurden. Sie thematisierten ökumenische Schritte «in Christus – gemeinsam zur Mitte». Prof. Alister McGrath aus Oxford erörterte, wie christliches Weltverständnis und Glaube Zweiflern und Atheisten dargelegt werden können.
Die Synode von mission 21, die Mitte Juni in Aarau tagte, beschäftigte sich mit «Migration, Flucht und Verfolgung». Das Landeskirchen-Forum führte in Winterthur eine Tagung zur Evangelisation («Sollen Steine reden? – Jesus bekannt machen») durch. In Basel wurden die Chancen von Kirchen-Experimenten erörtert; der Erfurter Kirchenrat Thomas Schlegel brachte Erfahrungen aus der Kirche in Mitteldeutschland ein. Nach Weihnachten fanden sich gegen 6‘000 junge Christinnen und Christen in Basel zum PraiseCamp ein, das dem Gebet gewidmet war.
Die ersten Pfarrerinnen – und Karl Barth
In Zürich wurden die ersten Frauen-Ordinationen vor 100 Jahren gefeiert und die Pioniertaten von Rosa Gutknecht und Elise Pfister in Erinnerung gerufen. Im Herbst begann ein Karl-Barth-Gedenkjahr. Der grosse Theologe starb 1968. Christiane Tietz, Dogmatikprofessorin in Zürich, stellte eine neue Biografie vor, in der sie Barths Denkweg und sein Privatleben erhellt.
Wandel in den Kirchen
Die Reformierten im Kanton Luzern nahmen im Dezember mit 65 Prozent Ja-Stimmen das neue Personalgesetz der Landeskirche an. Das Referendumskomitee wollte die Pfarrwahl durch die Kirchgemeindeversammlung beibehalten. Künftig wird der örtliche Kirchenvorstand Pfarrerinnen und Pfarrer einstellen und entlassen.
Der Kanton Basel-Stadt will künftig die Steuern für die vier anerkannten Religionsgemeinschaften erheben. Gegen den Beschluss des Grossen Rats ergriffen im November drei humanistische Organisationen das Referendum. Die nicht auf Rosen gebetteten Basler Reformierten bauen in Bettingen eine neue Kirche.
Die Aargauer Landeskirche stellte auf ein neues gemeinsames Erscheinungsbild um. Sie heisst darin «Reformierte Kirche Aargau». Die Kirchgemeinden im Kanton haben sechs Jahre Zeit, das Erscheinungsbild bei sich einzuführen.
Ist Gott wirklich präsent?
Im Durchgang durch die Ereignisse und Aktivitäten, die dieser lückenhafte Rückblick verzeichnet, bleibt die Frage nach der Relevanz der Kirchen für den Alltag der Menschen. Gottfried Locher benannte in seiner (eingangs erwähnten) Ansprache im Kirchenbund (Video) die Herausforderung: «Ist uns bewusst, wie grundverschieden die Weltbilder sind? Ist Gott nun eine Illusion, eine Projektion des Menschen … – oder ist Gott das Vis-à-vis unseres Gebetes, die heilende Kraft auch dieser Gemeinschaft? … Was gilt: Gott ist tot – oder Christus ist auferstanden von den Toten?»
Die Reformierten, so Locher, müssten sich der Gretchenfrage im Sinn eines authentischen Glaubens stellen: «Wie erfahren wir Gott? Spricht er uns an? Berührt er uns? Tröstet, stärkt und leitet er uns? Wenn er nicht tot ist, wenn er wirklich lebt, wie erleben wir ihn denn unter uns? … Auf die Gottesfrage gibt es nur eine überzeugende Antwort: das Gotteserlebnis – Gott erfahren.»