Die Bibel im Zeitalter der Selbstoptimierung
Heute wird die Bibel weithin mit der Frage gelesen, was sie zur eigenen Lebensführung positiv beiträgt. Mit den Folgen dieser Reduktion und dem Gewichtsverlust der Schrift in Landes- und Freikirchen befasste sich Anfang Dezember das Leiterforum der Schweizerischen Evangelischen Allianz (SEA) im Ländli in Oberägeri.
Von den drei Referenten holte Ralph Kunz, Professor für praktische Theologie in Zürich, am weitesten aus. Was bedeutet der reformatorische Grundsatz sola scriptura im digitalen Zeitalter? Die Reformation des 16. Jahrhunderts war eine auch vom Bildungsideal des Humanismus motivierte Bibellesebewegung. Die Reformatoren betonten mit dem sola scriptura, dass die Bibel allein in Fragen des Heils den Ausschlag gibt. Sie trauten ihr zu, sich selbst auszulegen, und waren überzeugt, in ihr Gottes Reden zu vernehmen.
...und im digitalen Zeitalter?
Ralph Kunz fragte, wie sich diese Grundsätze 500 Jahre später bewähren und was sie für die Lesekultur im digitalen Zeitalter leisten. Die Geschichte des Kämmerers aus Äthiopien (Apostelgeschichte 8) zeigt: Lesen bedarf der Anleitung. «Die Evangelien, die Apostelgeschichte und die Briefe sind allesamt Leseanleitungen, die Schrift geworden sind, aufgeschrieben, damit die Leser die Schrift verstehen.»
Die Reformatoren glaubten, vom Buchdruck fasziniert, das Volk mit Bildung auf die Strasse der Heiligkeit führen zu können. Doch meinten sie bei der Auslegung der Bibel Missverständnisse und radikale Lesarten abwehren zu müssen. «Der radikale Flügel der Reformation gefährdete die Reform; es drohte eine religiöse Überhitzung, die das Ende der Vision bedeuten könnte.» Mit dem Bildungsoptimismus verband sich bald der - gescheiterte - Versuch, das Reich Gottes mit dem Instrumentarium der Kirchenzucht herbeizuzwingen.
Der Schrift viel zutrauen
Den Grundsatz sola scriptura riet Kunz daher als Appell zum vertrauensvollen Lesen der Schrift zu verstehen - gerade im Blick auf die Offenbarungen, die in esoterischen Buchhandlungen zu Hauf feilgeboten werden: Die Bibel genügt; ihre Tiefe und Weite ist nicht auszuschöpfen. «Alles, was Du zur Seligkeit wissen musst, steht da drin.» Der Zürcher Theologieprofessor erinnerte an die von Zwingli eingerichtete Theologenschule Prophezey, in der die Bibel übersetzt wurde. Vor der Arbeit kam das Gebet: «Allmächtiger, ewiger und barmherziger Gott, dessen Wort eine Leuchte ist für unsere Füsse und ein Licht auf unseren Wegen, öffne und erleuchte unsere Herzen, auf dass wir deine Worte lauter und rein verstehen und uns umwandeln lassen zu dem, was wir richtig verstanden haben, durch Jesus Christus, unseren Herren. Amen.»
Lassen wir uns von der Bibel lesen?
Kann und soll der Spur der Reformatoren heute gefolgt werden? Ralph Kunz brachte den Schriftsteller und evangelischen Theologen Klaas Huizing ins Spiel, der die Verbalinspiration als «Diktatur des Buchstabens» ablehnt. Es gelte seinen Einwand ernstzunehmen, dass die Bibel so Objekt der Ausleger werde. Huizing ziele daraufhin, dass sich «bei der Lektüre der erlesene Mensch wie im Spiegel selber erkennt... Die Bibel spricht nicht nur; sie liest uns. Sie ist Subjekt und nicht nur ein Objekt.» Kunz folgerte für den Sinn von sola scriptura heute: «Ihre Autorität, Durchsichtigkeit, Vollständigkeit und Wirksamkeit entfaltet sie (die Schrift; Red.) weder als ein Bollwerk der Wahrheit noch als Mausoleum alter Geschichten, aus denen man den Sinn herausoperieren müsste. So wie Christus der Mediator ist, wird die Schrift zum Medium der Begegnung.»
Gottes vielfältiges Reden
Diese Generation ist nicht mehr von Gutenberg fasziniert, sondern von Zuckerberg: Facebook verspricht Begegnungen - und Bücher geraten in den Hintergrund. Doch ist laut Kunz weiterhin von den Reformatoren zu lernen: «die Liebe zur Schrift, die auf Vertrauen und Respekt gründet und das Denken nicht vergisst. Sie traut den Geschichten viel zu, sie traut den Lesern viel zu und sie mutet denen, die übersetzen, einiges zu.»
Der Zürcher Professor wies auf Paul Ricoeur hin, der Gottes Offenbarung in der Bibel auffächerte:
- im prophetischen Diskurs spricht Gott durch den Menschen sein Wort;
- im narrativen Diskurs wird berichtet und bezeugt, wie Gott in der Geschichte wirkt;
- im vorschreibenden Diskurs ruft die Stimme;
- im weisheitlichen Diskurs wird die Grenze der menschlichen Erkenntnis ausgelotet und die Frage nach dem Leiden gestellt;
- im anbetenden Diskurs ruft der Mensch klagend und bittend und lobend nach seinem Gott.
Kunz schloss, er lerne in der Leseschule der Bibel mit jeder Seite ganze neue Seiten des erlesenen Menschen kennen. «Nimm und lies! Und du wirst gewendet werden.»
Nur lesen, was nützt?
Neben Kunz setzten am SEA-Leiterforum zwei freikirchliche Theologen Akzente. Beat Ungricht, leitender Pastor der FEG Winterthur, sprach mit dem Bild der «zerrissenen Bibel» die Tendenz an, bei der die Schrift «scheibchenweise reduziert wird auf das, was für uns heute hilfreich und förderlich ist». Ungricht beobachtet, dass von den unter 30-Jährigen kaum noch jemand regelmässig die Bibel liest. Um die Relevanz der Bibel werde nicht mehr gerungen. Allerdings führt, so Ungricht, der Wunsch nach vertiefter persönlicher Spiritualität zu einem ernsthaften Fragen. Und da beginnen auch Bibelstellen zu sprechen, die von den Kosten der Nachfolge handeln.
Spiegel der Erfahrungen
Matthias Wenk, promovierter Theologe und Pastor der BewegungPlus in Burgdorf, gab Anstösse, wie die Bibel Menschen heute wieder zugänglich gemacht werden kann. Er ging von einem Abschnitt in Hakan Nessers Roman «Mensch ohne Hund» aus. Darin empfiehlt Benita ihrer depressiven Freundin Edda, die Bibel zu lesen. Nicht weil eine von ihnen gläubig ist, sondern weil Benita überzeugt ist, dass ihre Freundin ein Gegenüber braucht, mit dem sie reden kann. Entscheidend sei, die Bibel nicht als Dogmenbuch oder Propagandaschrift zu vermitteln, sondern als eine Sammlung menschlicher Erfahrungen: der Erfahrung, Teil der Schöpfung zu sein, aber auch der Erfahrungen von Hass, Neid, Konkurrenz und Bevorzugung.
Auf die Eigenwirksamkeit vertrauen
Matthias Wenk ermutigte, auf die «Eigenwirksamkeit» der Bibel und auf das Wirken Gottes zu vertrauen. Ihre Worte wirken oft auch ohne Erläuterungen und Kommentare. Lebensnähe sei heute wichtiger als Sachnähe. Die Wahrheit der Bibel werde vor allem in ihrer Verlässlichkeit erkannt. Die Kirchen müssten sich darauf konzentrieren, die Schrift zu bezeugen. Das Ziel für die Hörenden und Lesenden liege in der Teilhabe am Bezeugten. Wenk betonte: «Die biblischen Texte wollen prägen, aber ohne zu manipulieren oder zu infantilisieren.» Die Referate wurden in Arbeitsgruppen vertieft und die Ergebnisse im Plenum ausgetauscht. Dabei stand die Frage im Raum: Wie bleibe ich ein Hörender?
Der Text beruht auf einem Bericht von Fritz Imhof und dem Vortragsmanuskript von Ralph Kunz.