Die Berner Kirche, interreligiös offen
Die reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn unterstreichen ihre interreligiöse Offenheit. Sie haben die Kirchenordnung angepasst und das Verhältnis zu Judentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus in der Broschüre «Begegnung und Dialog der Religionen» dargelegt.
Die Berner Broschüre geht auf einen Vorstoss der positiven Synodefraktion zurück, die das Verhältnis zum Judentum geklärt haben wollte. Der Synode genügte das nicht; sie beschloss 2006, das Verhältnis auch zu anderen Weltreligionen zu bestimmen. Als Ergebnis zweijähriger Arbeit liegt ein Text von 35 Seiten vor. Synodalratspräsident Andreas Zeller bezeichnet die einladend illustrierte Broschüre im Vorwort als "Grundlagendokument", in dem die Beziehungen der Berner Kirche zum Judentum und den anderen Religionsgemeinschaften "sorgfältig reflektiert und formuliert" seien.
Im Bestreben, im Alltag Beziehungen zu fremdreligiösen Menschen aufzubauen und zu pflegen, haben Gruppen der Berner Kirche seit Jahrzehnten diverse Erfahrungen gesammelt. Die Broschüre, redigiert vom langjährigen Ökumene-Verantwortlichen Albert Rieger, spiegelt diesen Erfahrungsreichtum, der in der Schweiz seinesgleichen sucht. Ob die knapp ausgefallenen theologischen Überlegungen den Blick für die "Realität des multireligiösen Zusammenlebens" wirklich schärfen, muss der Leser selbst entscheiden.
"Dialog des Lebens"
Am Beginn der handlichen, illustrierten Broschüre steht ein hoffnungsvoller Appell: Einsatz für Dialog in der Nachbarschaft, "für mehr persönliche Begegnungen und Dialog zwischen den Religionen" ist die "beste Antwort auch auf internationale Konflikte". Die multireligiöse Schweiz verlange nach einem "Dialog des Lebens", im Quartier und in der Schule, am Arbeitsplatz und im Spital. Wenn die öffentlich-rechtliche Anerkennung, dem Judentum gewährt, anderen Religionsgemeinschaften "bisher vorenthalten" werde, sollten die anerkannten Religionsgemeinschaften mit vertrauensbildenden Massnahmen "den ersten Schritt" tun.
Ohne auf die rechtliche Prägung der islamischen Tradition durch die Scharia und ihren umfassenden Anspruch einzugehen (das islamische Gesetz wird nicht erwähnt), behauptet die Broschüre, dass die Religionsfreiheit "im Prinzip eine Gleichbehandlung der Religionsgemeinschaften nahe legt". Integration dürfe nicht mit Assimilation verwechselt werden, sondern heisse "Aushandeln unterschiedlicher Lebensentwürfe und religiöser Prägungen im demokratischen Rechtsstaat". Zur Integration hätten "beide Seiten einen Beitrag zu leisten"; erwähnt wird in der Folge die politische und soziale Akzeptanz Fremder, welche in der "Mehrheitsgesellschaft" zu wachsen habe.
"Überzeugen ohne zu bekehren"
Auf der Linie des Basler Theologieprofessors Reinhold Bernhardt, der 2008 in Bern referieren konnte, werden "Wahrheitsgewissheit und Begegnungsoffenheit" einander zugeordnet. Im interreligiösen Dialog sollen beide Seiten "einander mitteilen, was sie vom innersten Kern ihres Glaubens her bewegt". Dies lasse Vertrauen wachsen; auf seinem Boden "müssen beide Seiten Ansprüche aneinander stellen, müssen versuchen, zu überzeugen ohne zu bekehren". Von ihrer Religion bewegt und überzeugt, sollen alle Seiten freundlich um Wahrheit streiten. Wenn der Streit letztlich nicht zu entscheiden sei (Jesu Anspruch "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" wird verschwiegen), könne er doch "tiefer in die je eigene Glaubensgewissheit hineinziehen".
"Unsere Beziehung im Glauben"
Nach diesen ebenso zuversichtlichen wie fordernden Thesen zur multireligiösen Schweiz legen die Berner Reformierten "unsere Beziehung im Glauben" zu Judentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus knapp auf je 3-4 Seiten dar. Im Abschnitt über den uralten christlichen Antijudaismus wird die Judenfeindschaft bis in Passagen der Evangelien zurückverfolgt. Der Teil schliesst mit der Anmerkung, der theologische Begriff 'Israel' sei "nicht mit dem modernen Staat Israel gleichzusetzen". Das jüdische Volk umfasse "weit mehr jüdische Menschen in der Diaspora". Weitere Aussagen fehlen.
Im Islam-Kapitel, das zu klaren Beziehungen in der 'monotheistischen Familie' beitragen will, wird Wesentliches verschwiegen: dass der Islam Juden wie Christen eine Verfälschung der göttlichen Offenbarung vorwirft und Mohammed seinen Status als letztgültiger Offenbarer eben darin gegeben sah, dass er diese Verfälschung aufhebe und die Menschheit zur ursprünglichen, wahren Offenbarung des Willens Gottes zurückführe. Im Koran kommen biblische Schlüsselgestalten zwar vor, aber - anders als hier dargestellt - reden, leben und glauben sie anders als in der Bibel.
Segen durch Abraham?
Ohne zwischen den Nachkommen Ismaels, des ersten Sohns Abrahams, und der islamischen Religion zu unterscheiden, wird behauptet: "Der Islam gehört... zur Abrahamsgemeinschaft und hat teil an der Segensgeschichte des Abrahambundes - so wie nach neutestamentlichem Zeugnis die Völkerwelt durch Jesus Christus teil hat an der Segensgeschichte dieses Bundes". (Dabei hatte der Apostel Paulus einst klargestellt, dass allein Isaak als Sohn der Verheissung gelten kann. Die Verheissung an die Völker, unter denen die Nachkommen Ismaels ausgezeichnet sind, wird daher "aufgrund des Glaubens an Jesus Christus den Glaubenden zuteil" (Römer 9,7-9; Galater 3,22).)
Die Berner Broschüre nennt neben den "Bereichen der grössten Nähe" von Christentum und Islam auch gründliche Unterschiede: Gott wird im Islam nicht Mensch, sondern vernehmbar im Buch. Jesus ist für Muslime nicht Gottes Sohn. Sie leugnen seine schändliche Hinrichtung am Kreuz. (Dass Christen darin traditionell die Erlösung von der Sklaverei der Sünde und die Versöhnung mit Gott erkennen, wird verschwiegen.) Eigenartig: In diesem Abschnitt, der kirchlichen Stellungnahme zum Islam, wird mehrfach der Koran, aber nie das Neue Testament zitiert.
Bekenntnisse sekundär
Für die Autoren stehen "bekenntnishafte Formulierungen" etwa der altkirchlichen Trinitätslehre "grundsätzlich auch zur Diskussion". Den totalen Anspruch des Islam verschweigen sie nicht: "Der Gotteswille ist dort verwirklicht, wo das private und öffentliche Leben umfassend nach den Vorgaben des Koran gestaltet und geordnet wird". In Europa stehe das staatliche Gesetz über dem religiösen Recht. Daher werde über einen Euro-Islam kontrovers diskutiert.
Brücken in den Osten?
Das Kapitel über die Hindus versucht Verständnis zu wecken für ihre ganz fremde Religiosität. Christen sollten "offen sein für die hinduistische Vision des Lebens", den Hindus aber auch "die wahren Werte des Christentums" wie die Menschenrechte zeigen (nicht: den Glauben bezeugen). Im Blick auf die Ökologie und nicht nur da "geht es darum, die Potentiale der beiden Religionen zu vereinen". Auch im Hinduismus werde Gott (welcher Gott unter den Millionen Göttern?) vorgestellt "als jemand, der zugunsten der Menschheit in die Geschichte eingreift", behauptet die Broschüre. Die Glaubensinhalte werden alle relativiert. Dogmen sind "nichts weiter als Wegweiser. Es ist wichtig, das Ziel zu erreichen und nicht darüber zu diskutieren, welchen Weg man nun dafür nimmt". Die Seiten über den Buddhismus lässt vermuten, dass in Bern kaum interreligiöse Dialoge mit ihnen stattfinden.
Mission: Überzeugungen vertreten
Der zweite Hauptteil der Broschüre bespricht "Themen im interreligiösen Dialog": Mission, speziell "Judenmission" (sie wird grundsätzlich abgelehnt; Dialog soll nicht auf Bekehrung hinzielen), Konversion, gemeinsame Feiern und Gebete, Religionen im öffentlichen Raum und die Nutzung kirchlicher Räume für fremdreligiöse Zwecke.
Zu "Mission" haben die Autoren der Broschüre ein ziemlich vertracktes Verhältnis. Gott ist in der Welt präsent; daher können Christen Menschen anderen Glaubens mit grosser Offenheit begegnen. "Diese Offenheit schliesst aber nicht aus, dass Christinnen und Christen ihre eigene Glaubensüberzeugung vertreten". Zwar heisst es gleich darauf, dass sie nur so als religiöse Gesprächspartner interessant sind - aber zu viel Religion könnte dem alltagsbezogenen Miteinander abträglich sein. Denn "es gab und gibt es Missionspraktiken, die Menschen eher in die Abhängigkeit als die die Freiheit führten und führen".
"Stimme Gottes in den Religionen"?
Angesichts der Tatsache, dass Politiker, Manager und Militärs von 'Mission' reden, sollten Christen nach der Berner Broschüre sehr aufpassen, dass sie nicht bevormunden und vereinnahmen. Mission gelte vielen "als Tabu und als Störfaktor im interreligiösen Gespräch". Der Leser meint zu vernehmen, dass er seinen Glauben nur glaubwürdig vertreten kann, wenn er "für die Stimme Gottes in den Religionen" offen ist. Anders gesagt: "Mission ist durchaus möglich, vorausgesetzt, sie geschehe ohne Zwang: in einer Haltung der Offenheit, die es zulässt, dass auch der Missionierte zum Missionar werden kann".
Konvertiten - Synkretisten
Konversion, der Übertritt zu einer anderen Konfession oder Religionsgemeinschaft, wird eher abstrakt abgehandelt, ohne Erwähnung von Schweizern, die zum Islam konvertieren, und Migranten, die Christen werden. Staaten, auch Familien täten sich schwer mit dem Menschenrecht des Religionswechsels, heisst es. "Soll man einen Menschen der Gefahr religiöser Verirrung und Verwirrung aussetzen"? Doch "als Kirche setzen wir uns dafür ein, dass jeder Mensch seine Religion frei wählen kann".
Geschieht bei interreligiösen Feiern Religionsvermischung? "Stehen die verschiedenen Namen, die angerufen werden, für ein und dieselbe Gotteswirklichkeit oder für verschiedene Götter"? Die Broschüre beantwortet die Fragen nicht und fordert bloss, bei solchen Feiern das Gebet in der eigenen Tradition zu formulieren, nicht "traditionsübergreifend" zu beten. Neben- oder nacheinander, nicht miteinander sollten die Teilnehmenden beten. In der sorgfältigen Vorbereitung müsse "jede Form von Synkretismus oder Proselytismus" ausgeschlossen werden.
Nach dem Christentum drängen nun auch andere Religionen hierzulande in die Öffentlichkeit (dass sich säkular gebende Kräfte diesen Raum dominieren, ist kein Thema in der Broschüre). Christen sollten, meinen die Autoren, an die Frühzeit der Kirche zurückdenken, als diese keine Macht besass. Dies könnte zum Verständnis für heutige Minderheiten beitragen. Die Debatten um Kopftuch und Minarett werden auf die Notwendigkeit der Integration bezogen. Für Minarettgesuche gebe es das Baurecht ...
Kirchen öffnen für Versammlungen Andersgläubiger?
Können andere Religionsgemeinschaften Kirchen nutzen? Die reformierte Theologie, heisst es, unterscheide prinzipiell nicht zwischen geweihten und gewöhnlichen Räumen. Doch will auch das Berner Kirchengesetz, dass die "Würde" kirchlicher Räume gewahrt wird. Grundsätzlich können Gebäude, die einer reformierten Kirchgemeinde des Synodalverbands gehören, "auch anderen Religionsgemeinschaften zur Verfügung gestellt werden". Die Sommersynode 2010 hat die dafür erforderlichen Änderung der Kirchenordnung genehmigt. Dies auf Wunsch des Synodalrats, der im Sinn einer "aktiven Toleranz" dafür einsteht, "dass Religionen in unserer Gesellschaft Raum erhalten, um ihre Religion ungehindert zu praktizieren" (interreligiöse Grundsatzerklärung 2001). Dafür sollten auch Kirchen geöffnet werden.
Die Broschüre schliesst mit Beispielen, wie interreligiöse Fragen gelöst wurden, und Tipps für Kirchgemeinden. Sie sollen Begegnungen organisieren, die "Vielfalt der anderen Religion menschlich erfahrbar machen", vorzugsweise anlässlich von Festen. Sie sollen mit Unterweisungsklassen von Jugendlichen Zentren anderer Religionen besuchen und interreligiöse Gesprächsrunden organisieren.
Kirche für öffentlich praktizierten Islam
Die Sommersynode 2010 hat zum Abschluss des Prozesses, der zur hier besprochenen Broschüre führte, die Kirchenordnung geändert. Artikel 82a lautet neu: "Die Kirchgemeinde ist offen für den theologischen Dialog mit anderen Religionen und die Zusammenarbeit in anderen Lebensbereichen. Der Synodalrat erlässt Empfehlungen zuhanden von Kirchgemeinden, die eine interreligiöse Zusammenarbeit in die Wege leiten möchten".
Die Kirche, so Artikel 154a,"... pflegt den Dialog über Lebensvollzüge und theologische Inhalte mit weiteren Religionen, besonders mit der dritten abrahamitischen Religion, dem Islam. Sie tritt dafür ein, dass Menschen verschiedener Religionen als Einzelne und als Gemeinschaften privat und öffentlich ihre Überzeugungen im Rahmen der bei uns geltenden Rechtsordnung leben und praktizieren können". Artikel 157,5 gibt der Berner Kirche den Einsatz für Verfolgte auf: "Sie setzt sich für die Achtung der Glaubens- und Gewissensfreiheit ein und handelt solidarisch mit Kirchen und Christen, die um ihres Zeugnisses willen bedrängt und verfolgt werden".
Die Broschüre «Begegnung und Dialog der Religionen»
Thesen zum Dialog der Religionen aus der LKF-Tagung vom 6. Juni 2009 in Bern
EKD-Handreichung «Klarheit und gute Nachbarschaft. Christen und Muslime in Deutschland»