Das Menschenbild: Neurowissenschaften und Theologie

Was ist der Mensch? Zu dieser Fragestellung fand am 9. April ein Studientag der christlichen Studierendenbewegung VBG statt. Beim Anlass an der Universität Zürich sprachen der Neurowissenschaftler William Newsome von der Stanford University und der Schweizer Theologe Christian Gfeller. Newsome verwies auf das jüdisch-biblische Denken, das den Menschen als eine psychosomatische Einheit sieht.

«Der Mensch ist ein materielles Wesen», betonte William Newsome in seinem Grundlagenreferat. Der Professor für Neurobiologie und Psychologie leitet das Institut für Neurowissenschaft der Universität Stanford. Er besuchte die Schweiz im Rahmen einer durch die Templeton-Stiftung ermöglichten Vortragstournee der VBG. Der Studientag mit rund 120 Personen bildete den Abschluss seines Aufenthalts.

Der Bauch entscheidet mit
Alle Aspekte unseres Bewusstseins und unserer Identität seien verbunden mit der Biologie des Hirns, erklärte Newsome. Ein Grundsatz seiner Forschung sei, dass jedes veränderte Verhalten eines Menschen mit einer Veränderung des Gehirns einher gehe. «Wenn wir Entscheidungen treffen, dann geschieht dies immer aus einem Zusammenspiel verschiedener Impulse.»

Dazu gehören «höhere» Einflüsse wie etwa moralisch-rationale Überzeugungen, aber auch «tiefere» wie Angst, Aggression, körperliche Störungen oder Müdigkeit. Eine Studie zeigte beispielsweise, dass Richter einem Gesuch um Bewährung viel eher stattgaben, wenn sie gerade eine Pause gemacht oder gegessen hatten (Danziger, Levav & Avnaim-Pesso, 2011).

«Keine immaterielle Seele»
Die biologische Sichtweise präge auch seinen christlichen Glauben, führte Newsome weiter aus. «Ich glaube nicht an an eine immaterielle Seele, die in unserem materiellen Körper lebt. Eine solche Seele müsste ja an einer bestimmten Stelle mit dem Körper kommunizieren können, und dafür gibt es keine Hinweise.»

Die Reduktion auf das Materielle sei für ihn aber nicht mit einer Ideologie verbunden, führte der Referent aus: «Wenn wir etwas reduzieren und so den zugrunde liegenden Mechanismus verstehen, dann ist dieses Verständnis nicht tiefer oder besser als die primäre Erfahrung.» Er sehe in seinem Ansatz auch keinen Widerspruch zur Botschaft der Bibel, meinte Newsome mit Verweis auf ein Buch der christlichen Philosophin Nancey Murphy: «Das jüdisch-biblische Denken unterscheidet nicht zwischen Seele und Körper, sondern sieht eine einzige psychosomatische Einheit.»

«Fabrikation von Identität»
Im zweiten Referat des Studientages brachte der Theologe Christian Gfeller das Wesen des Menschen mit dem gesellschaftlichen Umfeld in Verbindung. «Wer wir sind, wird nicht im luftleeren Raum geprägt, sondern durch eine Gesellschaft und ein Verknüpft-Sein in Beziehungen», erklärte Gfeller. Die treibende Kraft unserer Gesellschaft sei aber die «Fabrikation von kollektiver und Individueller Identität».

Der christliche Glaube biete einen Ausweg aus dem nie abgeschlossenen Kreislauf der Identitätsverwirklichung. «In Jesus Christus kommen beide Aspekte des menschlichen Wesens zusammen», betonte Gfeller, «nämlich das Allgemeine und Verbindende mit dem Besonderen und Einzigartigen.»

Am Nachmittag fanden Workshops zur praxisbezogenen Vertiefung statt, etwa über Selbstbild und persönliche Identität, Apologetik und Gespräche mit Skeptikern, oder über das Menschenbild im Schulunterricht. «Wir möchten auf wertschätzende Art und Weise eine christliche Perspektive in unser Umfeld einzubringen, sei es im Hochschul-Alltag, im Klassenzimmer oder in der grösseren gesellschaftlichen und kirchlichen Sphäre», erklärte VBG-Leiter Christoph Egeler die Zielsetzung des Studientags.

Die Referate als Videos  
Buchtipp:
Nancey Murphy, Bodies and Souls, or Spirited Bodies?
Cambridge University Press, 2006

Bericht: Jonas Bärtschi    Bilder: © VBG/Raphael Ammann