Das Christentum, die Religionen und das säkulare Europa
Wie gehen die alten Kirchen Europas in die Zukunft - mit Hoffnung oder anhand von Prognosen? Geben Demografie und Religionssoziologie den Ausschlag, ergibt sich ein durchzogenes oder düsteres Bild, wie eine Tagung in Rüti im Zürcher Oberland zeigte. Die Bibel gibt Grund zur Zuversicht für die Zukunft, in der Religionen unabsehbar auf die Gesellschaften einwirken werden.
Die Jubiläumstage zum 50-jährigen Bestehen der Evangelischen Informationsstelle Kirchen-Sekten-Religionen am 8./9. November in der Kirche von Rüti im Zürcher Oberland waren der Zukunft von Kirchen und Religionen gewidmet. Der langjährige Leiter der Informationsstelle Georg Schmid wagte einige Jahrzehnte vorauszublicken. Dabei betonte er, Trends und mögliche Entwicklungen seien zu unterscheiden. Und: "Wenn in der religiösen Welt ein Trend zu lange bestimmend ist, provoziert er in der Regel die gegenläufige Entwicklung".
Evangelikale und Muslime
Schmid vermutet, dass evangelikales Christentum und Islam sich bis zur Mitte des Jahrhunderts als die dynamischsten Religionsgemeinschaften weltweit erweisen. Der Pfarrer und Religionswissenschaftler stellte der "Kirchenmüdigkeit" in Mitteleuropa, die mancherorts zur Religionsmüdigkeit werde, die Entwicklung anderer Gesellschaften im globalen Süden gegenüber. Dort scheine ein charismatisch geprägtes Christentum den existentiellen Bedürfnissen der Menschen in der Moderne zu entsprechen. Erfahren werde da der "Gott, der sich kümmert", Vergebung und Neubeginn und eine Freiheit, die in der angestammten Religion (Priesterhierarchien, Frauenverachtung, Magie, Mythen) fehle. Aber auch im stark säkularisierten Frankreich werde alle zehn Tage eine neue christliche Gemeinde gegründet.
Mehr Zweifel im Schatten Mohammeds
In der von Mohammeds Religion geprägten Weltgegend nimmt Schmid sowohl Re- als auch De-Islamisierung wahr. Letztere sei zwar weniger augenfällig, doch die zunehmende Bildung von Mädchen und Frauen und die Frustrationen über misslungene Revolutionen führe bei Muslimen selbst zu einem "Verlust der Evidenz des eigenen Glaubens". In Europa nähere sich ihre Geburtenrate jener der eingesessenen Bevölkerung an; der Bevölkerungsanteil dürfte bis 2030 auf 8 Prozent steigen. "In der Moderne angekommen ist der Islam erst, wenn er auch die Möglichkeit zur Selbstkritik bejaht".
Buddhismus light
Zum westlichen Flirt mit dem Buddhismus äusserte Georg Schmid, die Lehre des Buddha spreche in ihrer Urform Eliten an. Für die meisten sei er indes "keine neue religiöse Option, sondern eine Weise, autoritätsfern, sich selbst verwirklichend zu glauben". Der Buddhismus komme der Liebe zur Selbstverwirklichung entgegen. "Man lässt sich faszinieren, ansprechen, anleiten, aber nicht einbinden". Kommt dazu, was hier kaum wahrgenommen wird - Schmid zitierte einen Lama: Auf jeden Christen im Westen, der Buddhist wird, kommen zehn Buddhisten, die Christen werden. In Asien, betonte Schmid, ist von Religionsmüdigkeit nichts zu spüren; dies zeigen tausende neue Tempel und Pagoden, finanziert von Menschen, die ihr Karma aufzubessern hoffen. Zugespitzt: "Der Westen wird östlicher und säkularer, der Osten und der Süden christlicher".
Bewirken Atheisten das Gegenteil?
Das Christentum wird im Westen von Atheisten angeschwärzt. Doch laut Georg Schmid "verliert das Unbedingte nichts durch vermehrte Kenntnis des Bedingten". Wenn man sich den Gedanken der Atheisten lange aussetze, wachse die Lust am Glauben. Fundamentalismus sei eine nachvollziehbare Reaktion auf die Moderne: "Je stärker der Fortschritt, desto mehr werden Menschen in traditionelle Bilder eintauchen". Der langjährige Beobachter der religiösen Szene erhofft für Europa eine spätmoderne Gestalt des Christentums, in der Nachfolge und kritisches Denken sich miteinander verschränken - "dass uns eine neue Mitte geschenkt werden wird".
Prognosen vs. Apokalyptik
Die Veranstalter gaben dem Theologen und Autor Wolfgang Bittner wie auch dem Zürcher Journalisten und Sektenberater Hugo Stamm Gelegenheit, ihre Perspektive darzulegen. Stamm skizzierte eine dramatische Erosion von Glauben und religiöser Lebenspraxis, mit der ein Wildwuchs von problematischen weltanschaulichen Bewegungen und ein unübersichtlicher religiöser Markt einhergehen. Die Menschen wollten sich Gott selbst ausmalen. "Die Hölle brauchen wir nicht - die Klimaerwärmung erleben wir schon hier". Bei den protestantischen Kirchen dreht sich laut dem agnostischen Blogger die Abwärtsspirale noch schneller; sie seien Opfer ihrer eigenen Strategie, die Emanzipation und geistige Mündigkeit ihrer Mitglieder zu fördern. "Setzt sich der Zweifel einmal fest, wird es eng für die Kirchen".
Nach Hugo Stamms Ansicht werden die Jungen über das Schicksal der Kirchen entscheiden - und sie werden ihre Kinder nicht in die Kirche begleiten. "Grosskirchen werden kaum ein Mittel gegen die Säkularisierung finden. Das Hoffen auf die Gnade Gottes lastet auf dem Gemüt und behindert die Leichtigkeit des Seins". Dass Religion mehr in den Medien vorkomme, schreibt Hugo Stamm den neueren Konflikten zu. Das öffentliche Interesse an Religion dürfe nicht mit Religion selbst verwechselt werden.
Miteinander verwickelt - bis zur Ernte
Wie denkt man über Zukunft aufgrund der Bibel? Für Wolfgang Bittner ist in der vielfältigen christlichen Tradition ein gemeinsamer Bezugspunkt zu finden, "der grösser ist als das, was jeder Teilnehmer mitbringt". Der Theologe verwies auf Abram, dessen Erwählung durch Gott auf den Segen für die Völker zielte. So hat heute "die Kirche einen Auftrag gegenüber den Religionen - die Religionen aber keinen gegenüber der Kirche". Wolfgang Bittner griff, um eine Theologie der Geschichte zu entwerfen, auf die biblische Apokalyptik zurück. Diese sei von der Kirche zu ihrem eigenen Schaden an den Rand gedrängt worden.
Im Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen zeichnete Jesus die Geschichte als einen Wachstumsprozess, in dem sich der Unterschied zwischen den Pflanzen schon zeigt und an dessen Ende die Ernte, das Gericht Gottes steht. Gericht: "Diesen Begriff wird man nicht ablösen können - man kann nur versuchen, ihn zu verstehen". Wolfgang Bittner wies darauf hin, dass die Menschen des Alten Testaments unter der Ausweglosigkeit des Unrechts litten und auf das Gericht warteten: "Wenn Sie den Gedanken des Gerichts abschaffen wollen - dann wird das Unrecht das letzte und einzige Wort behalten". Mit Jesus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, könne es gelingen, "dass die Rede vom Gericht Teil des Evangeliums ist". Denn, so Bittner," wir hoffen darauf und glauben es ihm, dass das Letzte die Liebe ist".
Spirituellen Hunger wahrnehmen
Zum Abschluss der Tagung erörterte ein grosses Podium Zukunftsperspektiven. Die Nonne Hokyo Judith Morales von der Schweizerischen Buddhistischen Union sprach sich gegen Vermischung und Verwässerung der Religionen aus. Der Zürcher Kirchenratspräsident Michel Müller meinte, die reformatorischen Grundaussagen (solus/sola) könnten gerade Kirchenferne neu interessieren. Der Rapperswiler Freikirchenpastor René Christen rief dazu auf, nicht zu resignieren. Er nehme einen grossen Hunger wahr. Die Neuapostolen versuchen laut Apostel Volker Kühnle ihre "Vorstellungen verstärkt in das christliche Bewusstsein einzubringen". Die Kirchen müssten mit der Zeit gehen und dabei auf Gottes Gnade vertrauen.
Offen und standfest
Reinhard Hempelmann, Leiter der EKD-Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin, rät den Kirchen zu einem Weg zwischen Fundamentalismus und Relativismus. Offenheit und Dialogfähigkeit seien mit Standfestigkeit zu verbinden und die eigene Glaubensperspektive zurückzugewinnen. Der katholische Theologe Rolf Weibel präzisierte, nicht die Volkskirchlichkeit komme an ihr Ende, sondern "die meist unreflektierte Herkunftsreligiosität". Der aktuelle spirituelle Drang nach Unmittelbarkeit gehe an heiligen Texten und religiösen Traditionen vorbei. "Da läuft man in eine ungewisse Zukunft".
Wer ist einseitig?
Hugo Stamm äusserte die Befürchtung, dass religiöse Pluralität vermehrt in ein magisches Denken führt. Kirchenvertreter nähmen eine "verdammt einseitige Optik ein" und sähen nicht, wo andere stehen. Wolfgang Bittner hielt dagegen fest, eine eigene Position sei der Anfang des Gesprächs, die Einladung - und nicht sein Ende. Georg Schmid fand Stamms Perspektive mitteleuropäisch verengt. In anderen Weltteilen florierten das Christentum und andere Religionen. Stamm meinte hingegen, mit der Zeit würden auch sie in der säkularen Moderne ankommen. Worauf Michel Müller ihn daran erinnerte, dass er sich nicht als Prophet verstehe.
Georg Schmid betonte noch einmal: "Du kannst Religiosität nicht aus Indien und Südostasien wegschlecken wie aus der DDR". Laut Müller trauen die Reformierten ihren Glaubensinhalten zu wenig zu. Hempelmann rät den Kirchen, der Kinder- und Jugendarbeit mehr Bedeutung zu geben. Die Erwachsenen müssten den Kindern wieder mehr die Urgeschichten der Bibel erzählen, schloss Bittner an. Was Stamm nicht stehen liess: "Wie sollen sie Kindern von Jesus erzählen, wenn sie die Geschichte selbst nicht kennen"?
Religion als Psychotherapie
Am Vortag hatten führende Vertreter der Neuapostolischen Kirche über deren Entwicklung Auskunft gegeben und Georg Otto Schmid auf die 50 Jahre der Informationsstelle zurückgeblickt. Am Abend hielt der Ex-Katholik Eugen Drewermann sein Plädoyer für einen undogmatischen Glauben ohne Angst und Zwang. "Kirche ist nicht dafür da, mächtig zu sein oder die Macht zu erhalten, sondern die heilende Dimension den Menschen zu bringen". Dies sei sie ihnen zu lange schuldig geblieben und habe stattdessen den Mächtigen genützt. In freier Rede über fast 100 Minuten legte der 73-jährige Theologe und Psychotherapeut dar, was eine symbolische Auslegung der Bibel für sein Verständnis des Christseins hergibt. Es gelte Menschen umfassend zu verstehen, aufs Urteilen zu verzichten und zu verzeihen.
Drewermann zitierte Luther sinngemäss: "Denn alle Gesetze können dir nur sagen, was du tun sollst. Sie geben dir aber nicht die Kraft dazu". Für Jesus sei es unglaublich gewesen, "dass man sich auf Gott beruft, um über Menschen zu herrschen". Das Eigentliche des Christentums liegt laut Drewermann darin, "Menschen akzeptieren zu wollen in einer unbedingten Zuwendung". Es schaffe als einzigartige Religion der Erlösung im Menschen die Voraussetzungen, "dass er überhaupt tun kann, was er soll". So könne er mit sich selbst identisch werden, gegen alle Zwänge und Verzweckungen.