Der Glaube an Gott und die Freiheit des Westens

«Nur von Gott zu hören, ist unzureichend, wenn man sich nicht selbst im Bezug auf Gott im Leben orientieren kann.» Ingolf U. Dalferth erweist in einem gewichtigen Buch den Wert der Theologie angesichts liberaler Fiktionen und der Gefährdung der westlichen Demokratien. Ohne Achtung der Menschen- und Bürgerrechte führen identitätspolitische Ansätze zur Entsolidarisierung.


Die Bücher, welche Probleme des demokratischen Staats und der spätmodernen Gesellschaften aus theologischer Warte grundsätzlich durchleuchten, sind nicht zahlreich. Ingolf U. Dalferth fügt in seinem in der Pandemie geschriebenen Buch «Die Krise der öffentlichen Vernunft. Über Demokratie, Urteilskraft und Gott» Erwägungen der Rechts-, Staats- und Religionsphilosophie wie der Theologie zu einem eindringlichen Ganzen.

In Gedankengängen, deren Bezug zu aktuellen (Verfalls-)Tendenzen ständig aufblitzt, weist er auf, dass es ohne Theologie, ohne Gott, nicht geht. Der Religionsphilosoph, bis 2013 Professor in Zürich, sorgt sich um Deutschland. Auch für die Schweiz, wo Ideologen nicht so fausten können wie derzeit in Berlin, sind seine Beobachtungen anregend, die Thesen bedeutsam, die Argumente lehrreich. Hier sind Gedankengänge des 330-seitigen Buchs zusammengefasst, namentlich des ersten Teils.

Orientierungskrisen
Der Autor sieht die «Krise der deliberativen Demokratie» unter anderem im «Verlust der Akzeptanz durch die Bevölkerung» (Seite 17) und im Hyperindividualismus, der «Freiheit zum Willkürrecht eines jeden verkürzt» (20). Die Gesellschaft ist unübersichtlich geworden. Man weiss jetzt, schreibt Dalferth, «dass man in einer anderen Welt lebt als andere und weiss nicht, worauf man sich verlassen kann und wie es weitergehen wird» (28).

Musée d‘Orsay, Paris

Die Grundgefährdung der unübersichtlich ausdifferenzierten Gesellschaft ist «der Abbruch der Kommunikation» (24). Der Autor meint: «Wer heute nicht viele Sprachen – die Sprachen vieler Sphären und Milieus – spricht, der kann sich auch in seiner eigenen Sprache kaum noch verständlich machen» (31). Er beklagt den zunehmenden Dogmatismus (33), der andere Positionen pauschal negiert; Orientierungskrisen treten gehäuft auf und fragmentieren die Gesellschaft (35).

Scharf wendet sich Dalferth gegen «Gender-Dekonstruktivismus» (43) und Transhumanismus. «Man ist nicht mehr Mensch oder weniger, wenn man ein bestimmtes Geschlecht, eine bestimmte Hautfarbe … hat» (37). Unterscheidungen, die keine bessere Sachorientierung erbringen, sind schlicht überflüssig (38). «Der Kampf gegen gesellschaftliche Diskriminierung führt nicht zu deren Ende, sondern zu subtilen und offenen Formen der Gegendiskriminierung» (43). Der Autor bemerkt: «… der Wunsch nach Freiheit wird umso unersättlicher, je grösser die Freiheit ist …» (44).

Ausbeutung und Abhängigkeit in der virtuellen Welt
Kompliziert wird alles durch die neue virtuelle Welt. «Die grösseren Möglichkeiten der Kommunikation sind nur zu haben um den Preis einer Verwicklung in ökonomische Ausbeutung und politische Abhängigkeit» (39). Erlaubte die Moderne neben der öffentlichen Welt private Sphären der Entfaltung, lösen sich diese nun zunehmend auf (42).

Ingolf Dalferth plädiert für eine Rückbesinnung auf die Idee der universellen Menschenrechte. «Gelingt es nicht, in den verschiedenen Konfliktfeldern jeweils ein konkretes ‹Drittes› zu entwickeln, das über die blosse Entgegensetzung der gesellschaftlich konkurrierenden Denkweisen hinausführt, weil es für beide Seiten unverzichtbare Relevanz besitzt, werden sich die gegenwärtigen Krisen der Gesellschaft nicht überwinden lassen» (44).

Ingolf U. Dalferth. Bild: Claremont Graduate University.

Feuerbachs Scheuklappen
Die Welt tickt nicht wie das von Feuerbachs und Nietzsches Religionskritik geprägte Mitteleuropa – die Religionen werden durch die Wissenschaften nicht abgelöst, sondern verändern und pluralisieren sich (45ff). Dalferth fordert, dass sich «auch liberal-säkulare Gesellschaften neu ausrichten»; sonst drohen sie selbst «autoritäre Denk- und Lebensregime» zu werden!In der Demokratie, nur in ihr, werden unterschiedliche Meinungen gefördert.

Der nüchterne Religionsphilosoph betont mit Peter Sloterdijk die Kraft der Emotionen: «Der gemeinsame Wille und das Wir der Demokratie ist von Anfang an eine affektive Grösse, ein Mitreissen und Mitgerissenwerden …» (52). Den drohenden Verfall der Demokratie, vor allem hin zur Ochlokratie, «der Herrschaft der Masse, des Mobs oder Pöbels», thematisiert der Autor mehrfach.

Gegen die Verblendung
Was taugt der politische Liberalismus zur Abwehr von Verfallstendenzen? Nach John Rawls und Jürgen Habermas sollen zur gesellschaftlichen Diskussion nur Gründe zugelassen werden, «die von keinem vernünftigen Bürger vernünftigerweise abgelehnt werden können. Alles, was sich nicht in einen rationalen Diskurs ‹übersetzen› lässt, kann in öffentlichen Deliberationen keine Rolle spielen» (59). Faktisch sind dann aus ihnen u.a. religiöse Überzeugungen ausgeschlossen – und auch «lebensweltliche Selbstverständlichkeiten, dass es Mütter und Väter gibt und dass man Familienmitglieder anders behandelt als andere.»

Törichte Jungfrauen, Dom von Erfurt

Für Ingolf Dalferth, der nach seiner Professur in Zürich bis 2020 in Kalifornien lehrte, hat der politische Liberalismus beigetragen zur «identitätspolitischen Regulierung öffentlicher Diskurse …, zu Genderspeak und phobischem Sprachrassismus, Cancel Culture und antikolonialistischem Moralismus», welcher unablässig zu Shitstorms führt (62f). Der Autor fordert: «Das Eintreten für das freie Teilhabenkönnen aller Bürger an den Entscheidungsprozessen muss vielmehr mit einem Engagement gekoppelt werden, die Bürger urteilsfähig und die Menschen eigenverantwortlich zu machen – also in die Lage zu versetzen, Unsinn als Unsinn zu erkennen» (63).

Identitätspolitische Zersplitterung
Der «identitätspolitischen Zersplitterung» widmet Dalferth ein eigenes Kapitel mit ätzender Social-Media-Kritik. Da findet sich der Satz: «Ist das einzige Gemeinsame der Kampf um die eigene Identität, dann gibt es keine defensible differences mehr, sondern nur noch konkurrierende Gruppeninteressen» – was zum Kampf aller gegen alle führt (69). Besorgt notiert der Autor, die Entwicklungen hätten das Potential, «demokratische Regierungsformen überhaupt in Frage zu stellen» (70). #-communities führen dazu, dass Öffentlichkeit nicht mehr der allgemein zugängliche Raum für Diskussionen ist, «sondern ein milieuspezifischer Ort, an dem sich Gleichgesinnte gegenseitig in ihren Ansichten bestärken» (77).

Teenies in Dresden

Im zweiten Teil des Buchs setzt sich der Autor mit Jürgen Habermas auseinander und kritisiert dessen Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit mit dem Ideal des herrschaftsfreien Diskurses als «soziale Fiktion» (78), als zu wenig differenziert (100). «Selbst als normative Zielbestimmung ist öffentliche Vernunft inzwischen fraglich geworden» (89).

Gegen das Homogenisieren von Öffentlichkeit
Der Autor wendet sich gegen das Homogenisieren von Öffentlichkeit, das «Überspielen der Unterschiede zwischen verschiedenen Arten von Öffentlichkeit», infolgedessen nicht mehr beurteilt werden kann, «was in welcher Öffentlichkeit verhandlungsfähig und verhandlungswürdig ist» (92). Er formuliert: «Gesellschaften sind … offene Ensembles von Öffentlichkeiten, die keiner einseitig privilegierten Art von Öffentlichkeit eindeutig unterzuordnen sind» (94). Kultureller Fortschritt bedeutet dann, dass man die Grenzen jeder Sphäre und ihr Angewiesensein auf die anderen erkennt und würdigt (99).

Frankfurter Buchmesse, 2022

«Das schiere Dasein macht mich zum Glied der Gesellschaft, nicht mein Sosein, das mich zum Mitglied der einen oder anderen Gruppe macht» (102). An die Kritik des Kommunitarismus schliesst Dalferth jene der Identitätspolitik an, welche Gruppenrechte behauptet.

Ohne Achtung der Menschen- und Bürgerrechte führen identitätspolitische Ansätze zu einer «fundamentalen Entsolidarisierung der Gesellschaft, weil sie nicht allen Menschen die gleichen Rechte und Pflichen zurechnen. … Sie schaffen nicht konkretere Gemeinschaften, sondern tribalisieren die Gesellschaft, lassen Individuen in Kollektiven aufgehen und treiben Gesellschaften in ein a-soziales Gegeneinander von Positionen, weil jeder nur noch für sich selbst und keiner mehr auch für andere denkt und handelt» (109).

Universitäten brauchen die Gottesfrage
In diesem Zusammenhang wünscht Ingolf Dalferth, dass Universitäten sich auf den kompetenzgeleiteten Diskus konzentrieren (115). Die moderne Suche nach der objektiven, «nackten» Wahrheit sei problematisch. Die Universität müsse «vielmehr zwischen Verkehrung und Verhüllung von Wahrheit unterscheiden und zum kritischen, d.h. unterscheidenden Umgang mit den unverzichtbaren Verhüllungen von Wahrheit anleiten» (119). Der Autor plädiert für universitäre Theologie: «Sie hat ein öffentliches, alle und alles betreffendes Thema: Gottes Wirken in unserer Wirklichkeit und die Auswirkungen seiner Gegenwart in unserem Wahrnehmen und Gestalten von Wirklichkeit» (122).

Blick von der St. Peterskirche über München

Die Theologie erinnert daran, «dass alles, was Menschen tun und lassen, coram deo, in der Öffentlichkeit vor Gott geschieht» (127). Nüchtern bezeichnet der Systematiker diese als «die gegenwärtig wohl umstrittenste Form von Öffentlichkeit» (128). Doch gelte es, auch an der Universität die Lücke für Gott offenzuhalten, welche es erlaubt, «Gott überall am Werk zu sehen, ohne ihn zur Erklärung von allem möglichen oder von irgendetwas zu verharmlosen. Denn Gott erklärt nichts, aber alles impliziert seine Wirklichkeit» (130).

Religiöses aus öffentlichen Debatten verbannt
Im dritten, ebenfalls über 50-seitigen Teil des Buchs untersucht Ingolf Dalferth die Krise der öffentlichen Vernunft in der Auseinandersetzung mit Theoretikern des politischen Liberalismus, namentlich John Rawls. Zwei Sätze: «Der Liberalismus der öffentlichen Vernunft leugnet die Relevanz von Wahrheit, weil er von den Bürgern verlangt, ihre wahren Gründe im öffentlichen Leben geheim zu halten und in der Öffentlichkeit mit vernunftkonformen, aber unehrlichen Gründen zu argumentieren … Man beschränkt sich im öffentlichen Raum auf die Auseinandersetzung mit den üblen Folgen (mancher) religiöser Überzeugungen, aber man verbietet sich die Beschäftigung mit ihnen selbst und damit mit der Wurzel des Übels» (146, 153).

Die Apostel Johannes und Petrus. Bild von Albrecht Dürer. Alte Pinakothek, München

Schwerwiegend ist «die Umstellung von Einsicht auf Gesinnung und von Wissen auf Haltung», sie verändere derzeit die ganze öffentliche Kommunikation – ohne aber den Umgang mit Religion (bisher) zu verändern. Eben dies fordert der Autor, mithin auch, «die von Habermas als Grundzug der Spätmoderne hervorgehobene postmetaphysische Grundsituation der Gesellschaft in Frage (zu) stellen». Er rechnet ab mit Habermas’ Verabsolutierung der postulierten «modernen Konstellation von Glauben und Wissen», seinem Luther-Bild und seiner Weigerung, in einen kritischen Diskurs über Glauben, Vernunft und Gott einzutreten (171).

Gott – Welt – Mensch
Im vierten Teil des Buchs fragt Dalferth, was für Bürger als Menschen gilt. Er sucht in der Auseinandersetzung mit Immanuel Kant und weiteren Denkern «orientierende Urteilskraft» in ihrem Charakter zu bestimmen. Unabdingbar ist «eine lebensweltliche Praxis der Urteilskraft» (189).

Der Autor konkretisiert: «Nur von Gott zu hören, ist unzureichend, wenn man sich nicht selbst im Bezug auf Gott im Leben orientieren kann. Wer nicht in der ersten Person versteht, der wird auch sich selbst, andere, die Welt oder Gott nicht verstehen können» (192).

Öffentlichkeit vor Gott: Das Buch von Ingolf Dalferth

Es geht um ein gemeinsames Verstehen. Dafür «brauchen wir nicht nur Begriffe, sondern Ideen, und nicht nur Werte, sondern kritische Ideale, an denen wir uns gemeinsam orientieren: ein Ideal des Göttlichen für die Beurteilung unseres Gottverstehens; ein Ideal des Weltlichen und der Menschlichkeit fürs Verstehen von Welt und Menschsein (209). «Niemand ist da, ohne in der Welt zu sein, und es gäbe keine Welt ohne Gott. Als Welt wird die Welt erst thematisierbar, wenn sie es für jemand ist, und es gäbe niemand und nichts, wenn Gott nicht wäre» (213).

Gegen Ende seines weitgefächerten Werks, in dem über 400 Anmerkungen die Bezüge zu anderen Denkern erläutern, kommt Dalferth auf das «Dritte» zu sprechen. Der Gegensatz zwischen Ich und Du führt zum Gegeneinander, ausser «indem man sich selbst (Ich bzw. Wir) und die anderen (Du bzw. Ihr) über einen Dritten versteht, von dem her wir beide als Du bzw. Ihr in den Blick kommen» (221). Nur so könne «das Gleiche und das Ungleiche so gleich behandelt werden, dass wichtige Differenzen nicht verwischt, sondern gewürdigt werden» (222).

Bürger – Menschen – Geschöpfe
Die Gleichheit der Bürger gründet im Bezug auf ein (politisches) Drittes; die Gleichheit der Menschen ist von einem anthropologischen Dritten, die Gleichheit der Geschöpfe von einem theologischen Dritten her zu erfassen. Der Autor zeigt, wie das Bewusstsein für das Dritte geschärft werden kann. Dabei setzt er sich mit dem Kosmopolitismus von Martha Nussbaum und der Bereitschaft, die Grenzen für alle zu öffnen, auseinander. «Der anthopologische Kosmopolitismus kann nicht einfach an die Stelle der bürgerlichen Rechtsgleichheit in einem bestimmten Staat treten» (238).

«Macron, hau ab!» Protest in Colmar, Oktober 2022

Gott und Menschenwürde
Selbstverständlich führt dies den systematischen Theologen zur Frage, ob Gott ein solches Drittes sein kann. Er betont gegen den Säkularismus: «Das politische Dritte ist nicht das einzig relevante Dritte in einer Demokratie, und es ist niemals das ultimative Dritte in einer Gesellschaft» (246). Ingolf Dalferth reflektiert das «We the People», die Eingangsworte der US-Verfassung von 1787, und plädiert für ein «inklusives Wir von Geschöpfen, das im Prinzip für alle offen steht, weil es die Endlichkeit, Zerbrechlichkeit und Tiefenpassivität eines jeden Menschen kennt und zum Ausdruck bringt» (252).

Menschen wissen, «dass sie gemeinsam vor einem Dritten stehen, über den keiner von ihnen verfügt und dem jeder Rechenschaft dafür schuldet» – Gott ist laut dem Autor der ultimative Dritte. «Mein Gott kann nur ein Gott sein, der auch der Gott aller anderen ist», hält Dalferth fest (257). Gott (und nicht erfahrbare Gemeinsamkeiten oder Übereinstimmungen) bestimmt unsere Gleichheit in einem fundamentalen Sinn – und garantiert damit auch unsere Würde. «Die Einheit, die sich Gottes Gabe verdankt, ist … dem Konkurrenzverhalten der Menschen enthoben» (277).

Im Frankfurter Messeviertel

Aufgrund dieser Gedanken plädiert der Autor abschliessend für die kritische weltanschauliche Offenheit des Staates – sie sei besser als die «öffentliche Vernunft», welche den Diskurs reguliert.

Gott steht «für die schöpferische Transzendenz, ohne die es keine Immanenz gibt. Man kann das bestreiten oder ignorieren, aber man kann es nur tun in der Gegenwart dessen, den man bestreitet oder ignoriert. Gott ist epistemisch nicht erweisbar, aber existenziell unvermeidlich» (257).

Ingolf U. Dalferth
Die Krise der öffentlichen Vernunft

Über Demokratie, Urteilskraft und Gott
EVA Leipzig, 2022, ISBN 978-3-374-07056-5