Corona, Staat und Zivilreligion
An der Tagung «Kirche und Corona», die am 12. Juni 2021 in Hinwil stattfand, wurde deutliche Kritik an den Corona-Massnahmen des Staats laut. Ein Referent brachte das Erste Gebot vom Sinai gegen säkularen Übermut in Anschlag. Andere dachten über den Weg der Kirchen in der Pandemie nach und betonten den geistlichen Wert der Gottesdienste. In den Gemeinden sollten für künftige Krisen neue Gemeinschaftsformen angedacht und vorbereitet werden.
Zur Tagung in der Kirche von Hinwil im Zürcher Oberland hatte das Netzwerk «Kirche und Corona» eingeladen. Jürg Buchegger, Pfarrer in Frauenfeld, liess zu Beginn seines Vortrags den Lockdown im März 2020 Revue passieren: «Ohne ein Wort des Bedauerns» hätten viele Kirchenleitungen sich der Obrigkeit gefügt und teilweise sogar die Kirchentüren verschlossen. Aus den Heimen wurden die Seelsorger ausgesperrt.
Ende April gingen Baumärkte wieder auf; die Kirchen mussten bis Pfingsten warten. In der zweiten Welle blieben Gottesdienste mit Beschränkungen erlaubt, doch wurde der Gemeindegesang verboten. Vielen sei es verleidet, «sich anmelden zu müssen und mit der Maske eine Stunde stumm in der Kirche zu sitzen».
Buchegger kritisierte das weitgehende Fehlen theologischer Überlegungen seitens der Kirchenleitungen und die Scheu von Pfarrerinnen und Pfarrern, in der Pandemie vom Gekreuzigten und Auferstandenen zu reden. Sie seien «Gesetzeslehrer in Sachen Corona-Massnahmen» geworden, die «das Credo der Gesundheitsreligion nachbeten». Wesentliche geistliche Fragen seien nicht gestellt worden: «Was könnte das Virus zu tun haben mit Gott? Ist Gott gerecht? Straft Gott? Ist Gott zornig? Will Gott unsere Busse, Umkehr, Besinnung? Leben wir in der Endzeit?»
In Gottes Gegenwart
Nach diesen Bemerkungen beschrieb Jürg Buchegger das Wesen des Gottesdienstes gemäss der Bibel: die Versammlung von Christen zum Hören auf Gottes Wort, zu Gebet und Abendmahl und zu gegenseitigem Dienen, geleitet vom Heiligen Geist.
Von Pfingsten an hätten die Christen als jene gegolten, die den Namen des Herrn Jesus gemeinsam anriefen und so den dreieinigen Gott anbeteten. «Es geht zuerst und zuletzt beim Gottesdienst um das Feiern in der Gottesgegenwart, ja um das Einstimmen in den himmlischen Gottesdienst, wo Jesus, das Lamm Gottes, schon jetzt angebetet wird.» Gottesdienst nimmt in der Zeit die Ewigkeit, die universale Anbetung Gottes, vorweg (Offenbarung 7).
Menschlichkeit durch Begegnung mit Gott
Im säkularen Mainstream ist heute laut Buchegger zu bekennen, dass der Mensch seine wahre Menschlichkeit erst in der Begegnung mit Gott, seinem Ursprung, findet. «Wer dem Menschen den Gottesdienst verweigert, nimmt ihm sein Lebenselement.» Der Gottesdienst sei «Ausdruck erfüllter Menschlichkeit», nicht ein Nischenprodukt für ein Milieu.
Die aktuellen Gottesdienste mit Abstand und Maske wie auch digitale Angebote verstärkten das herrschende individualistische Lebensgefühl. Doch: «das einzelne Ich ist eingebettet in das Wir der Gemeinde … Der einzelne Christ droht zu vereinsamen, geistlich auszuhungern, wenn er diese gottesdienstliche Gemeinschaft nicht mehr hat.» Deshalb, so schloss Buchegger, ist dem Gottesdienst nichts vorzuziehen.
«Tyrannei des Wohlstands»
Willi Honegger, Pfarrer in Bauma im Tösstal, konfrontierte die Erfahrungen in der Corona-Zeit mit dem Psalmwort «Öffne mir die Augen, dass ich sehe die Wunder an deinem Gesetz» (Psalm 119,18). Das Virus habe manchem die Augen geöffnet über den wahren Zustand der Welt und Illusionen der Wohlstandsgesellschaft zerstört. «Die Angst vor Wohlstands-Verlust, die kollektive Furcht vor möglichem Tod» habe Regierungen gezwungen, ihre Muskeln spielen zu lassen. Der «Tyrannei des Wohlstands» seien auch sie unterworfen, nicht nur die Einzelnen.
Für Willi Honegger zeigt sich in der Pandemie die Schwäche des 21. Jahrhunderts, das sich selbst überschätzt. Das Psalmwort helfe, der Wahrheit in die Augen zu blicken. Infolge der Säkularisierungsprozesse in den letzten Jahrhunderten hätten die Menschen im Westen sich von ewiger Nahrung abgewandt und sich für Zeitliches, Kleines hingegeben. Dabei sei die Angst vor dem Tod aber nicht kleiner geworden, im Gegenteil. Der Muskel der Hoffnung auf die Ewigkeit sei nicht mehr trainiert worden; nun sei der Muskelschwund zu Tage getreten.
In den Augen Honeggers hat das Virus eine Bresche in die Festungsmauer des säkularen Fortschrittsdenkens geschlagen, welche errichtet wurde, um den Blick auf die unsichtbare Welt zu verwehren. Die umfassende Verletzlichkeit sei eine schwere Kränkung, das Dramatisieren der Pandemie offenbare eine bedenkliche, gleichsam pubertäre Geschichtsvergessenheit.
Der Pfarrer äusserte die Vermutung, die 68er-Generation, welche den Traditionsbruch betrieben habe, stehe nun vor ihrer letzten Wegstrecke und nehme den Menschen auch noch die Zukunft. Er schloss mit der Hoffnung, dass Gott in seiner Gnade in dieser Zeit einen Raum zur Busse schenke.
Alte Wurzeln des eingreifenden Staats
Am Nachmittag stellte Stefan Felber die Corona-Massnahmen in den Horizont des ausgreifenden staatlichen Machtanspruchs im französischen Absolutismus und im Contrat social von Rousseau (für die von ihm postulierte religion civile setzt das Staatsoberhaupt die Glaubenssätze fest).
Felber, Dozent für Altes Testament am TSC auf St. Chrischona, fragte: Wie religiös darf Politik sein? Beim aktuellen Gesetzesprojekt des französischen Präsidenten Macron, gegen den «séparatisme identitaire» gerichtet, werde das Anliegen der Einheit der Bevölkerung und ihrer Loyalität vom Staat mit Zwangsmitteln verfolgt.
«Unterwerfung der Kirchen»
Mit Verweis auf Rod Drehers «Handbuch für christliche Dissidenten» (Live not by Lies, 2020) warnte Stefan Felber vor einem «weichen Totalitarismus». Es gebe auch Faktoren und Strukturen, die nicht vom Staat gewollt würden, welche einen Zug zum Totalitären hätten.
Felber nannte Facetten des Prozesses, durch den der Staat sich die Kirchen unterwerfe: zuerst die Besetzung dessen, was «fortschrittlich» heisst, durch eine kollektivistische Ideologie. Eine mit der Bibel begründete Ablehnung der «Ehe für alle» werde als diskriminierend disqualifiziert und zunehmend kriminalisiert.
Zweitens trügen Urbanisierung, Individualisierung und Distanzierung dazu bei, da einsame, ihren Wurzeln entfremdete Menschen leichter verführbar seien (Hannah Arendt). Auch frei ausgelebte Sexualität trage zur Vereinzelung der Menschen bei.
Weiter erwähnte Felber den ideologischen Umgang mit der Vergangenheit (cancel culture schon bei George Orwell), den Glaubwürdigkeitsverlust ausserstaatlicher und staatlicher Hierarchien und Institutionen, zunehmende Enteignung sowie Überwachung durch Digitalisierung und Bargeldentzug.
Die Zehn Gebote: für Staat und Kirche
Als Prinzip formulierte Stefan Felber, Staat und Kirche müssten voneinander unabhängig bleiben. Laut dem Alttestamentler steht es dem Staat nicht zu, Recht neu zu setzen. Er habe keine Kompetenz in geistlichen Dingen. Es müsse ihm um die Achtung der Zehn Gebote gehen; diese habe die Kirche den Menschen ins Bewusstsein zu rufen – «besonders dort, wo diese die herrschende Zivilreligion in Frage stellen»! Die Kirche kenne aus dem Wort Gottes ausser den säkular Mächtigen den Herrn der Welt, den Herrn aller Herren.
Einen perfekten Ausgleich zwischen Christentum und Politik werde es nie geben, schloss Felber. Doch gerade das spannungsreiche Gegenüber von Staat und Religion sei der wichtigste Garant für individuelle Freiheit. «Überall wo Christentum und Staat aus geschichtlichen Gründen verbunden sind, muss die Kirche ihre biblischen Quellen zur Geltung bringen, nicht sich zivilreligiös reduzieren, um den Staat zu unterstützen.» Sonst werde sie als NGO wahrgenommen. «Wir können der Welt nützlich sein, indem wir ihr Widerstand leisten.»
Die Zeichen der Zeit erkennen und Götzen an den Pranger stellen
Benjamin Kilchör, VDM und Alttestamentler an der STH Basel, forderte die Kirchen in seinem Vortrag auf, nüchterne Denkarbeit zu leisten und die Zeichen der Zeit zu lesen (Jesus in Matthäus 16,3). Sie hätten Gottesdienst und Götzendienst zu unterscheiden – das Erste Gebot – und die aktuell verehrten Götter zu benennen. «Der Glaube an Abgötter macht uns zu Knechten. Wo Gott vergessen oder verworfen wird, betreten andere Götter die Bühne.» Verbleiben im Götzendienst führt ins Gericht.
Benjamin Kilchör urteilte, in der Coronakrise hätten die Kirchen versagt. Er zitierte die Einschätzung des Philosophen Giorgio Agamben, «dass unsere Gesellschaft an nichts mehr glaubt ausser an das nackte Leben» (NZZ, 18.3.2020) und diesem entsprechende Opfer bringe. Kilchör verwies auf «Brave New World» von Aldous Huxley (1932): Die Menschen leben in einem allwissenden, vor allem Übel bewahrenden Staat, der sie zu ihrem Glück hinschubst, wobei die Religion draufgeht. Die Alternative: «Gott, Freiheit, Leiden – oder kein Gott, keine Freiheit, kein Leiden.»
Seinerseits nannte Benjamin Kilchör Kennzeichen totalitären Denkens. Er betonte, im Westen gebe es kein totalitäres System, aber beunruhigende Entwicklungen. Er verwies auf Dietrich Bonhoeffer: Wo innerweltliche, vorletzte Dinge zu letzten erklärt werden, geschieht Ideologisierung. Die Kirche müsse vorletzte und letzte Dinge unterscheiden und die biblische Eschatologie einbringen.
Jesus durchbrach Kontaktschuld
In der Pandemie gingen Menschen auf Distanz; Kontakt konnte schuldig machen: «Wer mit der falschen Person Kontakt hatte, gilt sozial als infiziert und muss isoliert werden.» Doch cancel culture und Kontaktschuld seien nichts Neues, äusserte Kilchör. Jesus habe den Kontakt zu Zachäus gesucht. «Er stellt der Kontaktschuld die Kontakterlösung entgegen». Die Kirche habe den Auftrag, zu den Menschen in Kontakt zu treten, die durch Kontaktschuld und mediales Framing ins Abseits geraten seien, Menschen, gegen die sich die öffentliche Stimmung richte.
Benjamin Kilchör riet den Gemeinden, Konzepte zu entwickeln, um bei künftigen staatlichen Einschränkungen gewappnet zu sein. Sie könnten von der vorkonstantinischen alten Kirche lernen (Treffen in Katakomben, Krankenabendmahl). «Komplettes social distancing widerspricht dem Evangelium.»
Singverbot
Im abschliessenden Podium beantworteten die Referenten, zu denen auch der Beinwiler Arzt Andreas Zurbuchen gehörte, Fragen und formulierten Perspektiven. Stefan Felber bezeichnete staatliche Anordnungen wie das Singverbot als inakzeptabel. Der Staat könne Empfehlungen abgeben; der örtlichen Gemeindeleitung müsse der Beschluss überlassen werden. «Hätten sich viele Gemeinden in mehreren Ländern dem Singverbot widersetzt, wie hätte der Staat reagiert?»
Unter solchen Umständen gelte es für die Kirche, «dem Staat die rote Linie zu zeigen». Jürg Buchegger differenzierte: Beschliesst eine Gemeinde aus Rücksicht auf Schwache, aus Liebe zu ihnen, temporär nicht zu singen, ist das anders, als wenn der Staat es untersagt.
Willi Honegger bedauerte, dass die generelle Beschränkung von gottesdienstlichen Versammlungen auf 50 Teilnehmende (keine Rücksicht auf Raumgrösse) nicht gerichtlich angefochten wurde. Den Kirchen habe der Mut gefehlt.
Schwächen analysieren – Erlaubtes tun
Auf die Frage, wie sich der Auftrag der Kirche und die Rücksicht auf Schwache zueinander verhalten, gab Benjamin Kilchör zu bedenken, es gebe verschiedene Schwache. Andreas Zurbuchen fügte an, es gebe «starrköpfige Schwache». Keine Gemeinde sei gleich wie die andere. Laut Jürg Buchegger war es in grossen Gemeinden schwieriger, einen guten Weg zu finden. «Wir haben die Spielräume nicht ausgelotet.» Gebetskreise hätten sich teilweise aufgelöst, statt durchzuhalten. Er habe das Gespräch über Möglichkeiten vermisst.
Thomas Wohler von der Freien Kirche Uster, der zur Tagung eingeladen hatte, fragte die Referenten, was künftig besser zu machen sei. Andreas Zurbuchen riet, bei Lockerung die Vorgaben nicht überzuerfüllen. Dies geschehe etwa in Altersheimen aus Angst, dass etwas passiere. Benjamin Kilchör wünschte ein flexibleres Denken über gottesdienstliche Versammlungen – damit man verschiedene Formate zur Verfügung hat. Jürg Buchegger konstatierte das Wegbleiben von früheren Kirchgängern. Er wünschte Gespräche in Pfarrkapiteln, Analysen in den Gemeinden. Auch mit den Gemeindegliedern sei darüber zu reden, was zu tun sei, wenn der Staat künftig ins Kirchenleben eingreife.
Die Vorträge ansehen
Landeskirchen im Lockdown (Übersicht auf lkf.ch, April 2020)