Christen als Hoffnungsträger Grossbritanniens
Sind Christen willens und fähig, der säkularen Gesellschaft im Niedergang einen neuen Weg zu Gerechtigkeit und Glück aufzuzeigen? Dave Landrum von der Britischen Evangelischen Allianz gehen die sozialen Missstände unter die Haut. Zugleich sieht er eine historische Chance für die Gläubigen, die an eine bessere Zukunft fürs Land glauben, sich für ihre Mitmenschen einsetzen und die richtige Sprache finden. Manche Gemeinden im Reich der Queen wachsen; ihre Dienste strahlen in einem düsteren Umfeld.
Die Briten brüsten sich damit, seit Jahrhunderten eine der freisten Gesellschaften der Welt zu sein. Doch das religionslose säkulare Denken, im 20. Jahrhundert dominant, führt in die Sackgasse. Premierminister David Cameron hat angesichts der Probleme von einer zerbrochenen Gesellschaft gesprochen. Für Dave Landrum, bei der Britischen Evangelischen Allianz für öffentliche Angelegenheiten (Advocacy) zuständig, ist dies nicht von der Hand zu weisen: "Die menschlichen Beziehungen und das Vertrauen, welche eine Gesellschaft begründen, sind zerbrochen".
"Christen haben Hoffnung"
Die Kommission, die die Innenstadtunruhen von 2011 untersuchte, sprach von 500'000 "verlorenen Familien". Um die Staatsverschuldung zu bremsen, beschneidet die Regierung Cameron den Sozialstaat, spart im Bildungswesen und propagiert die 'Big Society', das vermehrte zivilgesellschaftliche Engagement. Die Missstände im Land bezeichnet Landrum als dramatisch: Jugendkriminalität mit hoher Gewaltbereitschaft, Teenager-Schwangerschaften auf europäischem Rekordniveau. "Es ist wirklich schlimm. Unsere Gesellschaft ist am Zusammenbrechen. Aber wir Christen haben Hoffnung. Denn Jesus hat diese Nation nicht aufgegeben".
Mächtig - und zerbrochen
In der Einschätzung des Sozialwissenschaftlers mit Doktortitel nimmt säkulares Denken noch zu "und ist sehr mächtig, doch ist es paradoxerweise auch zerbrochen. Es hält nicht, was es verspricht. Und die Menschen spüren dies". Ihre wahren Interessen würden von der Politik, die der kleinen liberalen, säkularen, in London konzentrierten Elite zu gefallen suche, nicht aufgenommen. Die Politiker hätten abgehoben.
Säkularer Sonderfall Europa
Der Brite verweist auf den Soziologen Peter L. Berger. Dieser habe seine These von 1967, Religion nehme in der Moderne generell ab, 2004 widerrufen. Landrum ist überzeugt, dass die Welt religiöser wird. "Säkulares Denken und Lebensgefühl (secularism) ist im Rückwärtsgang". Europa stellt die Ausnahme von der Regel dar: "eine Bastion säkularen Humanismus, in der das säkulare ideal nicht nur die Weise, wie wir miteinander umgehen, durchdrungen hat, sondern auch die Eliten bestimmt, die führende Schicht, unsere Kultur". Während der Säkularismus schrumpft, verhärtet sich in Landrums Einschätzung der Kern. "Wir haben nun sehr militante Atheisten, die sich wie Hohepriester des Atheismus gebärden". Denker wie Richard Dawkins und der 2011 verstorbene Christopher Hitchens hätten viele Jünger. "Wenn mehr Menschen sich heute als Atheisten oder Säkularisten identifizieren und so leben wollen, heisst das nicht, dass der Atheismus stärker ist".
Zerfall der Zuversicht
Aus langjährigen Kontakten mit Verantwortungsträgern weiss Landrum: "In der gesamten Politik fehlen die Ideen, wie man die Probleme lösen könnte, die die Gesellschaft belasten". Die Politik sei hyperpragmatisch geworden. "Man agiert in vielen Belangen von Tag zu Tag und sucht den Medien und der öffentlichen Meinung mit politischer Macht zu begegnen". Der Bankrott des Säkularismus zeigt sich dem Allianzvertreter im Zerfall zweier Mythen: "Der eine ist, dass Säkularismus moralisch neutral ist. Das stimmt nicht. Eine säkulare Weltsicht begünstigt offensichtlich bestimmte Gruppen und benachteiligt andere". Säkularismus sei keine einheitliche Bewegung, sondern ein Mix von Anschauungen, die man durchleuchten und kritisieren müsse. Der andere Mythos ist der des Fortschritts, "die Idee, dass heute besser ist als gestern - einfach weil es heute ist. Dieser Mythos bestimmt das säkulare Denken: Er zeigt sich in der Meinung, dass die menschliche Natur gut und zur Vervollkommnung, zum Fortschritt fähig ist". Die Entwicklung der britischen Gesellschaft widerlege diese Annahme.
Eine Sprache reden, die verstanden wird
Während säkulares Denken am Zusammenbrechen ist, wächst die christliche Kirche da und dort in Grossbritannien. "Wir nehmen eine Wende wahr", sagt der erfahrene Beobachter. "Doch massive Herausforderungen stehen vor uns". Christen hätten die Aufgabe, "die Eliten zu überzeugen von einer anderen Realität, einer anderen Zukunft". Zum Teil geschehe dies schon, meint Landrum, aber: "Die grosse Herausforderung für die Kirche in diesem Land - und wohl in Europa - ist, dass wir beim Zerfall des säkularen Traums fähig sein müssen, alternative Lebensweisen und eine andere Wertschätzung für das Zusammenleben der Menschen anzubieten. Dies muss in einer Sprache geschehen, die die Menschen verstehen. So können wir zu einer Gesellschaft gelangen, die christlicher, das heisst: fairer, wahrhaftiger, hoffnungsvoller und barmherziger ist".
Worte und wirksame Taten
Es gilt die Sprache zu verfeinern, so dass Christen, wie Jesus sagte, "klug wie Schlangen und ohne Falsch wie Tauben sind" und dabei tatsächlich etwas bewirken. Wenn Landrum für die Britische Evangelische Allianz Anliegen der Christen in Politik und Gesellschaft vertritt, sucht er alte Fehler zu vermeiden: "Im letzten Jahrhundert begnügten sich die Christen meistens damit, dass sie sich entweder abwandten oder protestierten. Und wenn wir Alternativen boten, waren sie für Menschen, die nicht über biblische Denkvoraussetzungen verfügten, nicht verständlich".
Zwar ist Protest von der Bibel her zu begründen - und auch die desinteressierte Abwendung. "Aber wenn Sie die gesellschaftliche Entwicklung wirklich beeinflussen wollen, müssen sie an den Diskussionen teilnehmen. Sie brauchen Glaubwürdigkeit für Ihre Stimme. Sie können nicht bloss dazwischenrufen oder sich ganz fernhalten". Christen müssten Wege finden, "ihre Augen auf die Probleme zu richten, aber nicht so, dass Trost ausbleibt. Wir müssen die Gesellschaft um uns nicht nur kritisieren, sondern ihr Alternativen aufzeigen".
Wachsende Gemeinden
Landrum sieht im Vereinigten Königreich zahlreiche gute Ansätze dazu: "Wir haben eine Staatskirche und viele kirchliche Schulen. In den letzten 20 Jahren sind charismatisch-evangelikale Gemeinden exponentiell gewachsen in unserem Land. Einheimische Gemeinden wachsen und aus den Ländern, in die wir Missionare aussandten, kommen Missionare nun zu uns. Die Gemeinden der Schwarzen in London sind sehr gross. Sie sind daran, im ganzen Land Gemeinden zu gründen. Unter vielen Gesichtspunkten geht es der Kirche in Grossbritannien besser".
Christen für die Stadt
Vielerorts leisteten Christen an der Basis eine grandiose Arbeit, namentlich in London, sagt Landrum: "Die Kirchen tun so viel für die Menschen, kümmern sich um Arme und Bedürftige, stellen Wohnungen zur Verfügung, betreuen Drogensüchtige
..."Im Wahlkampf um den Posten des Bürgermeisters stellten sich im April die drei Kandidaten - keiner ist bekennender Christ - einer evangelischen Versammlung vor. "Sie erkannten alle an, dass in London ohne seine Christen nichts mehr ginge. Der sozialistische Kandidat Ken Livingstone sagte, er habe mit dem Absterben der Kirche gerechnet - nun sehe er sie aufblühen und rasch wachsen".
"Toxische Kultur" für Kids
Der Allianzmann will nicht wie Cameron von der "broken society" reden. Ihn schmerzt jedoch, dass die Briten ihre Kinder in einer "toxischen Kultur" aufziehen: "Unsere Kinder entwickeln sich in den Familien recht gut - bis sie zehnjährig sind. Dann bricht die Welt mit schädlichen Einflüssen über sie herein. Sie werden verdorben, erleiden Schiffbruch". Bezeichnend ist die Forderung nach den Innenstadtunruhen, Jugendliche müssten vor aggressiver Werbung geschützt werden...
Sturz der Götzen
In Landrums Analyse haben die Briten nach 1945 in der Politik zwei grossen Götzen angehangen: "Der Staat wurde unser Gott, der uns von der Wiege bis zur Bahre umsorgt. Dieses Konzept ist völlig zusammengebrochen - es gründete auf Vollbeschäftigung und zahlreichen unrealistischen Ideen. Darauf hoben wir einen anderen Götzen auf den Sockel: den Markt, den Kapitalismus". Cameron sei ein Verfechter des freien Marktes. Landrum hält dagegen: "Der Staat und der Markt haben ihre Qualitäten, aber sie sind nicht Gott". Nun da die beiden Götzen gefallen seien, wüssten die Menschen nicht, wohin sie gehen sollen. "Es ist wie eine Leere, als ständen sie in einer Wüste. Sie suchen nach etwas - eine grosse Gelegenheit für Christen, im öffentlichen Raum zu sprechen und den Ausweg aus der Wüste, den Weg zu etwas Besserem, zu einer anderen Stadt zu weisen".
Mit der Bibel Demokratie errungen
Dabei können die Briten auf das puritanische Erbe zurückgreifen. 2011 wurde die King James Bible gefeiert, die Grossbritanniens Kultur und staatliche Entwicklung über 400 Jahre segensreich beeinflusst hat. "Es ist die Bibel, die uns all die politischen Freiheiten gewährt, welche wir gern für gesichert nehmen. Die Bibel macht es möglich, dass verschiedene Identitäten nebeneinander existieren". Oliver Cromwell (1599-1658) habe die Bibel auf die politischen Prozesse angewandt und mit der Überwindung der absoluten Monarchie den Weg zur parlamentarischen Demokratie (1689) geebnet, mit rechenschaftspflichtiger Regierung und Beamtenschaft.
Demokratie war in der Antike eine von reichen Griechen erfundene Staatsform. "Am besten funktioniert sie, wenn sie einen christlichen moralischen Einfluss hat. Ohne diesen Einfluss schützt Demokratie die Interessen der Reichen. Demokratie ist angewiesen auf einen in Moral verankerten Diskurs (Austausch von Meinungen und Ansprüchen; Red.), eine lebendige Sprache, welche die Idee der Demokratie nährt und formt und einen Rahmen für Debatten vorgibt".
Freiheit nicht ohne Loyalität
Freiheit braucht Loyalität, Identität und Verpflichtung gegenüber dem Mitmenschen. "Sie können Freiheit nicht ohne Bezug zu Loyalität bestimmen - und umgekehrt. Das sagt die Bibel. Ebenso gilt für die Politik: Gerechtigkeit gibt es nicht ohne Barmherzigkeit, und umgekehrt". In der Vergangenheit hätten die Briten diese biblischen Prinzipien zum Aufbau der Gesellschaft verstanden. "Unsere Gesellschaft war nicht perfekt, aber wir haben vieles richtig gesehen". Der Allianzmann Landrum ist überzeugt: "Jesus ist die Hoffnung der Völker. Wenn Sie Jesus nicht im Diskurs Ihres Landes haben, haben Sie ein grösseres Problem. Das Evangelium macht Völker frei und befähigt Regierungen zum Guten".
Europa braucht das Christentum
Die Europäische Union hat als säkulares Konstrukt für Landrum keine Zukunft - auch wenn man sich dieser Einsicht noch Jahrzehnte verschliessen wollte. "Würde man in der EU zurückblicken auf die Geschichte, das kulturelle Erbe - dann ist da eine gemeinsame sittliche Grundlage, ein Diskurs, der Menschen zusammenbringt. Ich weiss nicht, ob wir noch dahin gelangen".
Die Briten müssen in ihrer Hauptstadt kehren: "Der Kollaps kommt durch Gier in unserem Wirtschaftssystem, Gier auf globaler Ebene. Unser System hat Anreize zur Gier und zur Ausbeutung geschaffen. London ist globales Handelszentrum, die reichste Stadt, welche die Welt gesehen hat: Sie hat mehr Milliardäre, mehr Reichtum und Handel als irgendeine andere Stadt. Hier ist die Gier-Idee entwickelt und verbreitet worden. Und sie blüht weiterhin".
"Das hält keine Gesellschaft aus"
Landrum nennt die Diskrepanz der Einkommen in Grossbritannien obszön - "ein Affront gegen Gott. Einige wenige verdienen Milliarden. So geht das nicht weiter. Dies hält keine Gesellschaft aus". Es sei an den Christen, andere und bessere Wege aufzuzeigen. "Wir müssen tiefer denken und die Visionen deutlicher aussprechen, die wir für die Gesellschaft haben. Wir müssen unsere Sprache anpassen. Wir können nicht ins Parlament gehen mit dem Anspruch: 'So spricht der Herr'! Wir müssen die Menschen abholen, wo sie sind, und mit ihnen unterwegs sein".
Leiter fördern
Landrum ruft in Erinnerung, dass William Wilberforce nicht nur für die Abschaffung der Sklaverei kämpfte, sondern auch für eine Reformation der Manieren, des Verhaltens: eine Erneuerung nachbarschaftlicher Beziehungen und Höherbewertung des sozialen Miteinanders. "Dies muss unsere Stossrichtung sein. Und dafür braucht die Kirche einen langfristigen, strategischen Fokus, um vor Ort und auf nationaler Ebene Leiter hervorzubringen, die über das Denken und die Sprache verfügen, um in die Debatten einzutreten. Da gibt es keine Abkürzung. Gott kann zwar eine Nation an einem Tag grundlegend verändern, aber an einer Leiterschaft auf der Höhe der Zeit muss gearbeitet werden - eine erstrangige Aufgabe für die Kirche". Junge Christen, die öffentlich auftreten, Position beziehen und debattieren könnten, bräuchten Hilfe und Ermutigung auf ihrem Weg. "Hier muss die Kirche sich engagieren".