«Busse tun» im Gottesdienst?
Welchen Platz soll die Busse in reformierten Gottesdiensten haben? Die Arbeitsgemeinschaft für biblisch erneuerte Theologie AfbeT widmete Umkehr und Schuldbekenntnis ihren Studientag am 28. Januar in Aarau. Die Analyse der Bibelstellen und ein Durchgang durch die reformierte Kirchengeschichte führten zu einer Diskussion über das heute Mögliche und Sinnvolle.
Die Organisatoren hatten sich vorgenommen, gemeinsam zu erarbeiten, wie Umkehr die gottesdienstliche Praxis «als Ort des Heils» prägt. Der Neutestamentler PD Dr. Emmanuel Rehfeld, Zeitz, legte im ersten Vortrag biblisch-theologische Erwägungen zum Wesen der «Busse» vor. Er begann mit Luthers These, Jesus habe gewollt, «dass das ganze Leben der Glaubenden Busse sei».
Busspredigt im Neuen Testament
Zwar habe der Bussruf bei den Synoptikern einen durchaus prominenten Platz, sagte Rehfeld, doch aufs Ganze gesehen komme die Thematik im NT weit weniger vor, als man meinen möchte. Umkehr/Busse (gr. metanoia) wird im Neuen Testament fast ausschliesslich Nichtchristen gepredigt; in der Gemeindeunterweisung steht sie nicht im Vordergrund.
So fragte Rehfeld, wie von der zurückliegenden Umkehr und dem gegenwärtigen «Sein in Christus» her das wahrgenommen werden könne, was man «Busse» nennt. Welchen Sinn hat es, von Busse oder Umkehr der Christusgläubigen zu sprechen? Bleibt dabei gewahrt, was Umkehr neutestamentlich bedeutet?
In einer Analyse von metanoia und verwandten Wörtern zeigte Emmanuel Rehfeld auf, dass das Wortfeld im Neuen Testament «eine umfassende Umorientierung der persönlichen Ausrichtung und Gesinnung», Kehrtwende und Umkehr bedeutet. Wiederholt wird zur metanoia zur Vergebung der Sünden aufgerufen. Rehfeld führte ein Dutzend Stellen an, die für die «Umkehr» christusgläubiger Menschen herangezogen werden können, insofern als sie mit metanoia oder einem ähnlichen Wort Gemeinsames haben, etwa aus den Sendschreiben.
Präventiv gegen Abwendung und Abfall
Die Paraklese (Unterweisung der Gemeinde) sei Mittel der Bewahrung in Christus und damit Präventivmassnahme gegen Abwendung und Abfall. «Die Notwendigkeit der Paraklese im Sinne tröstender Ermunterung ergibt sich zunächst aus der Tatsache, dass die grundlegende Kehrtwende mit ihrer radikalen Neuorientierung die so Umgekehrten automatisch in Leid und Bedrängnis führt.»
Der Referent zitierte den katholischen Systematiker Otto Hermann Pesch: «Die [biblische] Umkehr-Busse … hat direkt noch nichts mit dem Bussakrament zu tun. Die Umkehr ist die Rückseite des Glaubens und macht zu ihrem Teil allererst zum Christen. Das Bussakrament setzt Glaube und Christsein voraus und soll ein Versagen innerhalb der christlichen Existenz zurechtbringen.»
Mit der Taufe ist metanoia im Neuen Testament oft verbunden, nie dagegen mit dem Abendmahl. Rehfeld gab zu bedenken: «Was bei der Taufe und der ihr vorausgehenden Katechese möglicherweise versäumt wurde, lässt sich nicht einfach ins Abendmahl verschieben, ohne dass beide Sakramente in ihrer eigentlichen Bedeutung schweren Schaden nehmen.» Das Abendmahl sei – Rehfeld verwies auf Apostelgeschichte 2,46 – «eine dankbare Jubelfeier der Erlösten, kein verschämtes Nachjustieren einer unvollkommenen Taufumkehr».
Metanoia im Gottesdienst
Im zweiten Vortrag des Tages machte der Kirchenhistoriker und Liturgieexperte PD Dr. Luca Baschera deutlich, woher die Reformierten kommen und wie sie dahin kamen, wo sie heute sind.
Die Deutschschweizer reformierten Kirchen kennen keine vorgegebene liturgische Ordnung. Dies ist das Resultat von Prozessen, die im 19. Jahrhundert begannen und dazu führten, dass die liturgischen Formulare aus der Reformationszeit nach und nach ausser Gebrauch kamen. Doch nannte die Zürcher Gottesdienstordnung 1965 fünf Schritte als Grundgerüst jedes Gottesdienstes (Sammlung – Anbetung – Verkündigung – Fürbitte – Sendung, vgl. RG 150-153). Da wird auch ein Predigtgottesdienst «mit Bussteil» vorgeschlagen.
«Eine Randerscheinung»
Sonst findet sich nur im Gerüst für den Abendmahlsgottesdienst ein Schuldbekenntnis. Laut Baschera sind Bussliturgien im gottesdienstlichen Leben hierzulande «eine Randerscheinung». Und dies obwohl «die Praxis regelmässiger liturgischer Busse, und zwar als Akt der ganzen Gottesdienstgemeinde, zu den bedeutsamsten liturgischen Innovationen» der reformierten Reformatoren gehörte!
Nach Luca Baschera dürfte dies einerseits mit einem Missverständnis von «Busse», andererseits mit einer bestimmten Auffassung von Gottesdienst zu tun haben. Busse war seit dem Spätmittelalter häufig als Praxis der Genugtuung für begangene Tatsünden verstanden worden und bekam so eine moralisierende Komponente. Zudem wird der Gottesdienst häufig und in losem Anschluss an Friedrich Schleiermacher als «Ausdruck von Religion, Glaube, Frömmigkeit» gesehen: Die Gemeinde bringe «unter Anleitung von Profis ihren Glauben, ihre Liebe zu Gott usw. zur Darstellung».
Gottesdienst als menschliches Handeln verstanden
Diese Dimension (die der Gottesdienst auch hat) sei zunehmend als seine wesentliche verstanden worden, sagte Baschera: Gottesdienst als «etwas, was Menschen tun». Dabei werde er doch gefeiert in der Erwartung, dass Gott selbst an den Versammelten handelt – «ein Ort der wirklichen Begegnung zwischen Christus und seiner Gemeinde».
Daher plädierte der Theologe dafür, auf zwei Ebenen gleichzeitig anzusetzen: das gängige (Miss-)Verständnis von «Busse» anhand der ursprünglichen Bedeutung von metanoia zu korrigieren – und den Gottesdienst als Geschehen zu sehen, «in dem … göttliches und menschliches Handeln sich asymmetrisch miteinander verbinden, sodass Gott die Menschen durch das, was sie tun, erneut zu sich (Gott) wendet». Dies sei als unverfügbares Handeln Gottes immer zu erbitten.
Metanoia bei den Reformatoren
Luca Baschera erläuterte mit den reformierten Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts die Bedeutung von metanoia. Für Heinrich Bullinger schloss sie die Sinneserneuerung des Menschen ein, der seine Sündhaftigkeit erkennt und «emsig auf Besserung bedacht, fortwährend nach Unschuld und Tugend trachtet, worin er sich alle übrigen Tage seines Lebens heilig übt». Calvin charakterisierte sie als «wahre Hinkehr unseres Lebens zu Gott, wie sie aus echter und ernster Gottesfurcht entsteht; sie umfasst einerseits das Absterben unseres Fleisches und des alten Menschen, anderseits die Lebendigmachung im Geiste».
Fürs reformierte Verständnis bedeutet dies laut Baschera: Busse ist – als Gegenteil der Sünde – «eine Bewegung der Umkehr und Hinkehr zu Gott, der grundsätzlichen Re-Orientierung, die die ganze Existenz des Menschen umfasst».
Die auf dem Weg der Busse Voranschreitenden bleiben immer Anfänger – trotz täglicher Erneuerung begegnen sie anhaltenden Anfechtungen (Bullinger). Die Bewegung ist keine Leistung des Menschen, sondern wird «durch den Heiligen Geist in Verbindung mit dem Wort des Evangeliums bewirkt».
Der Sinn liturgischer Busse
Luca Baschera bezeichnete eben diese Bewegung als die Grunddimension christlichen Gottesdienstes: Die Liturgie stelle als ganze, «in all ihren Facetten», einen «Ort gottgewirkter metanoia» dar. Von daher könne auch gefragt werden, ob es so etwas wie einen Bussteil wirklich brauche.
Der Referent bejahte dies mit der These: «Der Sinn liturgischer Busse besteht darin, die metanoetische Grunddimension des Gottesdienstes ins Zentrum einer besonderen liturgischen Sequenz zu rücken; einer Sequenz, in der im besten Fall die verschiedenen Aspekte der Umkehr-Bewegung explizit zur Sprache kommen, auf die zahlreiche biblische Erzählungen und Texte hinweisen.»
Zwei Traditionen
Die liturgischen Formulare im deutschsprachigen evangelischen Raum gehen auf zwei Traditionen zurück: die «Offene Schuld» und das «Gemeinde-Confiteor». Die Offene Schuld hatte sich im Mittelalter als Teil des «Pronaus» entwickelt – jenes volkssprachigen Gottesdienstes, der von Prädikanten verrichtet wurde und entweder im Rahmen oder getrennt von der Messe stattfinden konnte. Die Offene Schuld bestand aus einem der Gemeinde vorgesprochenen allgemeinen Sündenbekenntnis mit anschliessender allgemeiner Absolution.
Die Zürcher Reformatoren orientierten sich daran; so wurde die Offene Schuld zum festen Bestandteil der Liturgie, und zwar – entsprechend dem mittelalterlichen Modell – nach der Predigt. Statt ausgesprochener Absolution schloss sich ihr allerdings eine Bitte um Vergebung sowie das Unservater an.
Das Gemeinde-Confiteor geht auf Gebete zurück, welche Priester, Diakone und Messdiener im Spätmittelalter zu ihrer Vorbereitung auf die Messe sprachen. Es wurde im Zuge der Reformation, etwa in Strassburg 1524, zu einem gemeinsamen liturgischen Akt der ganzen Gottesdienstgemeinde. Baschera hob hervor, dass diese Liturgie, in Genf teilweise übernommen, Sündenbekenntnis, Bitte um Erneuerung und Gnadenzuspruch und auch die Dimension der Bundeserneuerung einschloss. Dieses letzte Moment komme in den aktuellen evangelischen Gottesdienstordnungen kaum zum Tragen.
Im dritten Band der deutschschweizerischen Reformierten Liturgie findet sich, so Baschera, auch die Form des «Bussgottesdienstes» bzw. der «Beichtvesper», einer gesondert vor dem Abendmahl gehaltenen Bussfeier. Baschera stellte die Frage: «Ist das Abendmahl etwas, was nach einer vorgängigen, besonderen Reinigung verlangt?»
Abschliessend benannte der Referent Herausforderungen. Wie gelingt es, im Gebet unverkürzt und unverfälscht von Sünde zu reden? Sünde dürfe keineswegs mit Begrenztheit oder Endlichkeit verwechselt werden. Was ist das Verhältnis von Gesetz und Evangelium in der liturgischen Busse? Wie häufig sollte eine ausgeführte Bussliturgie im Gottesdienst Platz erhalten? Und welche Rolle soll in ihrer Feier dem Gesang zukommen?
Die Chance des Singens
Luca Baschera leitete dann eine Abendmahlsfeier. Auf diese folgte ein Austausch. Im zweiten Teil des Nachmittags stellte Stephanie Korinek, Dozentin am Theologischen Seminar Sankt Chrischona (tsc), die besondere Chance des Singens im Gottesdienst vor. Singen verbinde als ganzheitlicher Vorgang leibliche, kognitive und emotionale Vorgänge, sagte Korinek. Sie stifte Gemeinschaft und schaffe zugleich Heimat und Freiräume. «Indem Lieder theologische Inhalte und Melodien verbinden, bieten sie die Möglichkeit, dass Busse und Umkehr bewusst ausgesprochen, vollzogen und erlebt werden können.» Nach dem Referat wurden drei Lieder zur Thematik aus drei verschiedenen Jahrhunderten gesungen.
Der Bericht stützt sich auf den in idea 5/2023 erschienenen Text.
Bilder des Studientags: idea/David Gysel
Website der AfbeT mit Referaten