Reformation: Christus in den Testamenten hören

Die Dynamik der Reformation des 16. Jahrhunderts ergab sich aus dem Hören auf Christus, der uns in der Bibel bezeugt ist. Am zweiten Zürcher Reformator Heinrich Bullinger ist dies abzulesen. In einem Vortrag in Bern am 20. November legte Pierrick Hildebrand dar, wie Bullinger mit der Heiligen Schrift umging – relevant für heutige Debatten.

«Solus Christus audiendus – allein Christus ist zu hören»: Sein Motto entnahm Heinrich Bullinger dem Bericht von der Verklärung Jesu. Die Worte, die Gott der Vater über seinen «lieben Sohn» sagt, finden sich auch auf dem Bullinger-Portrait von Hans Asper. Pierrick Hildebrand MTh, Assistent am Institut für Schweizerische Reformationsgeschichte in Zürich, zeichnete in seinem Vortrag vor dem Evangelisch-Theologischen Pfarrverein in Bern erst den Werdegang des Reformators nach.

Der Priestersohn aus Bremgarten (AG) hatte 1519 in Köln zu studieren begonnen, Scholastik und Humanismus kennengelernt, sich eine Bibel angeschafft und sie in intensiver Lektüre mit den Kommentaren der Kirchenväter verglichen. Das von Erasmus 1516 herausgegebene griechische Neue Testament gab ihm den Boden für die Arbeit. Er merkte, dass die Väter der Alten Kirche einander widersprachen, aber immer auf die Bibel verwiesen.

Die Bibel auslegen und niemand schonen
Neunzehnjährig (!) wurde Bullinger 1523 Schulmeister des Zisterzienser-Klosters Kappel. Aus dem 1531 rekatholisierten Bremgarten liess er sich nach Zürich berufen, nicht ohne dem Rat der Stadt die freie Auslegung des Bibelwortes abzuringen: «Denn Gotswort will und soll nitt gebunden sin. Sunder waz man darinn findt, es sye waz es welle, oder wen es ioch antraeffe (wen es auch betreffe), soll fry geredt werden.»

In 44 Jahren, bis zu seinem Tod 1575, hielt Bullinger als Leiter der jungen Zürcher Kirche etwa 7000 Predigten und schrieb Auslegungen aller neutestamentlicher Bücher, die Offenbarung ausgenommen (über sie hielt er 100 Predigten – gedruckt wurden sie ein Bestseller). Laut Hildebrand war Bullinger, Reformierten weltweit als der Verfasser des Zweiten Helvetischen Bekenntnisses bekannt, zuallererest ein Prediger und Schriftgelehrter.

Inspiration und Erleuchtung
Die Heilige Schrift ist für Bullinger ein «Aushauch des göttlichen Wesens» (inspiratio), so dass eigentlich nur der Geist Gottes sie sicher auslegen kann. Menschen muss die Erleuchtung des Herzens (illuminatio) geschenkt werden, damit sie die Schrift verstehen.

Diese Unterscheidung verhindert laut Hildebrand, dass sich «jemand als Richter über die Schrift oder als Besitzer der Schrift erhebt». Dass Theologen die Unterscheidung ab dem 18. Jahrhundert verneinten, habe die Bibelkritik ermöglicht und andererseits, als Reaktion darauf, eine fundamentalistische Bibelauslegung provoziert.   

Israel und Kirche
Der Bund der Gnade, den Gott der Schöpfer mit den Menschen schliesst, macht laut Bullinger die Einheit der Schrift Alten und Neuen Testaments aus. Die beiden Testamente sind – wie später Calvin formulierte – administrationes des einen Bundes. Die Bücher des NT lehren, «wie das einig ewig testament durch unseren herren Jesus ernüweret, vervolckomnet, verstätet und versiglet sye», als Kommentar des AT.

Bullinger schrieb dies schon 1526 und spitzte dabei Augustins Grundsatz zu, dass das Neue Testament im Alten verborgen und das Alte im Neuen offenbar ist (latet - patet). Damit betonte der Reformator die Kontinuität zwischen Israel und Kirche; diese ersetzt Israel nicht, sondern vervollständigt es. (Laut Hildebrand wurde Bullinger dieser Auffassung wegen des Judaisierens beschuldigt!)

Die ganze Schrift
Der Ausleger hat die ganze Schrift ernstzunehmen – Bullinger pflegte biblische Bücher vom ersten bis zum letzten Vers auszulegen –, sich an die regula fidei («Gabe des Glaubens und der Liebe») zu halten und die früheren Theologen «als Mitschüler, nicht als Richter» über die Schrift miteinzubeziehen.