Jesus, Glaube und Heil: Bücher zum Neuen Testament
Was macht das Johannes-Evangelium einzigartig? Wie entwickelte sich der Glaube der Christen im 1. Jahrhundert im jüdischen und hellenistischen Umfeld? Was meinte Paulus, wenn er von Gottes Treue und von Gericht sprach? Evangelische Theologen, die in der Schweiz tätig sind, gewähren einen vertieften Blick auf die gewaltige religiöse Dynamik, die mit Jesus und seinen Aposteln in den Mittelmeerraum kam. – Ein Überblick.
Jörg Frey, seit 2010 Professor für Neues Testament in Zürich, hat sich über Jahrzehnte dem Johannes-Evangelium gewidmet. «Die Herrlichkeit des Gekreuzigten» versammelt Studien Freys zum vierten Evangelium und den drei Johannesbriefen. Eine vorläufige Summe zieht der letzte der 18 Aufsätze: Die johanneische Theologie als Gipfel der neutestamentlichen Theologie. Der Theologie selbst sind die Hälfte der Texte gewidmet; im übrigen thematisiert der Autor Kontext, Sprache und Adressaten des vierten Evangeliums.
Das theologische Profil des Johannesevangeliums zeigt sich laut Frey «zu einem wesentlichen Teil im Gegenüber zu den Synoptikern». Er versteht es als «programmatisch aus der nachösterlichen Retrospektive gestaltete, ‹anamnetische› Darstellung des Weges des vorösterlichen Jesus.» In der Lektüre müssten sowohl «die literarischen Subtilitäten und metaphorischen Tiefendimensionen des Textes» wie auch der sachliche Anspruch der Aussagen ernstgenommen werden, namentlich jene über die Göttlichkeit Christi, welche neben jenen über sein wahres und ganzes Menschsein stehen.
Im vierten Evangelium und den drei Briefen wird klar, warum man nur durch den Sohn zum Vater gelangen kann. Einen über die anderen Schriften des NT hinausgehenden Beitrag sieht Frey auch fürs Gottesbild: Gott ist Geist, Licht und Liebe. «In der Gestalt des Parakleten, des Beistands der Glaubenden, erscheint der Heilige Geist im johanneischen Denken in unüberbietbarer Weise als Person.» Dies weist voraus auf die (erst Generationen später formulierte) Trinitätslehre. Jesus ist am Kreuz gestorben. Das bedeutet: «Gott selbst ist ebenso wie das von ihm geschaffene Heil nicht mehr in Absehung von Welt und Geschichte, von menschlichem Leid und menschlichem Tod zu denken.»
Wie kam es vom Wirken des Wanderpredigers und Wundertäters aus Nazareth zur Herausbildung einer Lehre, die die Lebensführung von Menschen rund um das Mittelmeer bestimmte? Benjamin Schliesser, während sechs Jahren Oberassistent von Frey und nun Professor in Bern, hat dessen Schriften dazu in einem weiteren Band herausgegeben: «Von Jesus zur neutestamentlichen Theologie».
(2019 ist ein dritter Band mit Aufsätzen von Jörg Frey erschienen (englisch). Sie erhellen die Bedeutung der apokalyptisch ausgerichteten Gemeinschaft von Qumran und des zeitgenössischen Judentums fürs Verständnis des Neuen Testaments.)
Was ist Glaube?
In einem weiteren grossen Band haben Frey und Schliesser zusammen mit Nadine Ueberschaer und Kathrin Hager erhellt, was für die ersten christlichen Gemeinschaften grundlegend war und sie – über alle Grenzen hinaus – verband: der Glaube, das Vertrauen auf Gott. Die Rede vom Glauben (griech. pistis) bei Paulus war Thema einer Tagung 2013 an der Universität Zürich.
Weitere, über Paulus hinausreichende Beiträge wurden dazu genommen, so dass 2017 ein einzigartiges Kompendium zum christlichen Glauben erschien. Es schlägt den Bogen vom hebräischen AT und seiner griechischen Übersetzung über die Apokryphen und das rabbinische Judentum sowie die hellenistische und römische Umwelt zu den Autoren des NT (neun Beiträge). Auf sechs Texte zum Glauben im frühen Christentum folgt ein vierteiliger Ausblick in kirchengeschichtlicher und systematischer Perspektive.
Glaube kam durch Christus in die Welt…
Aus der Fülle des Erörterten seien hier einerseits die von Thomas Schumacher dargestellten Unterschiede zwischen pistis und der lateinischen Entsprechung fides erwähnt. fides war die Haltung, in der der Patron seinem Klienten begegnete, um ihn zu schützen, und in der dieser dem Patron Unterstützung gewährte. Im öffentlichen Leben wurde die Göttin Fides als Schützerin der Eide und Schwüre angerufen. Von griechischsprachigen Juden wurde pistis aufgrund ihrer hebräischen Kultur anders verstanden…
Michael Wolter referierte über die Bedeutung des Glaubens bei Paulus: «Weil das Evangelium das in Jesus Christus erschlossene Heil Gottes im Wort der Verkündigung vergegenwärtigt, bekommen diejenigen, die ihm ‹glauben›, die es also als ‹Wort Gottes› hören, Anteil an seinem Inhalt… Dieser Glaube geht zu keinem Zeitpunkt dem Evangelium voraus oder ist gar von ihm unabhängig. Er kann vielmehr immer nur Reaktion auf das Evangelium sein; er ist auf es angewiesen, um überhaupt entstehen zu können.»
… und macht den Menschen neu
In seiner Paulus-Studie «Was ist Glaube?», bereits 2011 im TVZ erschienen, weist Benjamin Schliesser eingangs darauf hin, dass das Substantiv und das Verb im NT je 243-mal begegnen – viel häufiger als in allen anderen Schriften der Epoche. So zentral der Begriff fürs NT ist, so vielfältig und unscharf wird er heute gebraucht, für individuelles Für-wahr-Halten etwa, aber auch für jede Religion. Das NT braucht pistis als das wichtigste Wort fürs Verhältnis des Menschen zu Gott. pistis ist zugleich «konstitutiv für die christliche Identität und Kriterium für die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft.»
Schliesser zeigt auf, wie Glaube bei Paulus den Menschen – Vernunft, Wille und Gefühl – bestimmt. Denn Gott ist in Christus in die Welt eingebrochen. Die Studie von gut 100 Seiten schlägt den Bogen vom NT zur theologischen und religionsphilosophischen Diskussion, das reformatorische «Allein durch Glaube» eingeschlossen.
Kontinuität und Bruch
Zentrale Stellen wie Römer 3 werden beleuchtet und das Verhältnis von Glaube und Vernunft erörtert. Paulus sei es darum gegangen, dass die Glaubensbotschaft verstanden wird, schreibt Schliesser; zugleich erkannte er «die fortwährende Herausforderung des Glaubens durch das rational nicht Einsehbare» und brachte «mit grosser Zuversicht das Glauben mit Wissen und Gewissheit in Verbindung».
Ist Glaube etwas, das schon immer im Menschen angelegt war und durch Abraham «entdeckt» wurde, durch Jesus und Paulus besondere Gestalt annahm? Schliesser spricht von Emergenz: Aufnahme und Neukonfiguration bestehender Denk- und Lebensformen, Kontinuität und zugleich Bruch. Er zitiert Ingolf Dalferth: «Der Glaube schafft eschatologisch Neues, nicht nur moralisch Besseres.»
Wenn Gott seine Herrschaft aufrichten wird
Christian Stettler, seit 2014 Privatdozent für Neues Testament an der Universität Zürich und Titularprofessor an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel, schrieb seine Doktorarbeit über den Christus-Hymnus in Kolosser 1,15-20. Als erste Frucht seiner Studien zur Zürcher Habilitation erschien 2011 «Das letzte Gericht: Studien zur Endgerichtserwartung von den Schriftpropheten bis Jesus».
Die Mitte dieser Erwartung des Endgerichts war positiv: Jahwe, der Gott Israels, wird seine Königsherrschaft universal aufrichten und Gerechtigkeit, Heil und Schalom in der Welt durchsetzen (dabei auch das Böse entmachten und vernichten). Teilhaben daran werden jene, die nach dem mosaischen Gesetz, der Tora, «gerecht» sind.
Wie Stettler darlegt, klagten Amos und weitere AT-Propheten die Völker «aufgrund einer allen Menschen vorgegebenen weisheitlichen Weltordnung an». Israel wurde das überlieferte Gesetz mit Segensverheissung und Fluchandrohung vorgehalten; «die Erwählung macht Israel gerade nicht zum Heilskollektiv, dem kein Unheil geschehen kann.»
Damit stellten sich verschärft die Fragen individuellen Heils: wer gerecht ist und wie man gerecht wird. Sie wurden im Judentum der letzten vorchristlichen Jahrhunderte unterschiedlich beantwortet. Christian Stettler erläutert Zusammenhänge zwischen der Erwartung universalen Gerichts und der Auferstehungshoffnung. Johannes der Täufer und Jesus knüpften an die Pharisäer und die Essener an.
Laut Stettler hat Jesus sich als der von Daniel angekündigte Menschensohn verstanden. «Allerdings tritt er nicht als der Weltrichter auf, sondern richtet die Gottesherrschaft durch Wort und Tat im Verborgenen auf, erwartet aber zugleich am Ende der Zeit ihre universale Durchsetzung im Endgericht. Wer sich jetzt ihm anschliesst, ist schon in die Gottesherrschaft eingetreten; wer sich ihm verweigert, der hat schon das Gericht über sich gebracht.»
Kommen Christen ins Gericht?
Wie nahm der Apostel Paulus diese Vorstellungen auf? In seiner 2013 eingereichten Habilitationsschrift «Das Endgericht bei Paulus» zeigt Christian Stettler, dass Paulus nicht (wie oft behauptet) widersprüchlich lehrte, sondern von einer in sich stimmigen Gerichtserwartung ausging. Mithilfe der neueren kognitiven Frame-Semantik (Einbezug von Anspielungen) rekonstruiert Stettler Paulus‘ Verständnis von Endgericht, vergleicht es mit anderen frühjüdischen und urchristlichen Konzeptionen und profiliert es in Auseinandersetzung mit der von Nicholas Thomas Wright und anderen vertretenen «New Perspective on Paul».
Mit welchem Gericht müssen Christen nach Paulus rechnen? Die Auslegung von 2. Korinther 5,10, Römer 14,10 und 2,6-16 sowie 1. Thessalonicher 1,9-10 bestätigt, was Paulus in seinen Missionspredigten vermittelte: «Es ist das Endgericht, in dem und aus dem der wiederkommende Jesus die Seinen retten wird, die ihm in Heiligkeit dienen.»
Nach Etablierung des semantischen Frame «Endgericht» untersucht Christian Stettler 1. Korinther 3,5-4,5. Das Ergebnis: «Gegenstand des Gerichts für Christen ist ihre Erfüllung des Liebesgebots, und die unterschiedliche Intensität, mit der die einzelnen Glaubenden dieser Erfüllung nachkommen, resultiert in einem unterschiedlichen Lohn.»
Gnade – und dann doch Gericht?
Wie verhalten sich Rechtfertigung aus Gnade, ohne Werke, und das Gericht nach den Werken zueinander? Stettler versucht eine «möglichst umfassende Zusammenschau der paulinischen Aussagen …, ohne die Texte vorschnell unterschiedlich zu gewichten oder von vornherein gegeneinander auszuspielen». Er hält fest, «dass die Gerechtigkeit der Christen nach Paulus nicht nur ein ‹als-ob› ist, sondern eine Gerechtmachung durch die Vergebung der Sünden in der Partizipation an der Gerechtigkeit des Christus».
Doch haben Glaubende in Christus zu bleiben und sich von Verfehlungen, die sie begehen, abzuwenden, im Vertrauen auf sein Sühnopfer am Kreuz. Sie werden am Ende wie alle Menschen nach ihren Werken gerichtet – aber sie haben Vergebung empfangen und im Heiligen Geist gelebt. Stettler: «Im Gericht zählt für die Frage des ewigen Lebens nicht die Summe der Taten, etwa indem böse und gute gegeneinander abgewogen werden, sondern ob das ‹Leben im Geist› – inklusive Umkehrbereitschaft! – bis zum Ende durchgehalten wurde.»
Gottes Gerechtigkeit, Israel und die Gemeinde
Mit der «New Perspective on Paul» (NPP) haben Nicholas Thomas Wright und andere in der Gilde der Neutestamentler die stärkste Kontroverse der letzten Jahrzehnte ausgelöst. Zahlreiche Werke Wrights sind von dem in Kreuzlingen tätigen Theologen Rainer Behrens auf Deutsch übersetzt worden, sowohl fachtheologische Wälzer wie fürs grosse Publikum geschriebene. Die Website NTWright.info gibt einen Überblick.
Als Einführung mag der Band «Rechtfertigung: Gottes Plan und die Sicht des Paulus» dienen. Im Anhang findet sich der Vortrag, den N.T. Wright anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Üechtländer Fakultät 2014 hielt.
Die im Hauptwerk Wrights «Paul and the Faithfulness of God» vertretenen Thesen werden von Gelehrten aus vielen Ländern in einem englischen Sammelband unter die Lupe genommen: «God and the Faithfulness of Paul», 2016 bei Mohr Siebeck in Tübingen verlegt, prüft, wie der Verlag schreibt, «die Methodologie, die Bedeutung kontextueller Faktoren, exegetische Befunde und theologische Implikationen» von Wrights Ansatz. – Die weitgefächerte Debatte kann hier nicht näher thematisiert werden.
Paulus als Lehrer der Gemeinden
Auf die NPP geht Jacob Thiessen in seinem neuen Buch am Rand ein. «Paulus als Lehrer der christlichen Gemeinden», im Juli 2019 erschienen, nimmt den Mann aus Tarsus als Verfasser aller 13 Briefe ernst, die im NT mit seinem Namen beginnen. (In einer gesonderten Studie hat Thiessen, Rektor der STH Basel, die Gründe dafür ausgeführt.)
Das Buch behandelt alle Aspekte von Paulus‘ theologischem Denken. Besondere Aufmerksamkeit finden sein Umgang mit der Heiligen Schrift und der Jesus-Tradition, das Menschenbild und «die Gemeinde als Ort der Verwirklichung des göttlichen Heils» (über 140 Seiten) sowie die Eschatologie.
Der Autor unterstreicht die bleibende Erwählung des alttestamentlichen Bundesvolks; das Verhältnis der christlichen Gemeinde zu ihm sei «für das Gemeindeverständnis der Paulusbriefe von grundlegender Bedeutung». Thiessen hat bewusst auch für Nicht-Theologen geschrieben. Auslegungsfragen werden in den Anmerkungen diskutiert.
In der Serie «Studien zu Theologie und Bibel» des LIT-Verlags, die mit Thiessens Untersuchung «Die Auferstehung Jesu in der Kontroverse» begann, sind weitere Publikationen von ihm und anderen Dozenten der STH erschienen. Sven Grosse hat eine «Theologie des Kanons» der Bibel, Armin Sierszyn Erwägungen über «Christologische Hermeneutik» im Gegenüber zu Hans-Georg Gadamer verfasst.
Ein ganz guter Gott
Stefan Wenger hat sich dem Brief zugewandt, der seit Luthers abschätzigem Urteil weniger studiert wird. Seine 2009 in Bern angenommene Dissertation untersucht das Gottesbild des Jakobusbriefs vor dem Hintergrund alttestamentlicher, frühjüdischer und philosophischer Vorstellungen.
Jakobus wendet sich mit konkreten Mahnungen an Christen, die in Gefahr sind, sich vom Reichtum blenden zu lassen und vom Glauben abzufallen. Dagegen setzt der Verfasser, so Wenger, die ungeteilte Verehrung des einen wahren Gottes, des «Vaters der Lichter», der unwandelbar gut ist und nur gute Gaben gibt.
An Gott zu glauben, «bedeutet für Jakobus immer auch, an die Herrlichkeit des erhöhten, im Gebet zugänglichen und in naher Zukunft ... kommenden kyrios Jesus Christus zu glauben.» Der Glaube ist relevant durch Praxis. Die Menschen sollen planen unter der Bedingung, «so der Herr will». Sie sollen nicht schwanken und Barmherzigkeit üben – Gott ergreift Partei für die Bedürftigen. Der Herr wird zum Gericht kommen; namentlich die Reichen haben es zu gewärtigen. Stefan Wenger sieht bei Jakobus ein eher komplementäres als kohärentes Gottesbild; neben der unfasslichen Güte Gottes steht sein Richten in souveräner Majestät.
Als Dozent am IGW hat Stefan Wenger 2015 «Die Welt des Neuen Testaments», eine allgemein verständliche Einführung, publiziert. Sie behandelt laut der IGW-Website «Zeit- und Geistesgeschichte, Einleitungswissenschaft, Bibelkunde, Kanonbildung und Theologie des Neuen Testaments» in knapper Form. Es lohnt sich, das Neue Testament vor dem Hintergrund des Jahrhunderts zu lesen, das wir nach Jesus von Nazareth als das erste zählen.