Bücher zu Europas Werden
In keinem anderen Teil der Welt haben Menschen so viele Wahlmöglichkeiten, Freiheit und Wohlstand. Doch die Säkularität ist in der Krise. Was macht Europa im globalen Wettstreit der Kulturen aus? – Auch wenn einzelne Bücher den Fragen nicht gewachsen sind: zusammen werfen sie ein Licht auf die Vergangenheit, das uns hilft, uns selbst besser zu verstehen.
Europa ist in Schieflage. Wo können wir noch anknüpfen und was ist festzuhalten, wenn auf die Katastrophen der Moderne Stürme der Postmoderne folgen, die bewährte Lebensformen wegfegen und Tradition aus dem Bewusstsein der Gesellschaft waschen?
Dies ruft der nächsten Frage: Was war denn vorher da? Abendland? Je weniger wir heute von einem christlichen Europa reden können, desto reizvoller, schmerzlicher – für manche nostalgischer – wird die Suche nach seinen Grundlagen, Bausteinen und einstigen Dynamiken.
Herrschen und dienen
2017 wird aus gegebenem Anlass der Errungenschaften und Impulse der Reformation gedacht. Und die reformierten Protestanten könnten darauf verweisen, dass ihre Gründerväter westliche und überseeische Kulturen stärker befruchtet haben als die Theologen der Lutherstadt.
Die Reformatoren standen auf den Schultern der frühchristlichen und mittelalterlichen Theologen. Sie dynamisierten eine zuvor christlich durchtränkte Kultur. Sie wirkten in einem staatskirchlichen Rahmen, der 1100 Jahre zuvor gezimmert worden war. Er brachte das spezifisch europäische Streben zum Ausdruck, menschliche Herrschaft nicht ihrer Eigendynamik zu überlassen, sondern sie auf das Reich des Christus zu beziehen, ihm einzuordnen – was umgekehrt der Kirche Macht gab und ihre Leiter allzu oft korrumpierte.
Glaube inspiriert Kultur
Hier sind aus einer unübersehbaren Zahl einige Bücher angezeigt, die historisch, ideen- und kulturgeschichtlich und theologisch dem Werden Europas nachspüren.
Werner Dahlheim schildert die Schritte der Christen – ursprünglich eine winzige Minderheit am unruhigen Ostrand des Römerreichs – in die Öffentlichkeit, ins Zentrum der Kultur. Pedro Barceló beleuchtet den Machtzuwachs der Bischöfe im 4. Jahrhundert, im Kontext des Kaiserkults. Johannes Fried entwirft ein Suchbild Karls des Grossen. Michel Roqueberts Katharer-Geschichte lässt ahnen, wie anstössig die Sekte war und wie ihre Bekämpfung die Kirche härtete.
Thomas Kaufmann stellt die Einsichten und Bestrebungen der Reformatoren in den geschichtlichen Rahmen. Anne Durrer und Matthias Krieg blitzen reformierte Kulturgeschichte. Larry Siedentop führt den westlichen Liberalismus auf den Apostel Paulus und mittelalterliche Theologen zurück. Vishal Mangalwadi und Alvin J. Schmidt beleuchten kulturelle Grundlagen Europas, die teils lange vor der Reformation gelegt wurden.
Werner Dahlheim: Die Welt zur Zeit Jesu
Pedro Barceló: Das Römische Reich im religiösen Wandel der Spätantike
Thomas Kaufmann: Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation
Matthias Krieg, Anne Durrer: Wolkenalphabet. 365-mal reformierte Kulturgeschichte
Michel Roquebert: Histoire des Cathares
Jacques Rossel: Aux Racines de l’Europe Occidentale
Larry Siedentop: Die Erfindung des Individuums
Vishal Mangalwadi: Das Buch der Mitte
Alvin J. Schmidt: Wie das Christentum die Welt veränderte
Die Kaiser und der Herr
Werner Dahlheim wirft Licht auf die Anfänge in der Antike. Die Welt zur Zeit Jesu schlägt den Bogen von Augustus und Herodes zum Sieg des Christentums im Römerreich. Die Distanz zu den neutestamentlichen Büchern hält den Althistoriker nicht davon ab zu sehen, dass «von keinem Sterblichen» so viele Wunder berichtet werden wie von Jesus.
Farbig und facettenreich schildert Dahlheim das heidnische Umfeld, von dem sich Christen abhoben, Kultur und Gesellschaft, das brutale Machtgehabe der Römer, die hohen Hürden für christliche Mission. Augustus war der «grösste Imperialist Roms»; als Friedensbringer liess er sich vergötzen. «Der Kaiserkult verband nun alle Menschen zwischen Britannien und Syrien, und seine Liturgie war überall dieselbe. Dies kam einer religiösen Revolution gleich.»
An dieser Front standen die christlichen Missionare. «Wer das Ohr der Heiden erreichen wollte, kam nicht umhin, die im Judentum wurzelnden Lehrer des Evangeliums in das griechische Weltbild einzuordnen.» Werner Dahlheim beschreibt, welchen Preis Bekehrungen hatten, auch wie sich Christen der heidnischen Kultur näherten und ins Gespräch mit ihren Literaten traten. Allerdings: «Immer stand es auf Messers Schneide, ob das Alte zu bewahren oder zu vernichten war.»
Noch bedeutsamer war, dass Bischöfe nach 313 Partner der Herrscher wurden. «Zum einen gewöhnte sich die christliche Elite an das Regieren. Zum anderen lernte die heidnische, … dass sie ihr Streben nach Ruhm und Ehre genauso gut auf dem Stuhl des Bischofs verwirklichen konnte.»
4. Jahrhundert: Ohnmächtige erlangen Macht
Was Dahlheim antippt, leuchtet Pedro Barceló in seiner gediegenen Studie Das Römische Reich im religiösen Wandel der Spätantike – Kaiser und Bischöfe im Widerstreit aus. Kaiser Konstantin gliederte die Christus-Verehrung in den römischen Staat ein; er war der erste, der mit den Theologen um die Deutungshoheit rang. Die Kaiser setzten in der Folge die Bischöfe ein; von der heidnischen Bevölkerung liessen sie sich noch als göttliche Herrscher verehren! «Sie agierten einerseits als pflichtbewusste Supervisoren der traditionellen Kulte, andererseits als Förderer und Protektoren der Kirche.»
Allerdings drifteten West- und Ostteil des Reichs auseinander und die Kaiser nach Konstantin vermochten die Lehrstreitigkeiten zwischen den «sich heftig befehdenden Sonderkirchen“ nicht zu beenden. Versammlungen zeigten laut Barceló eine «prestigesüchtige priesterliche Schicht, die sich ihrer hervorgehobenen Stellung innerhalb der Eliten des römischen Reichs stetig bewusster wurde». Der bis 2015 in Potsdam lehrende Kirchenhistoriker schaut den ersten mächtigen Bischöfen auf die Finger und konstatiert «kleinlichen Egoismus»; nur selten hätten sie der Versuchung widerstanden, «den staatlichen Arm für die Erreichung der eigenen Zwecke aufzubieten». Dies hinderte sowohl die theologische Arbeit wie die kirchliche Konsens-Suche.
Die Kirche des Reichs und ihre Regenten
Schon unter Konstantius II. (337-361) bahnte sich die Entwicklung zum Staatskirchentum an. Theodosius verfügte 380, als Christen könnten nur jene gelten, die nach dem Bekenntnis von Nicäa an den dreieinen Gott glaubten. Die andern wurden geächtet. Barceló schildert, wie der machtbewusste Mailänder Bischof Ambrosius den frommen Kaiser zur öffentlichen Busse veranlasste und ihn aus dem Bereich des Altars in der Apsis, wo er sich bisher aufgehalten hatte, wegwies. «Bischöfe und Kaiser wetteiferten immer mehr um die Gunst des einen unteilbaren Gottes.»
In den Gemeinden beanspruchten die Priester umfangreiche Vollmachten über die Gläubigen; diese «schuldeten ihn Gefolgschaft, Treue und Gehorsam». Was hundert Jahre zuvor undenkbar gewesen wäre, geschah 385: Als asketischer Kritiker der Monopolstellung der Bischöfe wurde Priscillian, Bischof von Avila, verketzert und hingerichtet.
Glaubensfragen und -kämpfe
Die mächtigsten Bischöfe kämpften um Einfluss am Kaiserhof in Konstantinopel; die Auseinandersetzung um die göttliche und menschliche Natur von Jesus (431-451) wurde auch durch die Rivalität zwischen der Schwester und der Frau des schwachen oströmischen Kaisers Theodosius II. mitentschieden. Der Beschluss des Konzils von Chalkedon 451 wirkte klärend und zugleich trennend. Der Historiker bilanziert: «Intellektuelle Spekulation, Gelehrsamkeit, Machtstreben, Gewalt, verordnete Formeln, tiefe Gläubigkeit, Grossmut, aber ebenso Eigensinn, Rechthaberei, Egoismus, mithin auch Konsensunfähigkeit gehören zum Gesamtbild des spätantiken Christentums.»
In den Umbrüchen, die mit der Plünderung Roms durch die Westgoten 410 einsetzten, ging es darum, das Christliche den vordringenden Völkern und ihren Herren zu vermitteln. Benedikt von Nursia adaptierte das im Orient entstandene Mönchtum für den Okzident. Seine Regel, die Gebet und Arbeit aufeinander bezieht, wies Europa den Weg.
Christliche Vision von Europa
Wenn in der Spätantike Grundlagen für die westliche Zivilisation gelegt worden waren – Barceló nennt den Weltreichsgedanken, Latein und Kirchenrecht, das Mönchtum, die katholische Liturgie –, formte Karl der Grosse erstmals ein abendländisches Imperium mit Schwerpunkt nördlich der Alpen. Unweit strategischer Übergänge stiftete er Klöster (Müstair). Die Liturgie wurde vereinheitlicht, das Unser Vater gelehrt – und so Stämme und Völker, die nichts voneinander wussten, (weiter) christianisiert und kulturell verbunden.
«Unsere Aufgabe ist es, Christi heilige Kirche vor der Zerstörung durch Ungläubige nach aussen mit Waffen zu schützen, im Innern durch die Erkenntnis des katholischen Glaubens zu stärken», schrieb Karl 795 an den eben geweihten Papst Leo III., der ihn fünf Jahre später zum Kaiser krönte. Johannes Fried gibt in seiner grossen, zum 1200. Todestag von Carolus Magnus erschienenen Biographie ein lebendiges Bild des Herrschers und seiner Ziele. Heidnische Nachbarvölker wie die Sachsen unterwarf Karl mit dem Schwert. Der Christianisierung gaben aber auch Prediger, Einsiedler und Märtyrer Schub – Zürichs Stadtwappen weist drei Märtyrer auf; St. Gallen und St-Maurice haben ihren Namen von Heiligen.
Frommes, intolerantes Mittelalter
Im Mittelalter wurden die Konflikte ausgetragen, die in seinen Grundlagen angelegt waren. Die Jahrhunderte, von Aufklärern als «finster» bezeichnet, bringen das Ringen um die Verwirklichung von Gottes Reich in einem christlichen Gemeinwesen zum Ausdruck. So fern das Mittelalter uns gerückt ist, lassen romanische und gotische Kirchen noch die Frömmigkeit und Tatkraft der Menschen von damals ahnen. Georges Duby hat sie mit dem fein illustrierten Band Das Europa der Kathedralen gewürdigt. Die tiefschürfenden wissenschaftlichen Werke von ihm, Jacques le Goff und anderen französischen Gelehrten sind unverzichtbar fürs Verständnis der europäischen Zivilisation; sie sollten im deutschen Sprachraum mehr zur Kenntnis genommen werden.
Neben den Kreuzzügen outre mer führten die Kirche und Fürsten auch in Frankreich einen Kreuzzug durch: gegen die Katharer, eine dualistische Sekte, die in Südfrankreich viele tausend Anhänger zählte. Michel Roquebert hat in seiner Histoire des Cathares herausgearbeitet, wie der Kreuzzug durch die Schaffung der Inquisition das Selbstverständnis der römischen Kirche und ihren Umgang mit Dissens prägte.
Und die Reformation?
Derzeit wird vor allem der kulturellen Impulse gedacht, die die Reformatoren Europa und der Welt gaben. Zuerst ging es ihnen um die Kirche, wie der anglikanische Erzbischof Rowan Williams in seinem Vortrag am Zürcher Reformationskongress 2013 darlegte. Die Betonung von Gottes Souveränität, die Entdeckung der Bibel als kritischer Instanz für alle Lebensbereiche und das Verständnis von Kirche als Gottes Volk zeitigten jedoch auch politisch unabsehbare Wirkungen. (Der Vortrag von Williams ist nachzulesen in 500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen.)
Thomas Kaufmann streicht in seiner grossen Überblicksdarstellung zur Reformation Erlöste und Verdammte die Bedeutung des Buchdrucks heraus. «Luther war der erste rechtmässig verurteilte Ketzer, der sein Überleben dem Printmedium verdankte.» Als Folge der Reformation entstanden protestantische Konfessionskulturen. Gottesdienst und Bibellese in der Muttersprache trugen wesentlich bei zu einem «Europa der sprachkulturellen Vielfalt».
Als weitere Impulse nennt Kaufmann die Aufhebung des Unterschieds zwischen Priestern und Laien, die Absage an ein übergeordnetes kirchliches Lehramt, die Reduktion der Feiertage, Bildungsdynamik und Religionskritik. «Die mit der Reformation eingetretene Pluralisierung des lateineuropäischen Christentums und die konfessionelle Konkurrenz haben säkularistischen, laizistischen und atheistischen Tendenzen Vorschub geleistet.»
Von Abendmahlstisch und Arbeitsethos bis Zwingli und Zinzendorf
Wenn 2017 Martin Luther im Zentrum des Gedenkens steht, setzen die Schweizer Reformierten eigene Akzente. Matthias Krieg und Anne Durrer haben das Wolkenalphabet zusammengestellt, eine reformierte Kulturgeschichte in 365 Kurztexten zu Orten, Personen und Themen. Darunter auch «theologische Kleinode», wie Gottfried Locher im Geleitwort lobt. Auf der Seite «Mayflower Compact» ist der historische Transit der von Calvin inspirierten Puritaner nach Amerika zusammengefasst. Sie erstellten dort «das erste moderne Dokument einer demokratischen Selbstverwaltung». Zudem erscheint im TVZ auch das grosse Handbuch «Die schweizerische Reformation» (vgl. Besprechung).
Westliche Freiheit wurzelt…
«Wir haben keine überzeugende Geschichte mehr, die wir uns über unseren Ursprung und unsere Vergangenheit erzählen könnten.» Der Orientierungslosigkeit im Westen will der Philosoph Larry Siedentop, der in Oxford lehrte, wehren – zu denken gibt ihm besonders der Islamismus.
Die Freiheit des Individuums – damit die freiheitliche Gesellschaft – wurzelt im Christentum des 1. Jahrtausends: Diese These sucht Siedentop in Die Erfindung des Individuums auf 400 Seiten zu begründen. Er zeichnet nach, wie die westliche Zivilgesellschaft entstand, welche «langsamen, stolpernden und schwierigen Schritte ... zu einer individuellen moralischen Handlungsmacht führten», die durch Gleichheit vor dem Gesetz, in der Moderne errungen, auch öffentlich wirksam wurde.
… in der christlichen Antike und im Mittelalter
Der Autor kontrastiert die antike, auf Familie und Ahnen zentrierte Religiosität («die häusliche Sphäre blieb eine Sphäre radikaler Ungleichheit») mit dem befreienden Ansatz des Apostels Paulus. Dieser gilt ihm als der eigentliche Erfinder des Christentums. Revolutionär war, dass Paulus auf die Gleichheit der Menschen setzte. «Dieser Sprung in den Glauben an die menschliche Gleichheit offenbart – unter der historisch gewachsenen Schicht von ungleichen sozialen Stellungen und Rollen – die universelle Verfügbarkeit einer gottgegebenen Grundlage für menschliches Handeln, für freies Handeln aus Liebe.» So kann Siedentop schreiben, dass das Damaskus-Erlebnis von Paulus «auf die Entdeckung der menschlichen Freiheit» hinauslief. Daraus konnte auch ein neues Gerechtigkeitsgefühl erwachsen.
Über die Spätantike und die karolingische Zeit gelangt der Autor, der sich auf Fachhistoriker stützt, ins Hoch- und Spätmittelalter, das im Zentrum des Buchs steht. Den Feudalismus sieht er als Vorstufe der Moderne, nicht als Widerspruch zu ihr. Auch das Kirchenrecht des Hochmittelalters wertet er als wesentlichen Beitrag – durch «die Erfindung des Individuums, die Einführung einer primären sozialen Rolle, die die radikalen Statusunterschiede der traditionellen Rollen schwächte». Mit Brian Tierney meint Siedentop, dass hier die Ursprünge des Naturrechts liegen. Im Spätmittelalter hätten sich die Gleichheits-Vorstellungen der Kirche gegen sie selbst zu wenden begonnen, indem sie Vorbehalte gegen ihre Herrschaft provozierten.
Freiheit für die Welt
Seinen Gedankengang fasst der gebürtige Amerikaner im Satz zusammen, «dass die christlichen Moralvorstellungen entscheidend an dem Diskurs mitgewirkt haben, der den modernen Liberalismus und Säkularismus hervorgebracht hat». Im rechten liberalen Sinn verstanden, sei der Säkularismus «das Geschenk des Christentums an die Welt». Dieses Verständnis vermisst Siedentop allerdings auf beiden Seiten des Atlantiks. «Den Europäern – den Ursprüngen ihrer Tradition entfremdet – scheint es an Überzeugung zu fehlen, während die Amerikaner einer gefährlich vereinfachten Version ihres Glaubens aufzusitzen scheinen.» In der Folge werde der Liberalismus einerseits auf ein Bekenntnis zur Marktwirtschaft reduziert, andererseits als Freipass für den Rückzug ins Private gesehen.
Wurzeln des Abendlandes
Das Verlangen, den Schatz der westlichen Kultur Heutigen bewusst zu machen, hat auch Nicht-Historiker zur Feder greifen lassen. Der welsche Theologe und Indienmissionar Jacques Rossel, 1959-1979 Präsident der Basler Mission, konstatiert, dass dem Westen heute «seine laizistische Modernität, sein Mangel an Spiritualität, seine invasive Technologie, seine ökonomische und kulturelle Aggressivität, die moralische Permissivität» vorgeworfen wird. So hat er Aux racines de l’Europe occidentale zusammengestellt, einen Essay von über 600 Seiten zu den Wurzeln des Abendlandes im ersten Jahrtausend.
Von der Frühgeschichte Lyons führt Rossel den Leser zum Neuplatonismus, dem Zeitalter Konstantins, den ersten germanischen Reichen, Ambrosius und Augustin. Ihn interessiert die Offenheit für den (kulturell und religiös) Anderen, der interkulturelle Austausch. Im Epilog fliegt der 2008 verstorbene Theologe übers zweite Jahrtausend unserer Zeitrechnung. Die Aufklärung habe nichts erfunden, schreibt er endlich, sondern in der Spur der Renaissance bloss aufgenommen, was die skeptischen, agnostischen und positivistischen Philosophen der griechischen Antike vorgedacht hätten. Den Pietisten traut Rossel zu, dem Mainstream kreativ zu widerstehen.
Was brachte den Westen an die Spitze?
Für den indischen Sozialphilosophen Vishal Mangalwadi ist die Bibel das Herzstück der westlichen Kultur. In Das Buch der Mitte ringt er auf 550 Seiten um die Seele der westlichen Zivilisation (Originaltitel: «The Book that made your World»). Er schildert die Gegebenheiten des Subkontinents, wo er und seine Frau für soziale Gerechtigkeit kämpften, und kontrastiert damit die kulturelle Entwicklung, die das Christentum nach der Antike Europa ermöglichte.
Mangalwadi verwertet Forschungen anderer und scheut Provokation nicht; er schildert die Anfänge der Technik in Klöstern, die christlichen Impulse für eine denkende Gesellschaft, die Demokratisierung der Bildung, die christliche Begründung der fürsorglichen Medizin, verantwortlichen Umgang mit Geld …
Zu den britischen Puritanern und ihrem grossen Autor John Bunyan schreibt er: «Bunyans Pilger hatten Erfolg, wo die Helden Homers und Vergils passen mussten: Sie gründeten und bauten Städte und Staaten, die durch äusserliche Sauberkeit auffielen, weil sie die innere Reinheit betonten – das innere Leben des Geistes. Aber die damit verbundene literarische Revolution ging über saubere Städte weit hinaus…» Angesichts der Schwäche des Westens fragt der Inder mit warnendem Unterton: «Muss die Sonne über dem Westen untergehen?»
Das Erbe bewahren
Die christlichen Grundlagen der westlichen Werte stellt auch Alvin J. Schmidt dar. Der Lutheraner lehrte in Illinois Soziologie. In seinem Buch Wie das Christentum die Welt veränderte fügt er ein farbiges kulturgeschichtliches Mosaik zusammen, zeichnet nach, wie Christen seit dem Mittelalter der modernen Wissenschaft den Weg bereiteten, schildert Stationen von Kopernikus, Brahe, Kepler und Galilei. Die Philosophie habe über 1000 Jahre im Bann von Aristoteles gestanden. «Erst in der christlichen Perspektive, die Gott und die Natur als voneinander getrennte Grössen betrachtet, wird eine freie, experimentierende Wissenschaft überhaupt möglich.»
Das Arbeitsethos, das den Westen nach vorn katapultierte, Kunst, Architektur, Musik und Literatur wuchsen auf dem Boden des Christentums. 24 Seiten widmet der Autor der Sklaverei und dem Kampf gegen sie in den USA. Der Amerikaner sieht es als erwiesen an, «dass die Freiheit und die Rechte des Einzelnen in denjenigen Ländern am weitesten entwickelt sind, die am stärksten durch das Christentum geprägt wurden». Dass die USA einen Niedergang erleben könnten, schliesst Alvin Schmidt nicht aus. Er zitiert einen anderen Autor: «Man entferne die Bibel als Leitstern des amerikanischen Staatsschiffs, und das ganze Gebäude der amerikanischen Zivilisation stürzt in sich zusammen.» Auch die nicht-religiösen Westler zehrten «von dem Erbe…, das das Christentum ihnen hinterlassen hat».
Werner Dahlheim
Die Welt zur Zeit Jesu
C.H. Beck, München, 2013, (4. Auflage 2017)
978-3-406-65176-2 Leseprobe
Pedro Barceló
Das Römische Reich im religiösen Wandel der Spätantike
Kaiser und Bischöfe im Widerstreit
Friedrich Pustet, Regensburg, 2013
978-3-7917-2529-1
Thomas Kaufmann
Erlöste und Verdammte
Eine Geschichte der Reformation
C.H. Beck, München, 2016, 2017 (4. Auflage)
978-3-406-69607-7 Leseprobe
Matthias Krieg, Anne Durrer
Wolkenalphabet
365-mal reformierte Kulturgeschichte
TVZ, Zürich, 2016
978-3-290-17886-4
Michel Roquebert
Histoire des Cathares
Hérésie, Croisade, Inquisition du XIe au XIVe siècle
Perrin, Paris, 1999/2002
978-2-26201-8948
Jacques Rossel
Aux Racines de l’Europe Occidentale
Editions Basilea, Basel (Studienausgabe), 1995
978-3-85555-042-5
Larry Siedentop
Die Erfindung des Individuums
Klett-Cotta, Stuttgart, 2016 (2. Auflage)
978-3-608-94886-8 Leseprobe
Vishal Mangalwadi
Das Buch der Mitte
Wie wir wurden, was wir sind: Die Bibel als Herzstück der westlichen Kultur
Fontis, Basel, 2014
978-3-03848-004-4
Alvin J. Schmidt
Wie das Christentum die Welt veränderte
Menschen - Gesellschaft - Politik - Kunst
Resch, Gräfelfing, 2009
978-3-935197-58-8