Glaube stützt sich auf Gemeinschaft

Die Autoren eines neuen Buchs leiten aus umfangreichem Datenmaterial Befunde ab, die allen Kirchenleuten einfahren müssten – auch wenn sozialwissenschaftlich ausgewertete Umfragen nie die ganze Wahrheit sagen. Sie bilden die Entwicklung des letzten Jahrzehnts ab; eine grosse Umfrage fand 2018 statt. Das Buch wurde in der Corona-Zeit geschrieben. Die Ergebnisse fordern heraus. «Insgesamt gilt zunehmend ‹neither believing nor belonging›.»


Mit jeder Generation nimmt der Anteil der Gläubigen und auch die Religiosität, die in Umfragen messbare Intensität der Glaubenspraxis in der Schweiz ab. Der erkennbare Hauptgrund: Seit Generationen geben Eltern ihre Religiosität ihren Kindern nicht weiter bzw. vermitteln ihre eigene Distanz zu Glauben und Kirche so, dass die Kinder wegdriften und säkular(er) leben.

Und wenn Eltern es versuchen, gelingt es oft nicht: Die Säkularisierung resultiert – so das Fazit der Religionssoziologen – aus zunehmend wirkungsloser oder nicht nachhaltiger religiöser Sozialisation in Kindheit und Jugend.

Zehn Autorinnen und Autoren aus Soziologie, Theologie, Psychologie und Religionswissenschaft haben sich für ein Buch zusammengetan, das die Reihe der durch Roland Campiche und Jörg Stolz geprägten religionssoziologischen Werke fortsetzt. Vier von ihnen arbeiten am Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts (SPI) in St. Gallen.

Das Sammelwerk (Einleitung, sechs Aufsätze, Ausblick) kann als open access-Publikation integral aus dem Internet heruntergeladen werden. Hier sind Befunde und Einschätzungen collagenartig zusammengestellt, mehrheitlich in Zitatform. Ein Kommentar wird folgen.
 

Säkularisierung individuell und gesellschaftlich
«Säkularisierung auf individueller Ebene sollte man sich nicht primär als eine Abnahme der Religiosität von Personen im Erwachsenenalter vorstellen (obwohl auch dies vorkommen kann). Wichtiger scheint vielmehr die Tatsache, dass jede neue Generation etwas weniger religiös ist als die bisherigen.»

Die Religionszugehörigkeit jüngerer Kohorten (Altersgruppen) sinkt im Lebensverlauf etwas schneller ab als diejenige älterer Kohorten – sie treten häufiger aus.

«Die Säkularisierung der Gesellschaft wird nicht durch einen Aufschwung einer individualisierten Religiosität (‹believing without belonging›) oder einer holistischen (ganzheitlichen, esoterisch orientierten) Spiritualität wettgemacht. Christliche Glaubensüberzeugungen und christliche Praxis nehmen in gleicher Weise ab.»

Für die These, dass Menschen ohne kirchliche Bindung individuell glauben und diesen Glauben bewahren, finden die Forschenden keinen Beleg. «Insgesamt gilt zunehmend ‹neither believing nor belonging›.»

Was kommt nach dem Tod?
Schweizerinnen und Schweizer, die 1961–1980 geboren wurden, glauben auffälligerweise häufiger an ein Leben nach dem Tod als ältere Landsleute.

Die Gruppe der Alternativ-Religiösen (Esoteriker) wächst insgesamt nicht, aber deutlich mehr Schweizerinnen, vor allem jüngere, treiben Yoga.

Religionslosigkeit pflanzt sich fort
Die Fragen nach der Glaubenspraxis ergeben, dass der Kirchgang im Lauf des Lebens ziemlich stabil bleibt (jüngere Kohorten vermindert), während der Glaube an Gott und das Beten bei vielen im Lauf der Jahre abnehmen.

«Wenn nur schon ein Elternteil nicht religiös zugehörig ist, so ist es sehr wahrscheinlich, dass die befragte Person selbst auch nicht religiös zugehörig werden wird.»

Von den religionslosen Personen sagt jede sechste, dass einst zumindest ein Elternteil religionslos gewesen sei, von den religiös Zugehörigen nur jede fünfzigste. Religionslosigkeit breitet sich nicht nur in Städten und Agglomerationen aus. Religionslos sind überdurchschnittlich häufig Personen mit Migrationshintergrund (erste Generation).

«Der Hauptgrund der Säkularisierung besteht … darin, dass verschiedene Faktoren (z. B. Pluralisierung, höhere Bildung, säkulare Alternativen) religiöse Sozialisierung erschweren.» (siehe unten)

Weniger Vertrauen in die Kirchen
«Die Kirchen haben in der Vergangenheit Vertrauen verloren. Im Vergleich mit anderen wichtigen gesellschaftlichen Akteuren wird ihnen aktuell am wenigsten Vertrauen entgegengebracht. Insbesondere die Konfessionslosen gehen gegenüber den Kirchen zusehends auf Distanz.» «Dies führt dazu, dass der gesellschaftliche Einfluss der Kirchen sinkt.»

«Gerade für die Kirchen erweist sich Vertrauen als eine kostbare Ressource, die durch fehlende Nähe zu den Bedürfnissen der Gläubigen sowie Fehlverhalten der Entscheidungsträger:innen und kirchlichen Organe leicht verspielt werden kann.»

Reformierte äussern in der Umfrage von 2018 deutlich mehr Vertrauen in das Bildungssystem und in das Rechtssystem als in Kirchen und religiöse Organisationen.

«Vertrauen entsteht in mühseliger, tagtäglicher Kleinarbeit. Es wächst in kleinen Schritten bei denen Menschen, die kirchliche Mitarbeiter:innen und die Kirche als Organisation als verlässlich, zugewandt, integer, barmherzig und glaubwürdig erleben.»

Trend zur Auflösung des Kerns
«Jedes dritte Mitglied der römisch-katholischen (38 %) sowie der evangelisch-reformierten Kirche (37 %) überlegt sich, aus der Kirche auszutreten.» «Der Austrittsgedanke findet sich … auch bei Personen mit mittlerer bis höherer Identifizierung.»

Auch der Mitgliederkern der «Institutionellen», der engagierten, ihrer Kirche innerlich verbundenen Mitglieder und Kirchgänger, schmilzt. «Aufseiten der evangelisch-reformierten Kirche (wird im Vergleich zur katholischen Kirche) sogar ein verstärkter Trend zur Auflösung des Kerns der ‹institutionellen Kirchenmitglieder› (-6,8 %) sichtbar.»

«Der Anteil Reformierter 2018, welche die Kirche für sich persönlich (eher) nicht wichtig finden, (ist) mit 34,8 % leicht grösser als der Anteil derjenigen, denen sie (eher) wichtig ist (31,5 %).»

Kirchenbindung und Austritt
«Wer die Kirche für sich persönlich als wichtig taxiert, ist aus religiös-spirituellen Gründen mehr an sie gebunden und ist entsprechend weniger austrittsgeneigt als Personen, die die Kirchen nur als wichtig für andere bezeichnen.» «Unter den katholisch oder reformiert aufgewachsenen Befragten generell wird die persönliche Relevanz der Kirche von 2009 zu 2018 im Mittel dagegen signifikant tiefer eingeschätzt. Sowohl die «distanzierten Zugehörigen» als auch die «Säkularen» und «Alternativen» stimmten 2009 der persönlichen Wichtigkeit der Kirchen noch deutlich stärker zu.»

«Der Kirchenaustritt steht in der Regel am Schluss eines (meist) längeren Prozesses. Häufig lässt sich bereits eine zunehmende Entfremdung von der Kirche während der Noch-Mitgliedschaft beobachten. Das zeigt sich etwa an den sinkenden Tauf- und Trauquoten ... Ein Schneeballeffekt droht, da es zunehmend sozial akzeptiert ist, nicht Mitglied einer Kirche zu sein.»

«Je weniger Kontakt zwischen den Befragten und ihrer Kirche besteht und je areligiöser sie sich empfinden, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, aus der Kirche auszutreten.»

«Entkirchlichungsprozesse nehmen zu, wenn es den Kirchen nicht gelingt, für die Kirchenzugehörigen persönlich wichtig zu bleiben oder wenn Störungen dazu führen, dass die übrigen Wichtigkeitsdimensionen der Kirche nicht mehr ausreichen, um die Kirchenbindung aufrechtzuerhalten.» (Skandale)

«Auch wenn die Kirchenbindung durch unterschiedliche Dimensionen der Wichtigkeitszuschreibung aufrechterhalten wird, muss die persönliche Wichtigkeitseinschätzung («Wie wichtig oder nicht wichtig ist Kirche für Sie persönlich?») als besonders relevant angesehen werden. Diese persönliche Wichtigkeitseinschätzung hängt wiederum oft mit dem Grad der kirchlich-religiösen Sozialisation in der Kindheit zusammen.»

«Die bisherigen Befunde zeigen, dass die Kirchenbindung in hohem Masse mit dem Grad persönlicher Überzeugung von christlichen Glaubensvorstellungen und der Intensität kirchlich-religiöser Praxis zusammenhängt. Allerdings steht der Endpunkt der Kirchenbindung, also der (formale oder innerliche) Kirchenaustritt, nicht automatisch für den Totalverlust christlicher Glaubensvorstellungen oder für den Abbruch einer persönlichen Gottesbeziehung. So geben viele heute sich ‹säkular›, ‹alternativ› oder ‹distanziert› beschreibende Menschen an, auch ohne Kirche oder Gottesdienste einen Zugang zu Gott zu finden.

Im Blick auf subjektive Religiosität/Spiritualität lässt sich also zwischen (hoch)-religiösen bzw. ‹institutionellen› Kirchenzugehörigen und ehemaligen Zugehörigen kein klarer Bruch feststellen, sondern vielmehr ein Kontinuum der Auflösung christlich-religiöser Vorstellungen und Praxen.»

Kirchen gelten manchen als Bewahrer der Kultur
«Im Kontext eines beschleunigten gesellschaftlichen Wandels und insbesondere im Kontext der Schweiz als einer Einwanderungsgesellschaft wird religiöse Zugehörigkeit zum Christentum und damit auch noch eine gewisse Verbundenheit mit den Kirchen als möglicher Ausdruck einer die eigene kulturelle Identität wahren wollenden Haltung der Abgrenzung gegenüber anderen erkennbar.»

Ein genauerer Blick zeigt, dass zwei konfligierende Identitätsmuster, ein religionsplural-tolerantes und ein gegenüber religiöskultureller Diversität abgrenzendes Muster vorliegen. Insbesondere die Zustimmung zu einem abgrenzenden kulturellen Identitätsmuster dürfte bei ungefähr der Hälfte der ansonsten persönlich kirchendistanzierten Zugehörigen zur Aufrechterhaltung der Kirchenzugehörigkeit beitragen.»

Was kirchlicher Unterricht nicht mehr leistet
«Religiöse Zugehörigkeit wird in der Schweiz noch immer überwiegend familiär tradiert. Die Mitgliedschaft zu einer der großen Konfessionskirchen erfolgt meist automatisch über die Zugehörigkeit der Eltern – also durch Geburt und Einfügung in die religiöse Zugehörigkeitstradition der Familie. Konversionen über den Rahmen der familiär ‹geerbten› Zugehörigkeit (oder Nichtzugehörigkeit) hinaus sind selten. Auch die Entwicklung und Nachhaltigkeit von Kirchenbindung und Religiosität/Spiritualität über die Kindheit hinaus beginnt in der Familie, denn hier erlernt und internalisiert ein Mensch Grundwerte und -orientierungen, die ihn ein Leben lang prägen.»

«Strukturell sind viele Angebote auf das Setting der Familienphase mit Kindern ausgerichtet, was bedeutet, dass weite Teile der Kirchenmitglieder nicht mehr oder kaum erreicht werden, da die Elterngeneration einen hohen Grad an Kirchendistanzierung aufweist. In inhaltlich-methodischer Hinsicht stossen viele kirchliche Angebote bei dieser Generation kaum mehr auf Akzeptanz oder Interesse.»

«Mit Beginn des Jugendalters und jenseits familiärer Lebenssituationen mit Kindern scheinen diese Sozialisationsmassnahmen der Kirchen deutlich weniger zu greifen. So tragen sie heute insgesamt kaum noch zu einer lebenslangen stabilen Kirchenbindung und zur Entwicklung einer eigenen religiösen Praxis und zur Übernahme christlicher Glaubensvorstellungen bei.»

«Den untersuchten sozialisierenden Angeboten der Kirchen mangelt es an Antworten auf Herausforderungen durch Säkularisierung und religiös-spirituelle Individualisierung. Zudem werden sie den heutigen Anforderungen des selbstbestimmten und ‹lebenslangen Lernens› in Bezug auf religiöse Fragen nicht ausreichend gerecht. Die Kirchen sind damit grundlegend herausgefordert, ein neues Selbstverständnis gegenüber der Gesellschaft und ihren Individuen zu finden.»

Religion wird ersetzt
«Für die Individuen bedeutet die ständig zunehmende religiöse Säkularisierung und Individualisierung, dass sie ihren Lebenssinn zunehmend aus anderen, nichtreligiösen Quellen schöpfen.»

Reformierte säkularer als Katholiken
Katholizismus und der Protestantismus erscheinen den Forschenden als «zwei voneinander zu unterscheidende Kultursphären». Bei den Reformierten ist der «Prozess der Säkularisierung schon wesentlich weiter fortgeschritten … Reformiert sozialisierte Personen gehen oder gingen in ihrer Kindheit viel seltener in die Kirche als katholisch sozialisierte.»

Religion und Politik
«Religion und religiöse Themen bleiben ein wichtiger politischer Faktor in der Schweiz. Hierbei sind es jedoch in abnehmendem Masse die alten konfessionellen Gräben, welche die politische Meinung und das Abstimmungsverhalten der Individuen bestimmen. Vielmehr erhalten spezifische religiöse Themen (z. B. Minarettinitiative, Burkaverbot, Religionsfreiheit, Verhältnis von Kirche/Staat, Konzernverantwortungsinitiative) und Religion als soziale Identität (‹der Islam› als Bedrohung der ‹christlichen Schweiz›) ein neues politisches Gewicht. Die Konflikthaftigkeit von Religion und Religionspolitik speist sich in der Schweiz damit stärker aus der Politik selbst als aus dem religiösen Feld und der gelebten Religion im Alltag.»

«Das mit der Religionsfreiheit verbundene Trennungsprinzip kann … nicht mehr umstandslos dem politischen Grundkonsens zugeordnet werden. Es deutet sich eine gewisse religiös-säkulare Konfliktkonstellation an. Beachtlich ist auch die vergleichsweise hohe Bereitschaft religiöser Menschen, im Konfliktfall ihren eigenen Glaubensüberzeugungen Vorrang vor einem dazu potenziell widersprechenden staatlichen Gesetz zu geben. Sobald es um die persönliche religiöse Identität geht, ist man bereit, diese zu schützen. Am stärksten, aber keinesfalls ausschließlich war dies unter den Mitgliedern von Freikirchen anzutreffen.»

Mit der Säkularisierung wie der gleichzeitig wachsenden, meist migrationsbedingten religiösen Diversität wächst «der Bedarf nach Verständigung zwischen Menschen unterschiedlichster, stärker oder schwächer identifizierbarer religiöser, spiritueller oder säkularer Identitäten. Vorstellbar ist, dass sich durch Säkularisierung zunehmend ein Graben zwischen religiösen und säkularen Menschen auftut.»

«Der Bedarf nach Sinn, Gemeinschaft und zivilgesellschaftlichem Engagement in einer ausdifferenzierten, individualisierten und vor allem zunehmend mediatisierten Gesellschaft wird eher steigen.»

Schweiz als Teil des Westens
Die Umfragen zeigen, «dass die Schweiz sich ganz offensichtlich in religiöser Hinsicht sehr ähnlich verhält wie fast alle westlichen Länder. Die Säkularisierung entsteht zu einem wichtigen Teil durch eine Ersetzung von Kohorten. Es handelt sich um ‹Generationen abnehmenden Glaubens›.»

Ein Kommentar zu diesen Ergebnissen und Einschätzungen folgt.

 

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Oliver Wäckerlig · Urs Winter-Pfändler

Religionstrends in der Schweiz
Religion, Spiritualität und Säkularität im gesellschaftlichen Wandel

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