Der Heilige und das Land

Über die Zeiten hinweg bewegt Niklaus von Flüe Menschen und lädt zu unbedingter Hingabe und Liebe zu Gott ein. Dem faszinierenden Vorbild des Einsiedlers spürte am 9. September eine Tagung des Schweizer Netzwerks «Miteinander für Europa» in Flüeli nach. Sie zeigte den Grund auf, aus dem die anhaltend aufregende und verbindende Wirkung von Bruder Klaus erwächst.

Am Beginn der Tagung standen vier Impulse von Theologen zur Aktualität des Visionärs und Friedensstifters, der vor 600 Jahren geboren wurde. Wie ist ein Mensch des 15. Jahrhunderts eine prophetische Stimme für heute? Peter Dettwiler verwies auf Niklaus‘ Weg von aussen nach innen. Um seine Berufung zu finden, ging er Umwege. Das bringt ihn uns nahe. «Auch unser Weg verläuft selten geradlinig.»

In der Klause, nicht weltfremd
Der Landmann und Familienvater gab alles auf, um im Ranft Gott zu suchen. Im radikalen Loslassen ist Bruder Klaus Vorbild, sagte Dettwiler: «eine prophetische Gestalt auch und gerade für unsere Zeit». Die heutige Generation «hat alles und hat doch nie genug».

Der Einsiedler, so der Pfarrer, steht keineswegs für die Geringschätzung von Familie, Beruf und gesellschaftlichem Wirken. Vielmehr verkörpert er, was Jesus sagte: «Wer sein Leben verliert, wird es finden.» Dem Schluss des Gebets von Bruder Klaus «… und gib mich ganz zu eigen dir» entspricht die erste Antwort des reformierten Heidelberger Katechismus: Der einzige Trost im Leben und im Sterben ist, «dass ich mit Leib und Seele … meines treuen Heilandes Jesu Christi eigen bin».

Weg nach innen: Peter Dettwiler.

Ehemann und Einsiedler
Pater René Klaus teilte drei Anregungen für Ehepaare und Familien. Vom Ehealltag von Niklaus von Flüe und Dorothea Wyss (der erst in jüngster Zeit angemessene Beachtung zuteil wird) ist zwar kaum etwas bekannt. Der Einsiedler bezeichnete es später als die grösste Gnade, dass er es ohne Rückkehr zu Frau und Kindern aushielt – Ausdruck seiner Liebe zu ihnen, wie der Pater der Schönstatt-Bewegung sagte. Einer Bemerkung könne entnommen werden, dass er mit seiner Frau gern getanzt hatte.

«Aus Liebe gewoben»
Auf der Bank vor dem Haus (noch heute zu sehen) werde Niklaus mit Dorothea oft gesessen haben, sagte der erfahrene Familienseelsorger. Für heute heisst das: «Pflegt das regelmässige Gespräch untereinander – und das gemeinsame Gespräch mit Gott.»

Das Pilgergewand wurde von Dorothea nach der Überlieferung «aus Liebe gewoben», unter grossem Schmerz. Pater Klaus: «Nur wo Leid aus Liebe zusammen getragen wird, kann reiche Fruchtbarkeit entstehen.» Der Einsiedler werde heute auch von orthodoxen Gläubigen als Starez verehrt, er sei «zum geistlichen Vater vieler Menschen und sogar vieler Völker» geworden.

Dem Höchsten nahe
Es war die Erfahrung der Liebe Gottes, die aus Bruder Klaus einen Zeugen seiner Nähe machte. Der Waadtländer Pfarrer Martin Hoegger schilderte ihn als den Mann, der jeden als Bruder, jede als Schwester aufnahm und in ihnen Christus sah. «Offen und lächelnd», schrieb ein Zeitgenosse, habe er seine Besucher aufgenommen.

In der Betrachtung Christi, des Gekreuzigten, hatte Niklaus seine Angst in einer Prüfung überwunden. So vermittelte er zwischen den Abgeordneten der Tagsatzung in Stans, die sich nach den Siegen über Karl den Kühnen von Burgund zerstritten hatten. Und schärfte den Bernern ein, dass sie Frieden als göttliche Gabe und zugleich als ihre Verantwortung zu sehen hätten. Laut Martin Hoegger hat Niklaus von Flüe das Evangelium durch sein Leben erklärt. «Seine Stärke und Verbundenheit mit der Realität verdankt er dem täglich in Leben umgesetzten Wort Gottes.»

Niklaus von Flüe und Ulrich Zwingli: zwei prägende Eidgenossen.

Gott suchen, um jeden Preis
Dem lag die Entschlossenheit zu Grunde, die Urban Camenzind in seinem Kurzimpuls zum Ausdruck brachte: sich Gott allein zu ergeben und sein Diener zu sein. Die Erfahrung Gottes, die Begegnung mit ihm brachte Niklaus und Dorothea an den Punkt, an dem sie einander loslassen konnten.

Bruder Klaus schaute in einer Vision, dass Gott über ihm (!) das Halleluja sang. Was er erfuhr, Gottes Liebe, müsse auch für sie eine Freude gewesen sein, äusserte Camenzind. «Unglaublich, was Gott heute mit uns tun könnte, wenn wir uns ihm ganz überlassen.»

Nach Gruppengesprächen und der Mittagspause, in der wegen Dauerregen nur wenige in den Ranft hinuntergingen, hielt Josef Rosenast, seit 2016 Bruder-Klausen-Kaplan, ein Grusswort. Er bezeichnete Niklaus und Dorothea als «zwei hervorragende Laienapostel». Sie könnten den Gläubigen gemeinsam als Vorbild dienen, «in einer Zeit, wo das Miteinander gefragt ist».

Die Aktualität des Heiligen
Vor dem abschliessenden Gebetsgottesdienst, in dem die 250 Teilnehmenden Bitten einbringen konnten, fand ein Podium statt. Auf der Bühne unterhielten sich zwei Kenner, denen Bruder Klaus seit Jahrzehnten vor Augen steht, mit jüngeren Christen. Engagiert befragte Selomie Zürcher den Biografen Dr. Roland Gröbli und Pfr. Geri Keller, dessen Büchlein über den Gottsucher im Frühjahr erschien, sowie Alisha Furer (Jahu Biel) und Pater Raffael Rieger von der Schönstatt-Bewegung.

Bauer und Visionär: Roland Gröbli über Bruder Klaus.

«Wir Junge lassen Stille nicht mehr zu, setzen uns nicht mehr dem Ringen aus», meinte Furer und stellte die Erfolgsorientierung ihrer Generation in Frage. «Er schaffte den Durchbruch, als er beschloss, in die Stille zu gehen.»

Einzigartig reiches Bild Gottes
Roland Gröbli schilderte, wie das Innerschweizer Gedenkjahr seit 2013 unter dem Motto «Mehr Ranft» aufgegleist wurde. Das Interesse reicht weit übers katholische Milieu hinaus – auch weil Visionen heute ganz starke Aussagekraft haben, wie Keller bemerkte. «Das Gottesbild unterläuft für mich alle Theologie und Dogmatik», fügte der Reformierte an. Das von Bruder Klaus vermittelte Gottesbild habe er in solcher Dichte und Farbigkeit bei keinem anderem entdeckt.

Moderatorin Selomie Zürcher (Bild: Patrizia Jurietti).

Keller erwähnte die in der Trinität verwurzelten, faszinierenden, teils unorthodoxen Visionen des Einsiedlers. Sie bringen zum Ausdruck, dass wir «nicht einfach einen Gott anbeten wie gehabt. Sondern dieser Gott hat Hunderte von Wegen, dem Menschen immer wieder in neuer Gestalt zu begegnen.»

Der Ur-Schweizer
Rieger kam auf Bruder Klaus‘ Bedeutung für die Schweiz und ihren Föderalismus zu sprechen: Vielfalt ist in Einheit lebbar. Gröbli wies darauf hin, dass das Stanser Verkommnis für über 300 Jahre die Grundlage der Eidgenossenschaft bildete. 1481 wurde mit Fribourg der erste französischsprachige Ort aufgenommen. Bruder Klaus gelte Romands und Tessinern als ein Garant des Schutzes von Minderheiten. Der Einsiedler steht für das Zusammenwirken von Stadt und Land und dafür, dass freundschaftliche Lösungen weiter tragen.

Patron der Einheit
Niklaus von Flüe ist ein Wegweiser, meinte Geri Keller, auch für evangelische Christen. Als feuriger Katholik habe der Obwaldner einen unheimlich hohen Preis bezahlt und alles losgelassen, um ganz Jesus zu gehören. Dies sei sein Geheimnis: dass Jesus in ihm und er in ihm gelebt habe. «Wo das geschieht, fallen konfessionelle Schranken und Vorbehalte weg.»

Geri Keller hat ein Büchlein über Niklaus von Flüe geschrieben.

Roland Gröbli sieht Niklaus darin nahe bei den Reformatoren, dass das Meditationsbild mit dem Rad und seinen sechs Speichen «ein gültiger Versuch ist, Gott auf den zu reduzieren, der er ist. Gott geht von der Mitte aus, umfasst Himmel und Erde und kehrt in die Mitte zurück.» Der Einsiedler habe so die Kirche befreien wollen «von allem Rankwerk», von dem, was von Gott ablenkt. Nach dem Ende der konfessionellen Polarisierung werde er heute zu Recht als übergreifende spirituelle Leitfigur verehrt.

Nicht ohne Dorothea
Das Podium beleuchtete auch die Rolle von Dorothea Wyss. Niklaus war 28, als er sie heiratete. «Wahrscheinlich hat seine Frau gespürt, dass er besonders bedächtig ist, dass er Zeit für sich und das Gebet braucht.» Niklaus nahm seine Verantwortung für Frau und Kinder wahr. Als er wegging, blieb ihnen der Hof. Sein ältester Sohn Hans übernahm ihn. Er war bereits mit der Tochter eines amtierenden Landammanns verheiratet, was nach Gröbli zeigt, dass die Familie gewillt war, in die Elite Obwaldens hineinzuwachsen.

Heute ist klar: «Ohne Dorothea gibt es keinen Bruder Klaus.» Er habe ihre Unterstützung, ihre Kraft gebraucht, um seinen Weg zu gehen. Der Biograph hob die Schwierigkeit hervor, als Einsiedler so nahe bei der Familie, unweit der Wärme der Küche in der kalten Klause zu leben.

Website des Schweizer Netzwerks «Miteinander für Europa»
Website «Mehr Ranft» mit den Jubiläums-Aktivitäten