Bewegt sich die Kirche?
Was braucht die Kirche für ihre Zukunft? Die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn haben am 15. und 16. März an einer Tagung in Wabern einen Überblick über neue Formen versucht, nicht ohne die gesellschaftlichen Umbrüche zu bedenken. Denn diese verflüssigen auch, was bisher Kirche ausmacht, wie der Pastoralsoziologe Arnd Bünker vom SPI St. Gallen ausführte. Uta Pohl-Patalong aus Kiel öffnete den Fächer von Gemeindemodellen.
Die Tagung trug den programmatischen Titel «Kirche in Bewegung». Die Veranstalter boten den 120 Teilnehmenden zu Beginn zwei Grundsatzreferate und halfen sie einzuordnen; am Nachmittag folgten Workshops. Am Samstag wurden Folgerungen für die Kirche durch ein Podium erörtert. Der abtretende Synodalrat Stefan Ramseier rief dazu auf, Strukturen, welche inhaltliche Bewegung verhindern, zu überdenken.
Auf einem Parcours befassten sich dann zusammengewürfelte Gruppen mit Kirchenentwicklung. Der Synodalrat Iwan Schulthess fasste am Schluss Anregungen zusammen und sagte zu, die aufgeworfenen Fragen weiter zu bearbeiten – für eine lebendige und hoffnungsstiftende Kirche.
Hier ist der Beginn der Tagung mit den zwei Eingangsreferaten zusammengefasst. Die Veranstalter haben sie und weitere Elemente online gestellt.
Den Megatrends unterworfen
Die grösste reformierte Kirche der Schweiz ist den säkularen Megatrends nicht weniger als andere ausgesetzt. Der Anteil der Reformierten an der Berner Bevölkerung sinkt unter 50 Prozent. Gravierender ist die tiefgehende Verunsicherung angesichts der Verflüssigung von bestehenden Verhältnissen, des Zerfalls von Gewissheiten. Eindringlich legte dies Dr. Arnd Bünker dar. Er leitet das Schweizerische Pastoralsoziologische Institut SPI in St. Gallen, die wichtigste derartige Forschungsstelle in der Deutschschweiz.
Bünker ging aus von Zygmunt Baumans Begriff der «liquid modernity», mit welchem der Soziologe postmoderne Verflüssigungsprozesse zu fassen suchte. (Alternativ wird im Deutschen auch der Begriff «fluid» verwendet.) Der Kern ist die Erfahrung ständigen und nicht steuerbaren Wandels in fast allen Lebensbereichen. «Die Welt ändert sich, erwartet von uns Anpassungsleistungen. Wir sind nie auf der Höhe der Zeit.»
Reissender Strom
Die Moderne sei ursprünglich in Begriffen des Fortschritts einigermassen linear gedacht worden (höher, weiter schneller). Nun aber entgleitet den Menschen die Berechenbarkeit bzw. die Kontrolle und was Bestand hatte, verflüssigt sich: Traditionen und Werte, Heimat, Geschlechter-Identitäten, die Herrschaft über Maschinen und nicht zuletzt die alten Formen der Solidarität und damit das Vertrauen in soziale Systeme, deren kulturelle Grundlagen zu zerbrechen scheinen. Bünker: «Die Differenz ist in der fluiden Gesellschaft grösser als die Gemeinschaft.»
Dies alles verunsichert umso mehr, als das Weitere nicht absehbar, nicht planbar ist. «Die Zeit bietet keinen Raum der Sicherheit. Wird das System übermorgen halten, was es gestern versprochen hat?» Wenn Unsicherheit alle menschliche Erfahrung prägt und durchdringt, muss es laut Arnd Bünker auch den Kirchen darum gehen, «Unsicherheit einzudämmen und mit ihr umgehen zu lernen, Unsicherheiten zu bewältigen». Dies sei nicht einfach, da die Quelle der Verunsicherung kaum auszumachen sei und sie von allen Seiten komme.
Unentrinnbarer Sog des Marktes
Als Motor des Ganzen bezeichnete Arnd Bünker den «kulturell hegemonialen Kapitalismus» (Rainer Bucher). Es bestehe keine Aussicht, ihn insgesamt zu überwinden. Die Marktlogik durchdringe alles; sie verursache Stress, weil sie dem Einzelnen mit der unübersichtlichen Vielfalt der Optionen zwar viel Freiheit ermögliche, aber ihm zugleich alle Verantwortung individuell aufbürde. Das Leben im kulturell hegemonialen Kapitalismus sei ein Leben auf eigenes Risiko.
Die Kirchen stehen da mittendrin, wie der Pastoralsoziologe aus St. Gallen ausführte. Durch ihre – in Bern nochmals bestätigte – Staatsnähe konnten sie ihre sakrale Macht im Modus staatlicher Macht ausüben. Und manche dieser Formen halten sich bis heute. Doch stehen mittlerweile «viele geerbte Selbstverständlichkeiten … unserer Glaubwürdigkeit im Weg».
Testen, was das Zeug hält
Die Kirchen hätten ihren früheren kulturellen Einfluss, ihre alte Rolle verloren, sagte Bünker, auch die «Autorität zu ihrer wirksamen Selbstdeutung». Sie würden daran gemessen, wie sie verschiedenste individuelle Bedürfnisse befriedigten. «Was Kirchen effektiv sind, definieren ihre Mitglieder.» Auch die Tagung, im alternativen Kulturhaus «Heitere Fahne» in Wabern durchgeführt, spiegle dies: «Hier wird getestet, was das Zeug hält: die Kirche, der Glaube, die Menschen.»
Auch wenn in der anschliessenden Diskussion bemerkt wurde, manche von Bünkers Bemerkungen träfen besonders auf die römisch-katholische Amtskirche zu, stellte niemand in Frage, dass die Analyse wesentliche Herausforderungen auch für die Reformierten beschreibt. «Die Kirche ringt selbst um die Sicherheit, die sie als Zeugin des Evangeliums verspricht», äusserte der Gast aus St. Gallen. «Gott ist der Kirche zwischen den Fingern zerronnen. Er ist der Gesellschaft und immer mehr auch den Kirchenmitgliedern egal, jedenfalls weitgehend irrelevant.»
«Fluide Gegenwart Gottes»
Daher müsse es um ein Verständnis von Gott gehen, das der Fluidität des Lebens gerecht wird. Gott dürfe nicht als Gegenrealität zum Kapitalismus vermarktet werden. «Es muss darum gehen, Gott im Vagen zu lassen, ... dass Gott sich … ereignen kann, aber kein Produkt ist.» Dies obwohl sich die Kirchen der kapitalistischen Angebotskultur nicht entziehen könnten.
Arnd Bünker hofft darauf, dass «Gott in diesen fluiden Zeiten zur Verunsicherung der Verunsicherung beiträgt». Er sieht eine Chance darin, dass Kirchenleute Routinen des Alltags durchbrechen; damit punkteten etwa Pfarrer und Nonnen in deutschen TV-Serien. Dabei werde die «Institution Kirche konsequent relativiert, angesichts der Nöte der Menschen». Dies sei sportlich zu nehmen, mit Selbstironie, kommentierte Bünker. In fluiden Zeiten sei die Kirche noch radikaler gefordert, sich im Dienen zu beweisen und sich in den «état de mission» zu versetzen.
Sechs Modelle für die Kirche von morgen
Den zweiten Hauptvortrag hielt Dr. Uta Pohl-Patalong, Professorin für Religionspädagogik, Predigtlehre und Kirchentheorie an der Universität Kiel. Sie skizzierte zuerst sechs «Modelle einer künftigen Gestalt von Kirche» und nannte dann acht Elemente, die in die Gestaltung einfliessen. Die sechs Modelle, so Uta Pohl, müssen sich daran messen lassen, ob sie der aktuellen Kommunikation des Evangeliums dienen.
Im ersten Modell – Kirche als Ortsgemeinde – wird die «Koppelung von Religion und Geselligkeit» priorisiert. Es ist milieuübergreifend und pfarrerzentriert und fokussiert nicht auf Zielgruppen. Andere Formen auf Ortsgemeinde ausrichten. An Kirchenreformer ergeht von den Verfechtern dieses Modells (namentlich Isolde Karle) der Appell, Kirchenleitungen sollten Gemeinden nicht in ihren Reformbestrebungen schwächen.
Die Gemeinde wird als der «primäre Ort der Selbstvergegenwärtigung Christi» ernstgenommen. Allerdings, so Pohl-Patalong, ist nicht ersichtlich, wie das Modell dem Reformbedürfnis begegnet. Zudem werde die Bezogenheit auf bestimmte Milieus nicht überwunden.
Auf einen grösseren Rahmen hin wird Kirche im zweiten Modell gedacht:
Kirche in der Region. Es erlaubt sehr unterschiedliche Formen, von gemeindeübergreifenden Projekten bis zu Grossgemeinden. Regionalisierung, in Deutschland häufig praktiziert, ist laut Pohl-Patalong mittlerweile ein «Containerbegriff, in den alles Mögliche hineingetan wird».
Das Modell favorisiert «gemeindliche Profilbildung»; zu dieser soll die Spezialisierung der Pfarrer beitragen. Wenn das Modell die «behutsame Weiterentwicklung bisheriger Formen» ermögliche, sei doch die Wirkung fraglich. Veränderungsimpulse verpufften bei mangelhafter Umsetzung, bemerkte die Professorin aus Norddeutschland, ohne näher auf die EKD-Reformdebatte einzugehen.
Kirche im Gemeinwesen, das dritte Modell, sieht die kirchlichen mit gesellschaftlichen Akteuren in einem Boot, miteinander bemüht, sich auf Lebenswelten einzulassen. Diakonisch sollen die Lebensbedingungen möglichst vieler Menschen verbessert werden. Haupt- und Ehrenamtliche aus verschiedenen Berufen wirken gemeinsam. Dies gebe dem kirchlichen Handeln öffentlich Plausibilität und motiviere das Ehrenamt, wogegen der Pfarrberuf in Frage gestellt werde, deutete Uta Pohl-Patalong an. Zudem drohe ein verwässertes geistliches Profil und das breite Spektrum kirchlicher Angebote gehe verloren.
Christian Grethlein, Professor in Münster, will das Priestertum aller Getauften 500 Jahre nach der Reformation in der Kirche zur Geltung bringen. Das Evangelium soll jenseits etablierter kirchlicher Strukturen kommuniziert werden, mit dem Fokus, zum Leben zu helfen. Menschen sollen unmittelbar zu Gott sein, ohne kirchliche Vermittlung. Grethlein versteht seine Überlegungen (zuletzt in «Kirchentheorie», 2018) nicht als eigentliches Reformrezept. Die Referentin präsentierte sie gleichwohl als viertes Modell und meinte, zwar werde die Kirche hier strikt auf ihre Aufgabe ausgerichtet, doch würden bestehende Lebensformen unterschätzt.
Das fünfte Modell hat Uta Pohl-Patalong, früher Pastorin in Hamburg, selbst ausgearbeitet, im Zuge ihrer Habilitation. Es geht von «kirchlichen Orten» aus. Als solche verstanden werden alle Orte, wo Kirche stattfindet, auch diakonische Werke und Spitalseelsorge. Jedem kirchlichen Ort sind zwei Bereiche der Arbeit aufgegeben: einerseits gemeinschaftliches Leben, so wie es die Menschen vor Ort wünschen und mit breiter Beteiligung vieler, koordiniert von Hauptamtlichen, gestalten; andererseits Aktivitäten für die Region.
Das Handeln in beiden Bereichen zielt darauf ab, «das Evangelium mit unterschiedlichen Menschen in der pluralen Gesellschaft bestmöglichst zu kommunizieren». Als Vorteile ihres Modells nannte Frau Uta Pohl-Patalong, dass es viele Zugänge zur Kirche eröffne und dass jeder Ort aufgrund vorhandener Potenziale flexibel für die Umgebung wirken könne. Eine vollständige Umsetzung des Modells gelinge allerdings nur auf kantonaler Ebene.
Als sechstes Modell erwähnte die Referentin «fresh expressions» nach anglikanischem Vorbild: neue partizipative Gemeinschaften, (mit)gestaltet von Menschen ohne Bezug zur Kirchgemeinde, häufig mit diakonischen Akzenten. Fresh expressions entspringen der Überzeugung, dass Strukturen dem missionarischen Auftrag der Kirche nicht im Weg stehen dürfen.
Acht Elemente der Gestaltung
Im zweiten Teil ihres Vortrags wurde Uta Pohl-Patalong noch analytischer. Sie legte dar, in welchen Punkten Akteure unterschiedlich handeln können. Die «Elemente der Gestaltung von Kirche» seien möglicherweise noch anders kombinierbar als in den sechs zuvor erwähnten Modellen. Die acht Elemente – weitere könnten identifiziert werden – schliessen verschiedene Handlungsmöglichkeiten ein (vgl. Handout und Video des Vortrags). Es sind:
1. Die Aufgaben der Kirche
2. Der räumliche Bezug
3. Die primären Adressaten
4. Die Orientierung kirchlichen Handelns
5. Die Rollen von Hauptberuflichen und Nebenamtlichen
6. Die primäre Zugangslogik (über Beziehungen, über Inhalte, über Dienste?)
7. Der Charakter und die Bedeutung von Gemeinschaft
8. Das Verhältnis der Kirche zur Gesellschaft
Kontext und Kairos
David Plüss, Professor für praktische Theologie an der Uni Bern, verortete die beiden Referate im Berner Kontext. Er meldete gegenüber Bünker Reserve an. «Neben dem Flüssigen gibt es Gott sei Dank in Gesellschaft und Kirche das Feste, Verlässliche, Beheimatende – und ja, Institutionen.» Zwischen den unterschiedlichen Aggregatszuständen der Kirche bestehe eine Spannung, die produktiv genutzt werden könne.
Zum Referat von Uta Pohl-Patalong meinte Plüss, neben Kirchen-Krisen-Alarmen brauche es «Zeiten und Orte des gründlichen Nachdenkens und Abwägens». Für erfolgreiche Reformschritte sei der Kontext zu berücksichtigen und der Kairos zu nutzen. Endlich komme es auf den Gottesdienst an: «In welchen Formen wird getauft und Abendmahl gefeiert? Wie steht es mit Bestattungen und Hochzeiten?» Mit diesen Fragen sei rasch Feuer im Dach. Visionäre und durchdachte Antworten seien zu finden.