Ja des Kirchenbunds zur «Ehe für alle»

Die Abgeordneten der 26 Mitgliedkirchen des Kirchenbunds haben am 5. November die Neudefinition der Ehe durch den Staat befürwortet und die kirchliche Trauung von gleichgeschlechtlichen Paaren mit 49 zu 11 Stimmen empfohlen. Mehrfach wurde betont, es gelte nun der Diskriminierung Homosexueller mit dem Angebot ihrer kirchlichen Trauung ein Ende zu setzen. Auch nach dem Ja hätten verschiedene Ehe-Verständnisse in der Kirche Platz.

Mit dem Ja zur Änderung des Zivilrechts beschloss die Abgeordnetenversammlung (AV) an ihrer Herbstversammlung in Bern am 5. November auch die Empfehlung an die Mitgliedkirchen, den veränderten Ehe-Begriff für die kirchliche Trauung vorauszusetzen. Die Gewissensfreiheit der Pfarrpersonen soll «wie für alle anderen Kasualien» gewahrt bleiben. Die Empfehlung zur Angleichung der Liturgien strichen die Abgeordneten. – Der folgende Bericht zeichnet die Behandlung des Traktandums nach, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Die knapp zweieinhalbstündige Debatte verlief ohne hitzige oder polemische Äusserungen. Sie hielt nicht, was die kontroversen Stellungnahmen im Vorfeld hatten erwarten lassen; theologische Argumente aus den SEK-Papieren und anderen Dokumenten wurden kaum aufgegriffen.

Ohne sie zu erörtern und abzuwägen, folgten die Abgeordneten zu vier Fünfteln dem Rat und den Wortführern der modernistischen Linie, namentlich aus der Nordwestschweiz. Die von Inner-, Ost- und Westschweizern geäusserten Bedenken richteten nichts aus. Die Schlussabstimmung, wie die vorangehenden geheim durchgeführt, ergab 49 Ja und 11 Nein.

Entscheid – jetzt!
Am Vortag hatte die Versammlung einen Antrag von Willi Honegger, Zürich, abgeschmettert, das Geschäft zu vertagen. Schnelle und Ruckartige Entscheide würden die Gräben vertiefen, hatte Honegger gewarnt. Der Aargauer Kirchenratspräsident Christoph Weber konterte, die Argumente lägen auf dem Tisch und die meisten Kirchen segneten bereits homosexuelle Paare. Der Kirchenbund habe jetzt gegen Diskriminierung zu votieren.

Auch das traditionelle Ehe-Verständnis nennen: Theddy Probst

Sabine Brändlin vom Rat des SEK bemerkte, die öffentliche Debatte zur «Ehe für alle» finde gegenwärtig statt – man wolle nicht zuwarten bis zu einem politischen Entscheid. Auch nach einem Beschluss der AV würden verschiedene Bibel- und Ehe-Verständnisse zur reformierten Kirche gehören. Mit einem Ordnungsantrag erwirkte Christoph Weber, dass die Beratung am Dienstag um 13.30 Uhr, früher als vom AV-Büro geplant, begann.

«Gemeinsam ums Verständnis der Bibel ringen»
Am Dienstag, nach der verkürzten Mittagspause, leitete Sabine Brändlin die Debatte ein. Sie rekapitulierte die Tabuisierung von Homosexualität durch die Reformierten und die Diskriminierung von Homosexuellen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wie auch die Schritte, diese zu beenden. Dann sprang sie auf die Ebene der Ehe und meinte zur aktuellen Polarisierung bei den Reformierten: «Es gehört zum Wesen des Protestantismus, dass wir gemeinsam ums Verständnis der biblischen Texte ringen, dass wir den verschiedenen theologischen Strömungen Raum geben.»

Unterschiede zerbrächen die Gemeinschaft nicht, zitierte Sabine Brändlin den Genfer Kirchenpräsidenten Emmanuel Fuchs. Es gehe jetzt nicht um einen Entscheid zur kirchlichen Trauung gleichgeschlechtlicher Paare; diesen hätten die Kantonalkirchen zu fällen. Brändlin erwähnte Beschlüsse evangelischer Kirchen zur «Trauung für alle» in den Nachbarländern Deutschland, Frankreich und Österreich und schloss mit dem Verweis auf die «unvoreingenommene Liebe Jesu zu den Menschen».

Sabine Brändlin vertrat den SEK-Rat in der Debatte.

Toleranz und Tradition
Michael Candrian von der Obwaldner Kirche plädierte für gegenseitige Toleranz und Freiheit für Kirchgemeinden, solche Trauungen nicht anzubieten. Boris Cretegny von der Freien Evangelischen Kirche Genfs drückte ihr traditionelles Verständnis der Ehe aus und stellte sich hinter das Manifeste bleu der Bewegung R3. Jede Stigmatisierung sei abzulehnen.

Theddy Probst, Zürich, warnte vor einer Spaltung. Er wollte den ersten Antrag des Rats (Ja zur Änderung des zivilrechtlichen Ehe-Begriffs) durch eine Definition der Ehe ergänzt haben. In Anlehnung an die Stellungnahme der lutherischen Kirche Österreichs schlug er vor, das Zweite Helvetische Bekenntnis des Reformators Heinrich Bullinger zu zitieren: «Die Ehe … ist von Gott, dem Herrn, selber eingesetzt, der sie reichlich gesegnet hat und wollte, dass Mann und Frau gegenseitig unzertrennlich anhangen und in höchster Liebe und Einheit zusammenleben.»

Als Sprecher der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn befürwortete Roland Stach den Antrag 1. Die anderen Anträge seien in den Kantonalkirchen vertieft zu diskutieren; dafür ebne ein Ja den Weg.

Gegen Diskriminierung
Catherine Berger, Juristin und Kirchenrätin aus dem Aargau, stützte ihr Plädoyer für die Gleichbehandlung gleichgeschlechtlicher Beziehungen auf den AV-Beschluss vom Juni (homosexuelle Orientierung ein «Ausdruck geschöpflicher Fülle») sowie auf das Diskriminierungsverbot in § 10 der neuen Verfassung der EKS. Sie äusserte, alles Andere sei diskriminierend. Diskriminierung liegt nach Berger vor, «wenn ein sachlich nicht begründetes Kriterium zur Ausgrenzung von Menschen führt». Die Reformierten sollten nun ein Zeichen für Offenheit, Lernfähigkeit und Solidarität setzen.

Einheit in Vielfalt garantieren!
Emmanuel Fuchs, der Präsident der Eglise Protestante de Genève, kritisierte Gottfried Lochers Tamedia-Interview im August als verfrüht. Es gelte die Einheit der Kirche in Vielfalt zu garantieren. In laufenden politischen Prozessen wolle seine Kirche nicht Stellung beziehen.

Der Luzerner Florian Fischer forderte einen vertieften synodalen Austausch nach dem Vorbild der Disputationen der Reformationszeit. Der Basler Stefan Fischer schloss daran an und hinterfragte «paternalistische» Formulierungen des AV-Beschlusses vom Juni. Miriam Neubert, Graubünden, beklagte das Leiden, das verursacht werde, wenn «die Bibel benutzt wird, um eigene Interessen durchzusetzen».

Die Abgeordneten tagten im Berner Rathaus.

Jetzt oder später entscheiden?
Für die St. Galler Kirche, welche dem Kirchenbund die Arbeit zu «Familie-Ehe-Partnerschaft-Sexualität» mit ihrer Motion 2016 aufgegeben hatte, sprach Barbara Damaschke-Bösch (Vizepräsidentin der AV). Sie äusserte, die Reformierten stünden nicht unter Zeitdruck. Der gesellschaftliche Meinungsbildungsprozess sei im Gange. «Wir kennen den neuen Ehebegriff noch nicht.» Sie forderte vom Rat des SEK ein allgemein verständliches Argumentarium – im Rahmen des gesamten Themenfeldes der Motion. Die Abkoppelung der Ehe-Frage aus der Motion lehne die St. Galler Kirche ab, sagte Barbara Damaschke und beantragte Rückweisung.

Dagegen wandte sich Martin Stingelin, der Baselbieter Kirchenratspräsident. Das mit der Motion angesprochene Feld sei zu weit und bedürfe jahrelanger Arbeit. Im laufenden politischen Prozess sei die Kirche eingeladen, sich zu äussern.

Stingelin zog eine Parallele zur Konzernverantwortungsinitiative. Ein Beschluss der AV lasse den Landeskirchen Freiheit und könne Kirchgemeinden helfen. «Keine Pfarrperson ist verpflichtet, dies auszuführen.» Der Antrag Damaschke scheiterte mit 10 zu 49 Stimmen.  

«Wir riskieren Spannungen»
Nach der Pause kam Koni Bruderer, Appenzell, auf die vier Anträge des Rates SEK zurück. Der erste sei zu ergänzen: «Die AV erkennt im biblischen Liebesgebot das Fundament des christlichen Denkens und Handelns». Die Anträge 2 bis 4 seien zu streichen. Denn die Debatte habe erst begonnen.

Theddy Probst warb nochmals für seinen Antrag und bemerkte, heute werde die sexuelle Orientierung von vielen als im Fluss begriffen verstanden – die Formulierung im AV-Beschluss vom Juni sei fragwürdig. Die Diskussionen berührten auch Jugendliche, die in ihrer sexuellen Orientierung unsicher, und Paare, die seit Jahren miteinander unterwegs seien. Probst wies zudem hin auf zwei Unterschriftensammlungen. «Wenn wir in dieser Frage zu forsch vorangehen, riskieren wir Spannungen.»

Das Büro der AV, Barbara Damaschke, Pierre de Salis und Heinz Fischer, während einer Verhandlungspause.

Erneut ergriff Catherine Berger für die Nordwestschweizer Kirchen das Wort: «Wir bekennen uns zur Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Partnerschaften.» Zu beschliessen sei, ob die Reformierten den zivilrechtlichen Begriff der Ehe auch künftig als Voraussetzung der kirchlichen Trauung annähmen (Antrag 2).

Das Thema sei definitiv nicht abgeschlossen, die Empfehlungen (Anträge 2-4) seien Impulse für die Kantonalkirchen. Den Antrag 3 wollten die Nordwestschweizer abändern, zur Empfehlung, «…dass die Wahrung der Gewissensfreiheit für Pfarrerinnen und Pfarrer gleich wie für alle anderen Kasualien selbstverständlich gewahrt bleibt».

Mainstream-hörig?
Dass die nationale Versammlung den kantonalen Kirchen ein Vorgehen empfiehlt, erachtete Wilfried Bührer, Thurgauer Kirchenratspräsident, als ungut. Die Kirchen hätten einige Jahre Zeit. «Warum denen, die dann in der Minderheitsposition sind, bereits das Loser-Image verpassen: Ihr seid nicht auf dem Weg? »

Die beiden politischen Parteien mit dem höchsten Protestantenanteil (SVP und EVP) hätten sich gegen «Ehe für alle» ausgesprochen, sagte Bührer und erinnerte ans Kippen des Kirchenbunds in der Abtreibungsfrage. «Was ist das für ein Bild von Kirche, die einfach nachvollzieht, was politisch mehrheitsfähig ist?»

Der Ostschweizer Kirchenleiter bat die Abgeordneten, dem Prozess Zeit zu geben und nicht vorweg Zensuren zu verteilen. Daher seien die Anträge 2 bis 4 abzulehnen. Ein Ja zu ihnen werde im Thurgau Flurschäden bewirken. «Wollen wir uns jetzt schon auf Vorrat zerfleischen?»

Letztes Votum zur nationalen Kirchenpolitik: Martin Stingelin, Basel-Land.

Über 6000 Unterschriften
Der Walliser Vertreter Daniel Rüegg brachte das Befremden bei konservativen Reformierten über die Anträge zur Sprache; es schlage sich in einem Offenen Brief (über 6000 Unterschriften von Reformierten waren am Montag dem AV-Präsidenten Pierre de Salis übergeben worden) und den Unterschriften von 218 Pfarrerinnen und Pfarrern zu einer Erklärung nieder. Diese habe ein Gegen-Manifest (über 400 Pfarrpersonen und TheologInnen) provoziert. Den unterschiedlichen Positionen sei Rechnung zu tragen. «Wir können heute nicht beschliessen mit einer solchen Vielfalt von Meinungen.»

Darauf reagierte der Aargauer Kirchenratspräsident Christoph Weber-Berg mit einem persönlichen Votum. Die Flurschäden seien schon angerichtet, wenn unterschieden werde zwischen Menschen und die einen des Segens würdig seien, andere nicht. Über Jahrhunderte seien Homosexuelle diskriminiert worden. Der Entscheid sei nun zu fällen – unter Wahrung der Freiheit des Gewissens, unter Wahrung der Freiheit der Bibel-Auslegung.

Gewissensfreiheit auch für Studierende der Theologie?
Die Änderungsanträge Probst und Bruderer zum Antrag 1 (Zustimmung zur zivilrechtlichen Öffnung der Ehe) hatten keine Chance. Die Schlussabstimmung zum Antrag ergab 45 Ja und 10 Nein bei 4 Enthaltungen. Beim Antrag 2 (Übernahme des allfällig geänderten Ehebegriffs für die kirchliche Trauung) votierten 19 Abgeordnete für die Streichung.

Zum Antrag 3 (Gewissensfreiheit für Pfarrpersonen) zitierte Willi Honegger, Zürich, aus dem Mail einer besorgten Theologiestudentin, das er nach seinem Statement im «Rundschau»-Beitrag erhalten hatte. Die Studentin sei von Ausbildungsverantwortlichen des Konkordats mit erniedrigenden Bemerkungen eingedeckt worden. Honegger forderte, die Gewissensfreiheit sei explizit auch für Studierende der Theologie und Anwärter auf das Pfarramt zu garantieren. Der Streichungsantrag von Koni Bruderer erhielt 16 von 61 Stimmen (3 Enthaltungen), der Antrag Honegger unterlag jenem der Nordwestschweizer mit 17 zu 31 Stimmen.

Auf eine Empfehlung zur Gestaltung der Trauung gleichgeschlechtlicher Paare verzichtete die AV.

In der Endabstimmung fand deren Änderungsantrag mit 34 Stimmen (gegen 22 für die ursprüngliche Fassung) eine Mehrheit: «Die Abgeordneten empfehlen den Mitgliedkirchen, dass die Wahrung der Gewissensfreiheit für Pfarrerinnen und Pfarrer gleich wie für alle anderen Kasualien selbstverständlich gewahrt bleibt.»

Keine Empfehlung zur Gestaltung von Feiern
Nach der Abstimmung äusserte Michel Müller, als Zürcher Kirchenratspräsident auch Vorsitzender des Konkordats zur Pfarrerausbildung, seinen Ärger darüber, dass Vorwürfe an Personen, es werde Druck ausgeübt, hier zur Sprache kämen. Wilfried Bührer, Vorsitzender der Ausbildungskommission des Konkordats, sagte den Abgeordneten, diese werde konkreten Hinweisen nachgehen.

Das einzige überraschende Abstimmungsresultat ergab sich beim Antrag 4, der Empfehlung, Trauungsfeiern für gleichgeschlechtliche Paare liturgisch gleich zu gestalten und in die Trauregister aufzunehmen. Der Streichungsantrag von Koni Bruderer hatte mit 37 zu 21 Stimmen Erfolg. In der Schlussabstimmung befürworteten 49 Abgeordnete die ganze Vorlage, 11 stimmten dagegen.

Fortsetzung folgt
Nach den Beschlüssen der nationalen Versammlung liegt der Ball bei den Kantonalkirchen. Im Aargau hat die Evangelische Synode-Fraktion eine Interpellation eingereicht. Sie fragt den Kirchenrat, warum er vor seinem Ja zur «Ehe für alle» im September die Synode nicht angehört habe. Das Thema könne die Kirche spalten.

Die Fraktion fragt zudem: «Wie werden Pfarrpersonen unterstützt, welche sich am biblischen Bild der Ehe orientieren und sich gegen den kirchenrätlichen Entscheid stellen, d.h. keine Trauung von gleichgeschlechtlichen Paaren durchführen möchten?»

Weiterer Bericht zur AV