Aufbruch und Abbruch: Sichten aufs Reformationsjubiläum
Das Reformationsjubiläum wird von der Frage begleitet, wie die in der Reformation entstandenen Kirchen heute ähnlich stark wie damals Menschen bewegen und das Gemeinwesen prägen könnten. Auch bewegende Events täuschen nicht hinweg über verbreitete Gleichgültigkeit in der Gesellschaft, über kirchliche Schwäche und Schrumpfung, Mangel an geistlichem Profil und Beliebigkeit. Fünf Bücher und ein Pamphlet illustrieren dies je auf ihre Weise.
Das Jubiläum 500 Jahre Reformation ist eine einmalige Gelegenheit. Doch ist der Rückgriff auf die Reformatoren schwierig aus vielen Gründen. Um nur zwei zu nennen: Zum einen haben staatskirchliche Regimes die Entfaltung der Freiheitspotenziale der Reformation über zehn Generationen verhindert. Andererseits hat die aus der Aufklärung geborene liberale Theologie mit ihrer Bibelkritik das Verständnis von Glauben und Kirche völlig verändert, die Gemeinschaft im Glauben zerrüttet und in der (weithin bejahten) Säkularisierung und Modernisierung sich selbst an den Rand gespielt.
Hier sind fünf Bücher und eine Kleinschrift angezeigt, die sich mit der Reformationszeit, der aktuellen Situation der evangelischen Landeskirchen und der spirituellen Leitgestalt des Innerschweizer Heiligen Niklaus von Flüe befassen:
- Handbuch: Die schweizerische Reformation
- Ulrich Parzany, Was nun, Kirche? Ein grosses Schiff in Gefahr
- Armin Sierszyn, Die Befreiungsbotschaft der Reformation für eine gelähmte Pfarrschaft und eine sterbende Kirche
- Heinz Schilling: 1517 – Weltgeschichte eines Jahres
- Roland Gröbli: Die Sehnsucht nach dem «einig Wesen», Leben und Lehre des Bruder Klaus von Flüe
- Geri Keller: Der Name Jesus sei euer Gruss, Bruder Klaus – ein Thesenanschlag Gottes
Die Schweizer Reformationen
Was vor 500 Jahren geschah und Teile der Schweiz revolutionierte, ist im Handbuch «Die schweizerische Reformation» nachzulesen, das dieser Tage im TVZ erscheint. Experten schildern im ersten Hauptteil die Reformation in den Orten der Eidgenossenschaft. Neben Zürich nehmen auch die Drei Bünde über 60 Seiten ein, Bern und Basel über 40 Seiten. Auf 50 Seiten wird das frühe Täufertum geschildert.
Der zweite Hauptteil besteht aus Artikeln zur Wirkung der Schweizer Reformation im 16. Jahrhundert und darüber hinaus: theologisches Profil, Gemeinwesen und Gottesdienst, Bildung und Kultur, Familie und Fürsorge sowie «religiöses Patt und konfessionelle Allianzen» bis 1618.
Was die Schweiz abhebt
Das einzigartige Werk zeichnet nach, wie es zwischen Boden- und Genfersee «von einer diffusen Bewegung zu einer konsolidierten Kirchengemeinschaft mit wohldefinierten Glaubenssätzen und Praktiken» kam. Als Faktoren, die der Bewegung ein eigenes Profil gaben, nennen die Mitherausgeber Amy Nelson Burnett und Emidio Campi den starken «Einfluss des Humanismus von Erasmus, die schnelle Verbreitung der Werke Luthers, die lange Tradition der Selbstverwaltung der Mitglieder der Eidgenossenschaft, die ausgewogenen Machtverhältnisse innerhalb der Städte und die religiöse Autonomie vieler Landgemeinden».
Gemeinschaft der Freiheit
Auf den 700 Seiten (das englische Original erschien vor einem Jahr) sind politische und Sozialgeschichte einbezogen, die welsche und die angelsächsische Forschung berücksichtigt. Neben Altbekanntem, so Gottfried Locher im Geleitwort, findet sich «Neues, Überraschendes, aber auch Vergessenes und Verdrängtes». Locher kontrastiert die Reformatoren mit der Gegenwart: «Sie propagierten nicht die Freiheit der Person in Abgrenzung von kirchlicher Gemeinschaft, sondern rückten umgekehrt die Kirche als communio der Freiheit neu in den Mittelpunkt.»
Christus als Leerformel
Mit dem Vermächtnis der Reformation ist die Dynamik angedeutet, die das 500-Jahre-Jubiläum so komplex und schmerzlich macht. Die Entwicklungen der letzten Jahre in Deutschland fasst Ulrich Parzany in einem Appell zusammen, den man nicht ohne Trauer lesen kann – und gerade deswegen lesen sollte. Die Theologen haben sich seit der Aufklärung Freiheiten genommen, die das Grundprinzip der Reformation sola scriptura aushebeln. Parzany: «Im Grund ist ‹Jesus Christus› damit eine Leerformel geworden, die jeder nach seinen Vorstellungen füllt und benutzt.»
Der Pfarrer der Rheinischen Kirche und bekannteste Evangelist Deutschlands diagnostiziert die aktuelle Krise der Kirchen als Krise der Verkündigung – «dadurch entstanden, dass das Vertrauen in die Autorität der Bibel verschwunden ist». Das vierfache Allein der Reformation (allein die Schrift, allein Christus, allein durch Gnade, allein durch Glauben) sei heute höchst umstritten.
«Wer schweigt, fördert, was im Gange ist»
Der Ordnungsruf «Was nun, Kirche?» hat es auf die Themenbestsellerliste Religion des deutschen Buchreports geschafft. Mit zahlreichen Zitaten belegt Parzany, wie Theologen und Kirchenleitungen das reformatorische Erbe preisgeben und es mit einer bibelfernen Pluralisierung bekennenden Christen schwer und schwerer machen, in den Landeskirchen zu bleiben. «Ich schreibe gegen Resignation. Auch gegen meine eigene.» Der Autor will aufrütteln. «Wer schweigt, fördert, was im Gange ist.»
Aktuell ist dies – nach der Ablehnung von stellvertretendem Sterben und Auferstehen Jesu – die kirchliche Segnung und Trauung gleichgeschlechtlicher Paare, welche die meisten deutschen evangelischen Landeskirchen ermöglicht haben. Für Parzany geht es da nicht um eine Nebensache, sondern um die Grundlagen des Glaubens, um das geoffenbarte Menschenbild: «Die Gottebenbildlichkeit wird ausdrücklich dem Menschen in der Polarität und Gemeinschaft als Mann und Frau zugesprochen.» Der Autor hat deshalb 2016 das «Netzwerk Bibel und Bekenntnis» mitgegründet.
Mehr als religiöser Kitt?
Parzany lehnt zudem die Rede vom «gleichen Gott» von Christen und Muslimen ab. Sie diene Kirchenleitern vor allem dazu, das Christentum als Zivilreligion zu empfehlen – «religiöser Kitt für die zerfallende Gesellschaft». Er beleuchtet die grossen Streitpunkte, plädiert für eine Erneuerung durch das alte Evangelium – in der Hoffnung, dass pietistische Gemeinschaften und Teams in den Kirchgemeinden aktiv bleiben.
Dass sie noch öffentlich wirken, wenn ihnen steiferer Wind entgegenweht und die Verantwortlichen gegen sie entscheiden. «Das Evangelium ist von solcher Kraft, dass es rettet, wenn es in ganzer Wahrheit gesagt wird.» Illusionen hat Parzany keine mehr: «Die Volkskirche folgt in der pluralistischen Demokratie eben nicht mehr dem König Jesus, sondern der Mehrheitsmeinung.»
«Erst stirbt die Kirche, dann das Land»
Schärfer formuliert der Zürcher Theologe Armin Sierszyn in seiner jüngsten Schrift «Die Befreiungsbotschaft der Reformation für eine gelähmte Pfarrschaft und eine sterbende Kirche». Nach dem Horror, den säkulare Ideologien in zwei Weltkriegen über die Welt brachten, habe sich seit 1967 «der Zerfall der Kirchen und die Entchristlichung Europas weiter und dramatisch verstärkt», schreibt Sierszyn: durch Zerfall von Ehen und Familien, Verwahrlosung der Jugend, Genderismus, millionenfache Abtreibung und die «Etablierung einer grenzenlosen Ich-Gesellschaft».
Der Kirchenhistoriker zieht die Linie vom aufklärerischen Neu-Protestantismus (Schleiermacher) zu den säkularen Ersatzreligionen aus und warnt: «Erst stirbt die Kirche, dann das Land.» Europa sei durchs Christentum geworden. Der Kontinent «würde das Verschwinden des Christentums zugunsten diffuser Multikulturalität feministischer Prägung nicht überleben. Heute spüren wir die tiefe Depression unserer verratenen Kirche.» Sierszyn hat Houellebecq gelesen, der das säkulare Frankreich vor dem Islam in die Knie gehen sieht.
Der Theologe war Dekan im Zürcher Oberland. Er sieht Pfarrer in Depression. «Sie wissen vermutlich nur zu gut, dass sie Aushängeschilder einer sterbenden Kirche waren und sind… Und niemand weiss, wohin die Reise führt.» Bei den Reformatoren sei die evangelische Kühnheit zu lernen, gegen den Strom zu schwimmen und prophetische Verkündigung zu wagen.
Ängste einer unruhigen Welt im Aufbruch
Zur Vergegenwärtigung jener fernen Zeit, der Bühne der Erneuerer, sind aufs Jubiläum hin zahlreiche Bücher erschienen. Aus ihnen ragt Thomas Kaufmanns Reformationsgeschichte «Erlöste und Verdammte» heraus.
Einen global ausschweifenden, ebenso instruktiven wie unterhaltsamen Beitrag leistet Heinz Schilling, dessen Luther-Biographie 2012 Massstäbe setzte, mit «1517 – Weltgeschichte eines Jahres». Der Berliner Historiker sieht die Epoche nicht bloss im Zeichen der Religion, sondern vorrangig der Politik. Und bezieht andere Räume und Kulturen ein – auch da seien «Impulse zum Aufstieg neuer, neuzeitlicher Lebensbedingungen gesetzt» worden.
Weltmächte 1517
Im Jahr, als die Ablasshändler den Theologieprofessor in Wittenberg zu seinen Thesen provozierten, übernahm der Burgunderherzog Karl, Erbe von Habsburgs Ländern, die Herrschaft über Spanien; 1519 wurde er zum Römischen Kaiser gekrönt. Im Osten nannte sich der Moskauer Grossfürst Iwan III. neu Zar. Anhaltenden Alarm verursachte indes das Geschehen im Orient: Im Februar 1517 kapitulierte Kairo vor Sultan Selim. Mit dem Sieg über die Mamluken etablierte Selim die osmanische Hegemonie über Arabien und Nordafrika.
Die blutig ausgekosteten Siege schreckten die Christenheit auf; der Balkan und der westliche Mittelmeerraum waren bedroht. Schilling: «Jetzt hatte sich die Christenheit selbst gegenüber einer offensiven muslimischen Weltmacht zu verteidigen, deren Glaubenseifer für den Islam durch die Schutzfunktion über die Heiligen Stätten neu angefacht worden war.» 1529 standen die Türken vor Wien.
Vernunft und Magie
Heinz Schilling malt ein Panorama von Fürstengewalt und ländlicher Unruhe, Friedensvision und Utopie (Erasmus, Morus), kommerzieller Revolution und Geldtheorie (Kopernikus), kolonialen Eroberungen, Humanismus und Renaissance, Frauenschicksalen und Antijudaismus, Fuggerei und Isenheimer Altar, Hexenglauben und Magie. Und mittendrin der Wittenberger, der Thesen gegen den Ablass verfasst.
Der Autor betont: «Rationale und übernatürliche Welterklärung schlossen sich nicht aus, sondern ergänzten sich.» Und stellt die Frage nach dem Wohlergehen in der säkularen Gegenwart: «Wo die Menschen vor 500 Jahren Trost und Hoffnung in einer heilgeschichtlichen Auflösung aller Kümmernisse in einer jenseitigen Welt fanden, sind die Menschen heute ganz auf die eigenen Kräfte geworfen.»
Vor den Reformatoren: Bruder Klaus
Während die deutschen Protestanten ihre Luther-Dekade am kommenden 31. Oktober abschliessen, kommt 2017 für die Schweizer eigentlich zu früh. Der erste (Zürcher) Ratsbeschluss zur Reformation erfolgte 1523. Doch die Reformierten feiern die 500 Jahre mit und manche nehmen sie – die Ökumene macht’s leichter – zum Anlass, auch des Heiligen Niklaus von Flüe zu gedenken, der 1417 geboren wurde. Dass das Doppeljubiläum als historische Chance gelten kann, liess der nationale Gedenktag in Zug am 1. April erahnen.
Zugänge zum Geheimnis
Neben Quellensammlungen und Biografien helfen drei ganz unterschiedliche Bücher, sich Bruder Klaus zu nähern: «Die Sehnsucht nach dem ‹einig Wesen›», die Kurzfassung von Roland Gröblis Dissertation von 1990, informiert eingehend über Leben und Werk und spürt in der äusseren der inneren Biografie des Gottsuchers nach.
2016 erschien der grosse Sammelband «Mystiker, Mittler, Mensch» mit Beiträgen von 60 Autorinnen und Autoren. Sie befassen sich mit dem Weg von Niklaus und seiner Frau Dorothea, seiner Frömmigkeit, die ihn zur spirituellen Leitfigur bis heute werden liess, und den vielfältigen Formen der Verehrung durch die Jahrhunderte (vgl. Besprechung auf lkf.ch).
Im Geist leben und handeln
Ein Bändchen hat nun der Winterthurer Pfarrer und Schleife-Gründer Geri Keller im hohen Alter verfasst: «Der Name Jesus sei euer Gruss. Bruder Klaus – ein Thesenanschlag Gottes». Er spürt dem «erdhaft Menschlichen» von Niklaus nach und der Weisheit, mit der er viele beriet und zum Friedensstifter wurde. Sich selbst nennt Keller einen Betroffenen, der staunt, für den «der dreieinige Gott … dem Leben von Bruder Klaus ein einzigartiges Siegel aufgedrückt» hat – als bleibendes Hoffnungszeichen für Kirche und Land.
Nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit Bruder Klaus führt Geri Keller die drei grossen Visionen des Heiligen an und bespricht sie, ohne sie auszudeuten. Sein Empfinden beschreibt er mit den Worten, «im Hinblick auf diese Botschaften noch immer ‹auf der Schwelle zu stehen›, obwohl ich sie unzählige Male umkreiste und verinnerlichte». Für Keller ist der Obwaldner ein «Heiliger im Werden», ein Christen mit einem zeitlosen Gottesbild. «Bruder Klaus lebt und handelt im Geist.»
Martin Ernst Hirzel, Frank Mathwig, Amy Nelson Burnett, Emidio Campi (Hg.)
Die schweizerische Reformation. Ein Handbuch
ca. 752 Seiten, 16.8 x 24.4 cm, mit zahlreichen Abbildungen
TVZ, Zürich, Oktober 2017
978-3-290-17887-1
Ulrich Parzany
Was nun, Kirche? Ein grosses Schiff in Gefahr
SCM Verlag, Holzgerlingen, 2. Auflage 2017
978-3-7751-5792-6
Leseprobe
Armin Sierszyn
Die Befreiungsbotschaft der Reformation
für eine gelähmte Pfarrschaft und eine sterbende Kirche
Selbstverlag des Autors, CH-8344 Bäretswil, 2017
Heinz Schilling
1517. Weltgeschichte eines Jahres
C.H. Beck Verlag, München, 3. Auflage 2017
978-3-406-70069-9
Roland Gröbli
Die Sehnsucht nach dem «einig Wesen»
Leben und Lehre des Bruder Klaus von Flüe
Rex Verlag, Luzern, 2006
978-3-7252-0829-6
Geri Keller
Der Name Jesus sei euer Gruss
Bruder Klaus – ein Thesenanschlag Gottes
Schleife Verlag, Winterthur, 2017
978-3-905991-26-0