Am Opfer kommen wir nicht vorbei

Die STH Basel ermöglichte vom 20. bis 22. November 2015 mit einer Fachtagung eine facettenreiche interdisziplinäre Betrachtung des Opfers. Vertreter von Bibelwissenschaft und Ethik, Patristik und Judaistik, Religionsphilosophie und Soziologie legten ihre Sichtweisen dar.

Wenn Menschen seit Urzeiten geopfert haben, ist das Opfer doch weit mehr als eine Gabe, um von Göttern etwas zu erwirken (do ut des), mehr als ein Geschenk in der Hoffnung auf eine Reaktion. Im einleitenden Referat wies Johannes Schwanke (Basel) mit den englischen Begriffen «victim», «immolation» und «sacrifice» die Vieldimensionalität von Opfer auf. Heute werden Menschen Opfer von Mobbing und Unfällen; andere opfern ihre Gesundheit oder Finanzen. «Sacrifice» beschrieb Schwanke als rituelle Handlung, die ein lebens- bzw. machthaltiges Wesen zerstört, um unsichtbare Kräfte zu beeinflussen und mit ihnen Gemeinschaft aufzunehmen, ihr Werk zu beflügeln oder ihnen Genugtuung zu bieten.

Stefan Schreiner (Tübingen) referierte über Opfer im Alten Testament. Im Alten Testament gibt es etwa 24 Begriffe, die im Bedeutungsfeld des deutschen Wortes «Opfer» zu verorten sind! Die Rabbinen suchten der Vielfalt der Überlieferungen gerecht zu werden. Ihre Auslegungstradition erlaubt für einen Text Dutzende Verstehensmöglichkeiten – ein Reichtum, der verloren zu gehen drohe, wenn die eine richtige Interpretation eines Bibeltextes gesucht werde.

Gott braucht kein Opfer
Reinhard Feldmeier (Göttingen) behandelte die spärlichen neutestamentlichen Aussagen zum Opfer angesichts der Empörung zeitgenössischer Theologen über einen angeblich Sühne fordernden Gott. Jesus verkündigte das Reich Gottes, indem er Sündern Gottes Vergebung nahebrachte. «Sein Gott war der Gott der Lebenden.» Doch führte die Verkündigung zur Passion. «Nicht Jesus, nicht Gott haben den Aspekt der Gewalt in das Evangelium gebracht, sondern die Menschen –- jeder auf seine Weise.»

Der Hebräerbrief deutet den Kreuzestod als Opfer, doch ist auch da Gott «kein jähzorniger Despot, der Blut sehen will, sondern der Heilige, der mit Zorn auf die Zerstörung des Lebens und die Verderbnis seiner guten Schöpfung reagiert». Ein Gott, der die Schreie der Gewaltopfer (Offenbarung 6,10) ignorieren würde, wäre menschenverachtend gleichgültig, sagte Feldmeier. Der Schuld, die nach Sühne verlangt, kann nach dem Hebräerbrief allein der Gottessohn Genüge tun. Das Schreiben wende sich dagegen, «dass man es sich mit einem gnädigen Gott gemütlich einrichtet».

Gegen Klaus-Peter Jörns betonte Feldmeier, Gottes Heilshandeln bedürfe nicht der Gewalt. «Aber angemessen kann von ihm nur geredet werden, wenn es zu der diese Welt bestimmenden Gewalt in Beziehung gesetzt wird.» Den Passionsberichten der Evangelien zufolge wird nicht ein zürnender Gott durch ein Opfer versöhnt. «Vielmehr gibt sich Jesus selbst hin und bestätigt seinen versagenden Jüngern Gottes Bundestreue». Für Paulus und Johannes überwindet Gott seinen Zorn aufgrund seiner Liebe, nach diesem Verständnis «greifen Gottes Preisgabe und die Selbsthingabe Jesu ineinander» (2. Korinther 5,19ff; Epheser 5,2). Reinhard Feldmeier: «Wenn die beiden grössten Theologen des NT Gott und die Liebe zusammendenken, tun sie dies nicht trotz des Kreuzes oder gar im Gegensatz dazu, wie manche moderne Kritiker sagen, sondern gerade aufgrund des Kreuzes.»

Alte Kirche ohne Opfer
Mark Edwards (Oxford) beschäftigte sich mit der Alten Kirche. Generationen vor Konstantin war die Kirche gegen Opfer -– so dass man vom «Ende des Opfers» sprechen kann (Guy Stroumsa). Heidnische Opfer waren, da Dämonen dargebracht, Christen verboten (1. Kor. 8,20f). Seit dem Jahr 70 gab es keinen Jerusalemer Tempel mehr und die Lehrer und Leiter der Gemeinden waren keine Priester. Zwar bezeichnete Paulus Christus als «unser Passah, für uns geopfert» (1. Korinther 5,7; vgl. Markus 10,45). Nach dem Hebräerbrief ist Christus der Hohepriester, der die Opferdienste des mosaischen Bundes an ihr Ziel und Ende gebracht hat; geboten sind nun unblutige Opfer (der Lippen, Hebräer 13,15; des Leibes, Römer 12,1).

Für manche Autoren der ersten Jahrhunderte nahm die Schrift den Platz des Opfers als Herz der Religion ein (im Einklang mit der alten Opfer-Kritik heidnischer Philosophen). Edwards wies darauf hin, dass Origenes Johannes 6,51 mit Psalm 34,8 auslegte: Wer über Gottes Wort nachsinnt, schmeckt und sieht seine Güte. Das Abendmahl wurde zum Gedenken gefeiert.

Opferbegriffe fürs Abendmahl verwendeten andererseits Ignatius von Antiochien und Cyprian. Sie pochten beide auf bischöfliche Autorität; letzterer argumentierte in einer Verfolgungszeit, der Priester bringe als Statthalter Christi dasselbe Opfer für seine Gemeinde dar. Damit stand Cyprian allein -– bis zum grossen Umbruch nach 330, als heidnische blutige Opfer verboten und Bischöfe von den Kaisern mit Macht bedacht wurden. Wenige Jahrzehnte später verstanden Kyrill von Jerusalem und Ambrosius von Mailand die Eucharistie als Nachvollzug des Opfers Christi.

Nach kritischen Bemerkungen zu Walter Burkert, J.G. Frazer, W. Robertson Smith und René Girard kam Edwards zum Schluss: Wenn das Neue Testament die Versöhnung durch Jesu Hingabe proklamierte und vom blutigen Opfer wegführte, hörte doch die Alte Kirche, dass die Schrift mit dem grössten Ernst von Gottes Wort («schärfer als jedes zweischneidige Schwert», Hebräer 4,12) und der Sünde sprach, die den Herrn erneut ans Kreuz schlägt (Hebräer 6,6) und Gottes strafenden Zorn provoziert.

Kritik des Opfers
Harald Seubert (Basel) schlug einen Bogen von der altgriechischen und jüdisch-christlichen zur aufklärerischen Opferkritik. Opfer kann religionsphilosophisch gefasst werden als «immer zu kurz greifender Versuch der Restitution» nach Vergehen gegen Ordnung und Leben. Allgemein religiös ist Opfer eine rituelle Gabe; nach Hegel geht die Handlung aus eigenem Willen hervor; sonst kann keine Versöhnung geschehen.

Viele Denker der Neuzeit sind übers Opfer hergezogen, namentlich französische Aufklärer. Bei Nietzsche führte die Religionskritik zur erschreckenden Frage, «warum den kommenden Geschlechtern nicht einige Individuen der gegenwärtigen Geschlechter zum Opfer gebracht werden sollten». Im 20. Jahrhundert, angesichts der ungeheuren von imperialen und totalitären Staaten verlangten Menschenopfer, wollten manche im Opfer eine Vollendung des Mensch-Seins erkennen. Seubert bilanzierte, «dass der Verlust an Sakralität und einer religiösen Sprache des Opfers keineswegs zu einer Zivilisierung geführt hat».

Zur Kritik am christlichen Opferverständnis sagte Seubert, Opfer bloss ethisch zu bestimmen als Selbsthingabe, greife zu kurz. Denn diese könne für ganz fragwürdige Zwecke erfolgen. Die einmalige Hingabe Christi, Konsequenz seiner Entäusserung, ermöglicht die Rückkehr zum Bund und seine Befestigung. Die Opferinstitution als Teil inszenierter Religion wird mit ihr hinfällig (R. Girard); heilige Gewalt kann es fortan nicht mehr geben. Dass das autonome Subjekt der Moderne den stellvertretenden Charakter des Opfers als Skandal empfindet, fällt auf es selbst zurück: Seine Autonomie ist als Illusion entlarvt worden. Laut Seubert wird heute der Mensch mehr als Wesen gesehen, das (ver)antworten muss.

Jüdisches Opfern nach dem Tempel
Das Fortleben des Opfergedankens im Judentum nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 skizzierte Patrick Koch (Hamburg). Auf dem Hintergrund von Prophetenworten wie Hosea 6,6 hatten Juden um die Zeitenwende begonnen, das Opfern durch Wohltätigkeit und Fasten zu ersetzen. Nach der Katastrophe deuteten manche menschliches Leid als Prozess der Wiederherstellung eines besseren Selbst. In den Verfolgungen des Mittelalters sahen Aschkenazim in der Bereitschaft, für den jüdischen Glauben zu sterben, den Willen, sich für Gott zu opfern. (Entsprechend wird die Shoa als Märtyrertod gedeutet.) Kabbalisten neigten zu symbolischen und spirituellen Deutungen des Opfers. Qorban wurde laut Koch verstanden als «Prozess des sich Annäherns bzw. der Vereinigung mit der göttlichen Welt“».

Maimonides schrieb, den biblischen Opferdienst, einst angemessen, habe der rabbinische Gottesdienst und endlich der rein intellektuelle Dienst vor Gott (ohne Handlungen) abgelöst. Andere Juden erkannten in der Selbstdisziplinierung ein Gott wohlgefälliges Opfer (Psalm 51,19 in der Kabbala: zerbrochener Geist als Eintrittskarte zur göttlichen Sphäre). Noch heute, so Patrick Koch, gibt es traditionalistische Juden, die Tiere opfern: Vor Yom Kippur oder dem Neujahrsfest übertragen sie Sünden rituell auf einen Hahn oder eine Henne. Das Tier stirbt stellvertretend. Der Kabbalaspezialist betonte die enorme Bandbreite des Judentums. In ihm finden sich ganz unterschiedliche Verständnisse des Opfers.

Stellvertretung
Oliver O’Donovan (St. Andrews/Edinburgh) holte in seinen moraltheologischen und philosophischen Überlegungen zu Sühne weit aus. Er setzte ein mit Kierkegaard, der die Erlösung durch Christus als «absolutes Paradox» bezeichnete. O’Donovan plädierte dafür, Begriffe wie Opfer, Gericht und Freikauf als Analogien zu verstehen: «als wahrhaftige Beschreibungen verschiedener Aspekte dessen, was Gott tatsächlich getan hat». Der stellvertretende Status (representation) Christi begann nicht erst mit seinem Tod und endete auch nicht damit (1. Korinther 15,21!). «Im ganzen Drama seines Kommens, seines Konfliktes und seines Triumphs handelt er für die Menschheit und verkörpert die erneuerte Menschheit unter der Gunst Gottes.»

Einzigartig
Markus Enders (Freiburg/Br.) widmete sich den Fragen aus religions- und kulturphilosophischer Perspektive: Er benannte in Bezug auf die jüngere Forschung wichtige Kriterien für den Opferbegriff und wies Vergleichbarkeiten und Einzigartiges des christlichen, ein für alle Mal (ephapax) geschehenen Opfers gegenüber einem universellen Opferbegriff aus.

Der Soziologe Jost Bauch (Euskirchen/Konstanz) zeigte, wie die Opferperspektive in das Selbstverständnis gesellschaftlicher Minderheiten eingehen kann und wie soziale Kommunikation menschliche Individualität selbst «opfert». Der Schriftsteller und einstige DDR-Dissident Ulrich Schacht (Berlin) machte mit einer Lesung ein Schicksal in Täter- und Opferperspektive sichtbar. Am Sonntag feierten die Teilnehmenden in der Dorfkirche Riehen einen Gottesdienst mit dem Basler Kirchenratspräsidenten Lukas Kundert. -– Die Veranstalter werden einen Tagungsband publizieren.

STH-Webseite mit den Vorträgen zum Nachhören