«Akte Zwingli»
Ein «Mysterienspiel» wird im Zürcher Grossmünster geboten, das einen neuen Blick auf Zwingli verspricht. Der Autor Christoph Sigrist stellt ihm seine Frau Anna Reinhart zur Seite. In ihren Traumbildern – von Zwinglis Ende her – wird der Umbruch der 1520er Jahre mit 60 Schauspielern, Sängern und Tänzerinnen vergegenwärtigt. Das Spektakel für das grosse Publikum ist in Zürich nur wenige Tage zu sehen.
So wurde das Grossmünster noch nie bespielt. Zwinglis Person, sein Weg und Werk in «Klangbildern» gefasst, mit Sprechszenen, Soli und Chor, Theater und Tanz, Ballett um den Taufstein, auf der Treppe und im Chor, klein- und grossflächige Lichtprojektionen, der Abschluss vor der Tür: Die ehrwürdige Zürcher Hauptkirche wird ins Event-Jahrhundert katapultiert.
Im Kern war die Reformation Erneuerung aus dem göttlichen Wort – für den Einzelnen, für Kirche, Gemeinschaft und den Staat. Wie kann das, was vor 500 Jahren geschah, heute noch ergreifen? Die Zürcher Landeskirche hat für das Jubiläum mit Kanton und Stadt eine Plattform gebildet, um in der säkularen Öffentlichkeit zu agieren und die Kultur-Interessierten anzusprechen.
Emotionen statt Heldentum
Für «Akte Zwingli» hat der umtriebige Grossmünster-Pfarrer Christoph Sigrist Lieder und Texte aus der Reformationszeit und Bibelworte mit Erdichtetem kombiniert. Aus der Sicht seiner Frau Anna Reinhart wird Huldrych «Ueli» Zwingli dargestellt, Stationen werden mit ihr dramatisiert und so im unheroischen Heute verständlich gemacht. Daniel Camille Bentz und Nathalie Mittelbach spielen das ungleiche Paar eindrucksvoll. Hans-Jürgen Hufeisens emotionale Musik und Volker Hesses imaginative Regie machen den Abend mit 60 Darstellenden zu einem exquisiten Wechselbad.
Die Aufführung beginnt mit Stille, Warten – und der Todesnachricht. Der Überbringer kann den grauenvollen Tod Zwinglis auf dem Kappeler Schlachtfeld nur stottern. Die Menschen sind ausser sich. Anna schreit sich ihre Klage von der Seele: «Oh Herrgott, wie heftig shluog mich dynes Zornes Ruthen».
Dann ist Zwingli da, Prediger und Seelsorger, mit dem Psalm 23: «Der HERR hirtet mich, darumb manglet mir nichts.» Auf der Kanzel rezitiert er Offenbarung 7 – wieder ist Anna bei ihm, schmiegt sich an ihn; er entzieht sich ihr.
Öffentlich und privat
Kraftvoll plädiert er dann – gegenüber dem Rat von Zürich, dem Bischof von Konstanz und den Bürgern – für Reformation, das Ende der Solddienste. «Gott wurde gezogen in den Dräck!» Feurig (in Worten, in denen das 16. Jahrhundert anklingt) verkündigt Zwingli Christus als den einzigen Mittler. Anna wirft Familiäres dazwischen; er fährt fort.
Für wenige Momente ist er der Mann und Vater ihrer Kinder, spielt die Geige. Dem kurzen Waldspaziergang folgt ein Marienwalzer (Sigrist hat dafür das Magnificat modernisiert; das Ballett tanzt um den Taufstein). Hart stoppt Zwingli – Ratsherren erheben den Mahnfinger – das sinnenfreudige Treiben.
Aus allen Ecken, auch aus der Krypta ertönt Geflüster: hebräische, griechische, lateinische Worte. Den Zürchern gelingt die Bibelübersetzung; Anna freut sich über den Schwung in der Arbeit; das Paar spricht den Abendmahlstext.
Übermächte
Da zieht ein anderer Gegner auf: Martin Luther kommt als Mega-Puppe aus dem Kirchenschiff, steigt zum Chor über der Krypta hinauf. Den Streit ums Abendmahl fechten die beiden ungleichen Parteien als Chöre mit ihren (kunstvoll verwobenen) Liedern aus: «Ein feste Burg» gegen «Herr, nun heb den wagen selb!»
Die Pest, der reine Horror! Sie schlägt viele nieder – «hilf, Gott, hilf!» Auch Zwingli erkrankt. Anna hält sein Haupt, er hustet, röchelt, findet endlich Kraft, sein Pestlied zu singen. Anna und der Chor stimmen ein.
Junge Gelehrte disputieren – hübsche Balletteinlage. Zwei stehen abseits. Anna protestiert gegen ihre Verurteilung: Die Täufer sind, nein waren, Zwinglis Freunde. «Ueli, du muesch rede!» Er schweigt auf der Kanzel. Der Prozess nimmt seinen unrühmlichen Lauf. Anna kämpft im Lied dagegen…Zur Hinrichtung verlassen alle die Kirche; der Vorplatz ist in rötliches Licht getaucht. Mit Glaubenszweifeln und unheimlichen Andeutungen endet es, das Zürcher «Mysterienspiel», in dem doch allein Menschen agieren.
Gefunden und erfunden
«Akte Zwingli» schlägt faszinierende Bögen, ohne Zwingli von A bis Z aufzuschliessen. Der Rat von Zürich bleibt stumm. Wer die vielschichtige Persönlichkeit, den wagemutigen Theologen und Pionier der Reformation in seinem Umfeld verstehen will, wird weiterhin zu Büchern, etwa der griffigen Kurzbiografie von Peter Opitz, greifen. Und darin lesen, dass Zwingli an der Pest erkrankte, Jahre bevor er heiratete…
Annas Traumbilder folgen nicht der Chronologie. Was immer wir von ihr (nicht) wissen: nun steht – in unserem Bewusstsein – eine Frau hinter und neben dem Mann. Und wir wiegen uns in der Meinung, ihn besser zu kennen. Postfaktisches Reformations-Gedenken?
Im Zürcher Reformationsjubiläum ist «Akte Zwingli», von Profis in Szene gesetzt, ohne Zweifel ein Highlight. Wie viel Licht das glutvolle Engagement dieser Anna Reinhart für eine gerechtere Welt, für Schalom, in unseren Alltag und die postmodernen Abgründe wirft – das wird sich erst weisen müssen.
Aufführungen: bis 25. Juni im Zürcher Grossmünster, am 8. September in Wittenberg, am 28. September in Marburg, am 4. November in Dübendorf, am 26. und 27. Mai 2018 in Rapperswil.
Infos: www.aktezwingli.ch
Bilder Familie Zwingli, Kirchenschiff, Ballett: Judith Schlosser, Akte Zwingli