Erneuerung – was meinen wir damit?
Was meinen wir, wenn wir von Erneuerung reden
– und was schwingt dabei mit?
Geschieht sie im Gang der Zeit von selbst?
Luca Baschera konstatiert in seinem Essay
einen engen Bezug zum Verständnis
von Entwicklung.
Im Gegensatz zu anderen Wörtern, die wie «Magie», «Mythos», «Materie» oder «Sinnlichkeit» durch eine inhärente Zwiespältigkeit gekennzeichnet sind, ist der Begriff – oder besser: das Sprachsymbol – «Erneuerung» grundsätzlich positiv besetzt. Es weckt allgemein positive Assoziationen und wird gerade deshalb in den unterschiedlichsten Kontexten gerne verwendet. Dass dieses Sprachsymbol im kirchlichen Kontext auch sehr beliebt ist, hat natürlich nicht zuletzt damit zu tun, dass es in biblischen Schriften belegt ist (Röm 12,2; 2Kor 4,16; Kol 3,9f.).
Allerdings muss in Anlehnung an Terentianus Maurus (2. Jh.) festgehalten werden, dass nicht nur Bücher, sondern auch Wörter «ihre Schicksale haben» (habent sua fata libelli bzw. verba). Denn sie können in unterschiedlichen Zusammenhängen bemerkt oder unbemerkt sehr verschiedene Bedeutungen annehmen. Das Sprachsymbol «Erneuerung» stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Seine Ambiguität wird jedoch gerade durch die grundsätzlich positive Resonanz, die es erzeugt, allgemein verdeckt.
Da dies nicht zuletzt im kirchlichen Kontext zu Missverständnissen führen kann, möchten die folgenden Bemerkungen der besagten Ambiguität – ein Stück weit zumindest – nachgehen. Dabei konzentrieren sie sich auf die gleichsam «kulturelle» Auffassung von «Erneuerung»: der Erneuerung als Tat des Menschen, als Aufgabe und gar als Gebot.
Diese Präzisierung ist nötig, weil «Erneuerung» durchaus auch bestimmte Phasen in zyklischen naturhaften Prozessen bezeichnen kann. Das Wiedererwachen der Tiere aus dem Tiefschlaf und das Wiedererblühen der Pflanzen im Frühling stellen ebenfalls eine Erneuerung dar. «Erneuerung» bezeichnet in diesem Fall jedoch etwas, was unvermeidbar ist (und worauf man sich deshalb auch verlassen kann), eine notwendige Phase in einem zyklischen Prozess. Sie kann festgestellt werden und darüber, dass sie geschieht, kann man sich freuen, aber sie ist an sich ein Faktum und keine Aufgabe.
Im Folgenden gilt unsere Aufmerksamkeit indessen der gleichsam «kulturellen» Bedeutung von «Erneuerung», nach der sie etwas bezeichnet, was nicht einfach geschieht, sondern geschehen kann oder gar soll. Erneuerung wird in diesem Sinn als eine gebotene Tat des Menschen aufgefasst.
Gleich stellen sich aber verschiedene Fragen: Worauf bezieht sich die so aufgefasste Erneuerung? Was macht sie geboten? Worin gründet ihre Notwendigkeit? Eine mögliche Antwort geht davon aus, dass Erneuerung als Funktion von Entwicklung zu betrachten sei. Der Ausgangspunkt ist hier die Feststellung: Alles, was lebt – sei es im wörtlichen (Lebewesen) oder im übertragenen Sinn (Institutionen, Organisationen, Gesellschaften) –, entwickelt sich. Entwicklung ist ein Faktum und sie wird als linearer, unaufhaltbarer und unumkehrbarer Prozess aufgefasst, an dem alles partizipiert: Sie ist allumfassend, gleichsam totalitär.
Daraus folgt unmittelbar, dass ein so konzipierter Prozess völlig autonom und damit auch unfehlbar sein muss. Denn jegliche dem Prozess externe Norm, die erdacht werden kann, um nach ihr den Prozess zu «beurteilen», in diesem Denkhorizont eigentlich bloss einen Faktor im Prozess selbst darstellt. Es ist unmöglich, einen Standpunkt ausserhalb des Entwicklungsprozesses zu beziehen. Keine Kritik, kein Aufstand und keine Revolution können die Entwicklung als solche – und das heisst auch und vor allen Dingen ihre Ausrichtung – in Frage stellen, sondern sie sind selbst nichts anderes als Aspekte derselben.
Wie ist dann Erneuerung vor diesem Hintergrund aufzufassen? Erneuerung ist zwar ein Gebot – sie soll geschehen und kann deshalb auch ausbleiben –, aber sie besteht lediglich in einer angemessenen Reaktion auf die stattfindende Entwicklung. Erneuerung ergibt sich in diesem Sinn aus einer adäquaten Lektüre der «Zeichen der Zeit» zum Zwecke eines effektiven Sich-Einfügens in den allumfassenden Entwicklungsprozess, wobei «effektiv» hier bedeutet: dem Überleben dienlich. Erneuerung ist das, was diejenigen (Einzelne wie auch Organisationen) betreiben sollen, die im kulturellen – hier als Gegenstück zum «natürlichen» aufgefasst – evolutiven Überlebenskampf bestehen wollen.
Erneuerung ist in dieser Perspektive zwar ein kontingentes (und somit freiwilliges) Ereignis, sie stellt aber letztlich nichts anderes als das willentliche Einwilligen in das «Schicksal», an dem alle beteiligt sind. Oder anders gesagt: Erneuerung ist notwendig und geboten, weil man nur durch sie aus dem Entwicklungsprozess nicht herausfallen und so im Sinne des «survival of the fit» überhaupt am Leben bleiben kann.
Denn Entwicklung ist ein Faktum und eine allumfassende Wirklichkeit, die nicht in Frage gestellt werden kann, sondern zu der man sich entweder als solche, die ihr zustimmen und damit überleben, oder als solche, die ihr widerstehen und damit untergehen, verhalten kann. Wer in diesem Horizont für «Erneuerung» plädiert, hat bewusst oder unbewusst den alten Spruch des Seneca beherzigt: «Ducunt volentem fata, nolentem trahunt» («den Willigen führt, den Unwilligen treibt das Schicksal»).
Diese Weise, «Erneuerung» zu deuten, ist heute sehr verbreitet, weil die ihr zugrundeliegende Vorstellung von «Entwicklung» als allumfassendem und autonomem Prozess die Art und Weise prägt, wir wir die Wirklichkeit imaginieren, wahrnehmen und verstehen. Dies geht wiederum zum einen auf die selbstverständliche – d.h. meist unbewusste und deshalb auch unhinterfragte – Übernahme sozialdarwinistischen Gedankenguts, zum anderen auf die ebenfalls selbstverständliche Bejahung der «grossen Erzählung» über den technischen Fortschritt als unaufhaltsamen Prozess der steten «Verbesserung» («enhancement») zurück, welche letztlich in der Überwindung aller Grenzen (inklusive der Sterblichkeit) kulminieren soll.
Sosehr die Gründe nachvollziehbar sind, weshalb die Tendenz besteht, Erneuerung meist im oben genannten Sinn zu verstehen, stellt sich dennoch die berechtigte Frage, ob diese Tendenz mit einem christlichen Wirklichkeitsverständnis kompatibel ist. Erneuerung, und zwar Erneuerung des Menschen und seines «Sinnes», kommt im Neuen Testament – wie anfangs bereits angemerkt – an wichtigen Stellen zur Sprache, sei es als eine Wirklichkeit, an dem die Glaubenden bereits teilhaben («ihr habt […] den neuen Menschen angezogen, der zur Erkenntnis erneuert wird [anakaoinoumenon] nach dem Bild seines Schöpfers», Kol 3,9f.), sei es als stets aktuell bleibendes Gebot («verwandelt euch durch die Erneuerung [anakainosei] eures Sinnes», Röm 12,2).
Was ist nun aber mit dieser anakainosis gemeint? Ist ihre Bedeutung kompatibel mit einem Verständnis von «Erneuerung» als Funktion von «Entwicklung» oder steht sie vielmehr im Gegensatz dazu?
Der grundsätzliche Unterschied zwischen den beiden Deutungen von Erneuerung macht sich bereits auf der Ebene der Diagnose bemerkbar. Denn geht im ersteren Fall das Plädoyer für Erneuerung von der Feststellung aus, alles partizipiere an einem umfassenden, völlig autonomen und deshalb unfehlbaren Entwicklungsprozess, so beruht der biblische Ruf zur Erneuerung auf der Erkenntnis, der «Prozess», in dem sich der Mensch und mit ihm die ganze Wirklichkeit befindet, sei ein Holzweg. Er schreitet zwar fort, aber in die falsche Richtung; er geht zwar voran, aber in die Irre.
Denn seit dem Fall Adams verfehlt der Mensch seine Bestimmung, in gehorsamer und liebender Gemeinschaft mit dem Schöpfer zu leben. Die Annahme, «Entwicklung» sei autonom und unfehlbar, ist natürlich in dieser Perspektive Teil des Problems, mehr noch: Sie ist die Wurzel des Problems. Denn jene Annahme entspricht der Negation der göttlichen – d.h. auf den faktischen historischen Prozess nie reduzierbaren – Norm. Sie entspricht der Abkehr des Geschöpfes von seinem Schöpfer, die den ersten Schritt auf dem Holzweg darstellt, auf dem sich der Mensch befindet.
Damit hängt gleich der zweite Unterschied zusammen: Während im ersteren Fall die Frage nach dem Ziel von «Entwicklung» gar nicht gestellt zu werden braucht – weil «Entwicklung» als umfassender autonomer Prozess sich selbst sein Ziel gibt –, hat sie in biblischer Perspektive entscheidende Bedeutung. Denn das Urteil über die Qualität des Prozesses, d.h. die Bestimmung, ob er wirklich einen Fortschritt oder vielmehr einen Irrweg darstelle, hängt wesentlich damit zusammen, auf welches Ziel er sich hinbewegt.
Entwicklung ist in dieser Perspektive kein notwendiger, sondern selbst ein kontingenter Prozess, wobei seine Kontingenz von der bewussten oder unbewussten Bestimmung des Ziels abhängt. Der Prozess, die Entwicklung oder die Geschichte stellen somit keine allumfassende und jedem Urteil enthobene Totalität dar, sondern können und sollen durchaus anhand einer auf sie nicht reduziblen Norm beurteilt werden: des Willens des Schöpfers.
Dies hat freilich unmittelbare Konsequenzen für die Art und Weise, in der «Erneuerung» in biblischer Perspektive aufgefasst wird. Denn vor dem Hintergrund der besagten Diagnose kann sie nicht in der willentlichen Bejahung der vorfindlichen Entwicklung bestehen. Vor einem solchen grundsätzlichen Sich-Fügen «in das Schema dieser Welt» wird vielmehr explizit gewarnt (Röm 12,2).
Im Gegensatz dazu stellt Erneuerung einen radikalen Richtungswechsel – eine Kon-Version – dar. Im biblischen Sinn ist sie somit zwar auch kontingent und geboten, aber aus ganz anderen Gründen denn die als Funktion von Entwicklung aufgefasste Erneuerung. Denn ihre Notwendigkeit folgt nicht aus der Feststellung, dass es keine Alternativen zur faktischen Entwicklung gibt, sondern aus der Erkenntnis, dass diese, gemessen an der sie transzendierende göttliche Norm, eine Fehlentwicklung darstellt.
Der Unterschied zwischen den beiden Auffassungen von Erneuerung gründet somit letztlich im unterschiedlichen Wirklichkeitsverständnis, das sie jeweils voraussetzen: Während die eine von einer «Normativität des Faktischen» ausgeht, blickt die andere auf die vorfindliche Wirklichkeit ausgehend von einer Norm, die in ihr nicht aufgeht: dem Willen des Schöpfers, wie dieser in den Schriften des Alten und Neuen Testaments bezeugt ist. Dabei erkennt sie, dass eine Diskrepanz zwischen dem Willen Gottes und der Wirklichkeit besteht, und genau davon leitet sie die Notwendigkeit der Erneuerung – nicht als Einwilligung in den faktischen Entwicklungsprozess, sondern als bewusstem Richtungswechsel hin zum wahren Ziel – ab.
Der Vorwurf, die letztgenannte Auffassung von Erneuerung sei per se «fortschrittsfeindlich» greift freilich nicht. Denn wenn Fortschritt bedeutet, sich auf ein bestimmtes Ziel hin zu bewegen, ist jeder, der von einem falschen Weg umkehrt, «fortschrittlicher» als die, die auf ihm weitergehen. Die entscheidende Frage, an der sich die Geister scheiden, betrifft somit nicht den Fortschritt als solchen, sondern dessen Ziel: Für die einen ist das Ziel dem als evolutive und autonome Entwicklung aufgefassten Weg inhärent; für die anderen ist das Ziel vorgegeben, kann aber auch verfehlt werden.
Die Beachtung dieses grundelgenden Unterschieds ist nicht zuletzt im kirchlichen und speziell im reformierten Kontext wichtig. Denn gerade die unreflektierte Übernahme des ersteren, funktionalen Erneuerungsverständnisses kann dazu führen, dass der beliebte Spruch: «Ecclesia reformata semper reformanda» fundamental missverstanden wird. Dabei ist es durchaus angemessen, «Reformation» und «Erneuerung» als Synonyme zu betrachten, aber nur wenn Erneuerung im biblischen Sinn als Kon-Version zum göttlich vorgegebenen Ziel verstanden wird.
Dass eine solche Reformation bzw. Erneuerung ferner als eine stets aktuell bleibende Aufgabe betrachtet wird («semper reformanda»), gründet in der Erkenntnis, dass die Neigung zur Abkehr von Gott dem Menschen und somit auch der Kirche innewohnt: Beide befinden sich diesseits des Eschaton immer gleichsam an der Kippe zur Apostasie. Deshalb bleibt der Ruf zur Erneuerung für die Kirche nicht weniger als für den Einzelnen immer aktuell. Die kontingente Sinnesänderung und der Richtungswechsel hin zum wahren Ziel, das man womöglich – und schon wieder – aus den Augen verloren hat, ist eine Aufgabe, die nie als erledigt gelten kann.
Dr. Luca Baschera (VDM) ist Privatdozent an der Universität Zürich und Beauftragter für Theologie der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz EKS.