Jesus in die Ritzen der Gesellschaft folgen
Menschen Gutes tun und im Alltag den Glauben mit
ihnen teilen, sie dann zur Gemeinschaft in ihrem Lebenskontext ermutigen: Das sind für den britischen Missiologen
Michael Moynagh Schritte zum Aufbau von fresh expressions
of Church. Der Vordenker der Bewegung für neue Gemeindeformen
in der Church of England erläutert im Interview,
dass es Kirche für jeden Kontext braucht.
3E: Was mögen Sie am meisten an der Kirche?
Michael Moynagh: Ich liebe an der Kirche, dass sie tatsächlich dazu berufen ist, Gottes Mission auszuführen! Durch die Kraft des Geistes Beziehungen, Verhaltensmuster, letztlich die ganze Gesellschaft zu verändern und heilsam auf unseren ganzen Planeten einzuwirken. Die Kirche ist das Medium, das Gott für diese Veränderungs-Mission gebraucht, und das macht Kirche liebenswert.
Was vermissen Sie am meisten an der Kirche?
Wenn sie nicht missional aufgestellt ist, dann fehlt aus meiner Sicht etwas. Aber es fehlt auch tatsächlich etwas, wenn Leute, die nichts weiter mit der Kirche zu tun haben, dann feststellen, dass die Kirche für sie ausser Reichweite und eben nicht zugänglich ist. Alle diese Menschen wären vielleicht in der Kirche mit dabei, wenn die Kirche in der Liebe ihnen gegenüber nicht so versagen würde. Und so fehlen sie eben alle in der Kirche, und deswegen vermisse ich dann zwangsläufig auch all diese Leute.
Was ist die grösste Herausforderung innerhalb der Kirche?
Jede Gemeinde ist in der einen oder anderen Hinsicht exklusiv, also schliesst etwas oder jemanden aus. Das liegt in der Natur der Sache. Eine bestimmte Uhrzeit und Ort, wann und wo man sich trifft. Ein bestimmter Stil und Ablauf – diese Faktoren werden einige Leute anziehen, aber gleichzeitig schliesst man die aus, die zu der bestimmten Zeit nicht an den bestimmten Ort kommen können, alle denen der Stil nicht gefällt, die Predigt oder alle die Leute, die gar nicht die Sehnsucht nach so etwas wie einem Gottesdienst teilen.
Und das ist ein echtes Problem für die Kirche, denn wir möchten im Gottesdienst ja Gott feiern, und Gott ist inklusiv. Und dann feiern wir Gottes Inklusivität in einer für andere Leute nicht inklusiven Weise. Und damit ist gelebte Inklusivität die Haupt-Herausforderung für die Kirche.
Wie können wir darauf richtig reagieren?
Meiner Meinung nach ist die einzige Antwort darauf, indem Kirche neue Formen von christlicher Gemeinschaft mit und mitten unter Leuten hervorzubringt, für die die real existierende Kirche unzugänglich ist. Es gibt somit aus meiner Sicht für die Kirche keinen anderen Weg zu mehr Inklusivität als neue Gemeinden und Gemeinschaften hervorzubringen. Hierin liegt meiner Meinung nach die grösste Herausforderung für die Kirche.
Welche Frage sollte die Kirche sich unbedingt stellen?
Die wichtigste Frage ist: Wer ist hier NICHT beteiligt? Wen erreichen wir NICHT, wem dienen wir NICHT? Wer sind die Leute, die NICHT bei unseren Veranstaltungen auftauchen? Und dann folgt daraus die andere Frage: Wie können wir sie lieben, und zwar so, dass es auch ankommt? Mit wem stehen wir noch nicht in Beziehung und wie können wir das ändern und genau diesen Menschen Liebe bringen? Wie können wir sie dann auch mit dem Evangelium erreichen?
Warum müssen Kirche und die Jünger Jesu «mit beiden Flügeln fliegen»?
Als Jesus mit seinen Jüngern zusammen war, lehrte er und bildete er seine Jünger aus. Aber er tat das auf zweierlei Arten. Es gab Zeiten, da zog er sich mit seinen Jüngern zurück, um sie zu unterrichten und zu anderen Zeiten lehrte er sie etwas in der Mitte des Alltags. Es gibt also einen eher vom sonstigen Umfeld zurückgezogenen Weg und einen sehr mit der Lebenswelt engagierten Weg, und beide haben ihre Berechtigung.
Wir leben aber in der Kirche oft zu einseitig den Weg der Zurückgezogenheit. Wir klinken uns am Sonntag aus unserem üblichen Umfeld aus, um zur Kirche zu gehen, und dann oft noch unter der Woche für einen Hauskreis oder sonstige Veranstaltungen. Tatsächlich ist es legitim, wenn ein Teil der Jüngerschaftsausbildung in der Zurückgezogenheit stattfindet. Aber wir brauchen ebenso den Weg des Engagements mit der Lebenswelt in der Jüngerschaftsausbildung. Ich nenne das immer eine «Jüngerschaft fürs 21. Jahrhundert».
Was meinen Sie damit genau?
Indem wir den Leuten um uns herum zuhören, können wir leicht umsetzbare Möglichkeiten finden, sie zu lieben. Wir bauen mit diesen Menschen Beziehungen auf, und wenn sich dann die Möglichkeit ergibt, das Evangelium mit ihnen zu teilen, dann tun wir das auch. Und wenn Menschen für sich den Glauben annehmen, dann sollte auch die Ermutigung für sie da sein, eine Gemeinde zu sein, da wo sie sind, die Gottesdienste feiert, und als Kirche im Kleinen auch in Verbindung mit der Kirche als größerem Ganzem steht. So entstehen viele Mini-Kirchen in alltäglichen Kontexten, die alle mit einer grösseren Gemeinde oder Kirche in Verbindung stehen.
Als Christen haben wir manchmal eine recht lahme Vorstellung von Liebe. Wir denken, Liebe sei so etwas, wie zum Beispiel ein nettes, höfliches Gespräch miteinander zu führen. Aber im Kontext einer Familie bedeutet Liebe viel mehr. Hier ist die Liebe oft am Organisieren: Die Kinder müssen zur Schule, das Abendessen muss hergerichtet werden. Man will als Familie mal gemeinsam was Schönes unternehmen oder in Urlaub fahren. Egal, ob eine Geburtstagsfeier oder ein Wochenendausflug – das muss alles irgendwie organisiert werden. Und da ist die Liebe am Werk.
Was bedeutet das für die Gemeinden?
Als Kirche können wir ganz praktisch in unserem direkten Umfeld etwas Brauchbares auf die Beine stellen. Wir müssen herausfinden, wie die Liebe zu Menschen in unserem Umfeld ausgedrückt werden kann; wir dürfen Beziehungen aufbauen und mit ihnen unseren Glauben, die gute Botschaft teilen, und sie dann ermutigen, ihre Gemeinschaft in ihrem Lebenskontext aufzubauen, und sich mit der Kirche als Ganzem zu vernetzen. Wir müssen Jesus in die Ritzen der Gesellschaft folgen.
Sie haben ein Buch mit dem Titel «Church for Every Context» geschrieben. Was bedeutet das?
Die Kirche hat das Problem, dass sie hauptsächlich ihren Fokus darauf hat, wo die Menschen wohnen, also im Sprengelprinzip eines Wohngebietes denkt. Als sich aber das Leben mehr auffächerte, blieb die Kirche sozusagen am örtlich umrissenen Sprengel hängen und kam nicht mit den Leuten auf die Arbeit, zu ihren Freizeitaktivitäten und so weiter, und bis auf ein paar Ausnahmen hat die Kirche bis heute in diesen Bereichen keine nennenswerte Präsenz.
Wenn heute jemand eine Kirche am Arbeitsplatz startet, eine christliche Gemeinschaft für Radfahrer, für Fotografen, für Wohnungslose oder für Tafel-Besucher, dann bringt das die Kirche und damit Jesus zurück in diese Facetten des Alltagslebens. Wenn Jesus Herr von Allem und Allen ist, dann ist er doch auch Herr über alle Teile unseres alltäglichen Lebens. Und FreshX versucht genau das sichtbar zu machen und bringt Kirche wieder in all diesen unterschiedlichen Teilen des Lebens ins Spiel.
Der anglikanische Pfarrer und Missiologe Dr. Michael Moynagh ist durch seine Bücher zu fresh expressions of Church auch im deutschen Sprachraum bekannt geworden. Der Vordenker der Fresh X-Bewegung unterrichtet an der Wycliffe Hall in Oxford.
Das Gespräch von Ulrich Mang mit Michael Moynagh ist ungekürzt im Magazin 3E 2/2020 abgedruckt. Der zweite Teil, mit Gedanken zur mixed economy, erscheint in 4/2020. Bilder: Ulrich Mang.
Websites: http://www.freshexpressions.ch https://freshexpressions.org.uk/