Modelle und Hilfen für den Gemeindeaufbau

Worauf kommt es in der Gemeindeentwicklung an – und wie sollen Verantwortliche sie an die Hand nehmen? Der Gemeindeberater Marcel Hauser hat in einem Buch Modelle zur Analyse der Situation der Gemeinde und ihrer Entwicklung zusammengestellt. Er arbeitet auch die Chancen bisheriger und neuer kirchlicher Formen heraus.
Im idea-Interview hebt er hervor, was mit Konzepten
nicht machbar ist.

Marcel Hauser, es gibt schon eine ziemliche Bibliothek zum Thema Gemeindeaufbau. Was hat Sie bewogen, noch ein Buch zu schreiben?
Marcel Hauser:
Es gibt diverse Publikationen, die ein Modell vorstellen, wie z.B. Natürliche Gemeindeentwicklung (C.A. Schwarz), Vitale Gemeinde (R. Warren) und es gibt vieles auf akademischem Niveau für Theologen. Als normales Mitglied einer Kirchenleitung ist es jedoch schwer, sich einen Überblick zu verschaffen und abzuschätzen, welches Konzept oder Modell in der eigenen Gemeindesituation passend sein könnte. Hier setzte ich an.

Nach 20 Jahren Tätigkeit in der Gemeindeberatung bin ich zur Überzeugung gelangt, dass eine nachhaltige Hilfe für Kirchen darin bestehen würde, den Ehrenamtlichen, Freiwilligen und Angestellten ein Grundwissen von Entwicklungsmöglichkeiten und von verfügbaren Konzepten und Modellen in der Gemeindeentwicklung zu vermittelt.

Was ist der Zusatznutzen für Leute, die schon viel über Gemeindeaufbau und Gemeindeentwicklung gelesen und gehört haben?
Es ist der Zusammenzug und Vergleich der verschiedenen Ansätze. Und damit verbunden auch das Sichtbarmachen der Möglichkeiten und Grenzen, wie auch der Parallelen und der Besonderheiten der verschiedenen Konzepte und Modelle.

Zudem kann das Buch als Nachschlagewerk verwendet werden. Über das Stichwort- und Inhaltsverzeichnis kann man mit einem beliebigen Thema beginnen. Nach jedem Abschnitt wird auf Bezüge zu anderen Kapiteln hingewiesen. Das ermöglicht einen schnellen Überblick und Antworten auf individuelle Fragen.

Wo liegt der Knackpunkt in Gemeinden, die eigentlich eine Weiterentwicklung brauchen, aber trotz allen Bemühungen nicht weiterkommen?
Es gibt ganz unterschiedliche Knackpunkte, wie zum Beispiel: Das Leitungsgremium, die Persönlichkeit es Predigers oder der Pfarrperson, die Geschichte und die gewachsenen Kultur, eine zu «enge» Vorstellung wie ein Gottesdienst und das Gemeindeleben auszusehen hat, das Gemeindeverständnis, Uneinigkeit in der Leitung oder unter den Angestellten oder die theologische Prägung.

Von Jesus die wesentlichen Impulse erbitten: Marcel Hauser

Zudem ist oft nicht klar, oder man ist sich nicht einig, wo und wie man ansetzen könnte, es bestehen verschiedene Vorstellungen und Wünsche.

Was braucht es, um eine positive Entwicklung auszulösen?
Glaube, Hoffnung und Liebe! Mit meiner Veröffentlichung versuche ich diese Dinge zu fördern. Und natürlich braucht es eine vom heiligen Geist geschenkte Perspektive. Jesus ist das Haupt der Gemeinde. Es ist von Bedeutung, von Ihm die wesentlichen Impulse zu erwarten und zu erbeten.

Etwas vereinfacht gesagt, beobachte ich zwei Arten, auf denen dies umgesetzt wird. Die eine ist durch ein Leitungsgremium, das eine klare Sicht entwickelt oder vielleicht besser gesagt, sich schenken lässt, und der er es gelingt, eine positive Entwicklung einzuleiten und die Gemeinde weiterzuführen.

Die andere Art ist, dass eine positive Entwicklung durch partizipative Prozesse eingeleitet und unterstützt wird. Das heisst, man bezieht bei diesen Fragen die Mitglieder mit ein und setzt damit stärker auf das Priestertum aller Gläubigen. In der Praxis ist es oft eine Mischung.

Haben Sie dazu ein gutes Beispiel?
Eine grössere Gruppe jüngerer Gemeindemitglieder wollte Gottesdienste, die ihnen entsprechen. Da die Pfarrpersonen nicht bereit waren, sich darauf einzulassen, hat die Gemeindeleitung den Jungen den Freiraum gegeben, selbst solche Gottesdienste zu gestalten, dies in Begleitung einer Person mit Beratungserfahrung. Am Ende einer eineinhalb Tage dauernden Zukunftskonferenz wurden sechs Arbeitsgruppen gebildet (Musik, Gemeinschaft, Kreativität, Seelsorge und Predigt, Gebet, Glaubenskurs) mit je 6-12 Mitgliedern.

In der Folge konnten jahrelang, mit einer wachsenden Teilnehmerzahl, zwei bis drei Gottesdienste pro Monat für das Zielpublikum 17- bis 35-Jährige angeboten werden. Den grössten Teil der Arbeit leisteten die Freiwilligen, die so ihre Kirche mitgestalten konnten und ein Teil von ihr wurden. Das hat die Gesamtgemeinde belebt und einen nachhaltigen Wachstumsschub ausgelöst.

Ralph Kunz fordert im Vorwort auch die geistlichen Dimensionen bei der Gemeindeentwicklung ein. Wie können sie in traditionellen landeskirchlichen Gemeinden überhaupt verstanden werden und zum Tragen kommen?
Dazu ein Beispiel. Ich habe das Vorrecht, eine Lerngemeinschaft von sieben reformierten Kirchgemeinden zu begleiten, die miteinander und voneinander lernen möchten. Ein Teil sind eher traditionelle oder liberal geprägte Gemeinden; ein anderer Teil steht Freikirchen näher.

Was mich sehr erstaunt hat ist, dass schnell und oft grundlegende geistliche Fragen gestellt wurden wie: Wie kommen wir zu Mitarbeitenden mit einem inneren Bezug zu Jesus und der Bibel? Wie entsteht Glaube? Was heisst es, heute das Evangelium zu verkünden?

Aufgrund der abnehmenden Anzahl Gemeindemitglieder, Gottesdienstbesuchenden und Mitarbeitenden hinterfragen diverse Kirchenleitungsmitglieder Pfarrerinnen und Pfarrer ihre eigenen Vorstellungen und Überzeugungen. Dies natürlich nur in einem Klima der gegenseitigen Wertschätzung, in dem klar ist, dass man einander unterstützen und fördern möchte und man gemeinsam nach passenden Wegen für die jeweilige Situation sucht. In einem solchen Klima ist vieles möglich.

Konnten Sie auch Trends bei den interessierten Gemeinden feststellen, zum Beispiel von der Dienstleistungskirche hin zur Beteiligungs- und Ermöglichungskirche?
Vielerorts ist der Wunsch nach einer Entwicklung in Richtung Beteiligungskirche und Ermöglichungskirche spürbar. Auch darum, weil die personellen Ressourcen knapper werden und es immer offensichtlicher wird, dass die Perspektive einer reinen Dienstleistungskirche längerfristig nicht rosig ist.

Die Gestaltung eines passenden Prozesses gestaltet sich jedoch mancherorts schwerer als erwartet. Eine solche Entwicklung bedeutet nicht nur eine Kulturveränderung für die Mitglieder, es sind auch nicht alle Mitarbeitenden begabt und willens intensivere Kontakte zu Freiwillige zu pflegen, sie zu motivieren, anzuleiten, Verantwortung und Kompetenzen zu übertragen und sie längerfristig in ihren Aufgaben zu begleiten. Die Gemeindeleitungen brauchen Fingerspitzengefühl und oft braucht es partizipative Prozesse, um diesbezüglich einen stimmigen Weg zu finden.


Marcel Hauser, Jahrgang 1959, ist verheiratet und hat mit seiner Frau Yvonne zwei Kinder. Er begann seine berufliche Laufbahn als Chemielaborant, absolvierte dann das TDS Aarau, HF Kirche und Soziales, und arbeitete als Sozialdiakon. Nach einer weiteren Ausbildung zum Supervisor, Coach und Organisationsberater BSO, war Marcel Hauser 20 Jahre teilzeitlich als Selbständigerwerbender tätig, vor allem im kirchlichen und sozialen Umfeld. 2019 gründete er die hauserberatung GmbH und ist nun vollzeitig als Coach, Supervisor sowie Gemeinde- und Organisationsberater tätig. www.hauser-beratung.ch


Marcel Hauser: Neues Leben in der Kirche – Impulse für die Gemeindeentwicklung und den Gemeindeaufbau, Books on Demand, 316 Seiten, ISBN 9778-3-7504-2750-1
Die Chancen bisheriger und neuer kirchlicher Formen werden herausgearbeitet und anhand vieler Beispiele veranschaulicht. Verschiedene Modelle bieten unterschiedliche Zugänge, um die eigene Gemeindesituation zu analysieren und weiterzuentwickeln.
Das Buch kann auch als E-Book bei www.hauser-beratung.ch mit freiwilligem Unkostenbeitrag heruntergeladen werden – inklusiv Arbeitsblätter und Hilfsmittel.

Das von Fritz Imhof schriftlich geführte Interview erschien in idea spektrum, 22. Juli 2020.