Reformierte nach dem Fall Lochers
Die Synode der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) am 15. Juni in Bern stand im Bann des Doppelrücktritts aus der Exekutive und einer Beschwerde gegen Gottfried Locher. Bei ihrer Behandlung durch den Rat im April war die Liaison des Ratspräsidenten mit Sabine Brändlin ans Licht gekommen. Die verbleibenden Ratsmitglieder erläuterten den Synodalen, wie sie im Strudel der Ereignisse handelten.
Gottfried Locher und Sabine Brändlin hatten eine Liaison. Diese Information, die das Glarner Ratsmitglied Ulrich Knoepfel den Synodalen im Berner Kursaal gab, rückte die schwer verständlichen Vorgänge in der EKS-Leitung blitzartig in ein anderes Licht.
Sabine Brändlin gab dem Rat der EKS am 17. April Kenntnis von der Beziehung. Vier Tage zuvor hatte der Rat erstmals die Beschwerde einer ehemaligen Mitarbeiterin gegen Locher auf dem Tisch (zu deren Bearbeitung war Brändlin von Vizepräsidentin Esther Gaillard beigezogen worden, ohne dass der Rat davon wusste).
Die Pfarrerin trat nach ihrem Eingeständnis für das Geschäft in den Ausstand und gab wenige Tage später, am 24. April, ihren sofortigen Rücktritt, den sie ohne Absprache mit dem Rat den Medien kommunizierte. Gottfried Locher nahm am 26. Mai den Hut.
Heisser Brei
Dass der Rat der EKS, von der Sache überrollt, teils karg und missverständlich kommunizierte, teils (aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen) gar nichts mitteilte, erklärten vier der verbleibenden Mitglieder nun den Synodalen mit einer Chronologie, Schlaglichtern auf die Problemaspekte und der Darlegung der eingeleiteten Massnahmen. In Abwesenheit der beiden Zurückgetretenen antworteten Esther Gaillard und Ruth Pfister, Daniel Reuter und Pierre-Philippe Blaser – ohne die Liaison als solche zu erwähnen – auf die zwölf Fragen, welche vier Mitgliedskirchen im Mai in einer Interpellation gestellt hatten.
Dabei betonten sie, der Rat habe die Beschwerde von Anfang an ernst genommen und schon am 17. April eine unabhängige, externe Untersuchung beschlossen.
Klartext
Der Glarner Kirchenratspräsident Ulrich Knoepfel, Pfarrer und promovierter Jurist, sprach dann in einer persönlichen Erklärung Klartext und zog die Linien aus. Er gab bekannt, er habe Locher und Brändlin nach dem Bekanntwerden ihres Verhältnisses am 21. bzw. 23. April zum Rücktritt aufgefordert.
Die «intime Liaison» der beiden verheirateten Exekutivmitglieder bestand laut Knoepfel schon im Frühjahr 2018, als Locher mit Unterstützung Brändlins, Ratsmitglied seit Anfang 2017, wiedergewählt wurde. Dem Rat gegenüber habe der Präsident das damals kursierende Gerücht von der Beziehung dementiert und als Diffamierung durch seine Gegner hingestellt. «Das war nicht wahr.» Laut Knoepfel ist davon auszugehen, dass Locher wie Brändlin 2018 «nicht gewählt worden wären, hätten die Abgeordneten den Sachverhalt gekannt».
Vertrauensbruch
Knoepfel gab an, das Verhältnis habe bis in den Herbst 2019 gedauert. Er sehe im Verhalten der beiden «eine Hintergehung der AV, der heutigen Synode, und der Ratskollegen». Die Zusammenhänge sollten die Synodalen als Wahlorgan kennen. Ihr Recht auf «unverblümte Information» gehe dem Recht auf Persönlichkeitsschutz in diesem Fall vor. «Ich stehe zu einer Kirche, in der auch Unangenehmes nicht verschwiegen wird.»
Kommunikatives Desaster
Ulrich Knoepfel kommentierte seinerseits die Kommunikationspannen, welche zu Schlagzeilen führten. Die von Sabine Brändlin in ihrem hastig verbreiteten Communiqué angeführten «unüberbrückbaren Differenzen» habe es für die Ratskollegen nicht gegeben. Fälschlicherweise hätten Medien daraufhin spekuliert, sie sei zurückgetreten, weil der Rat die Beschwerde habe unter den Tisch wischen wollen. Dies sei absolut nicht der Fall, betonte Knoepfel.
Haltlos sei auch der Verdacht, von Gottfried Locher und seiner Anwältin zum Vorwurf erhoben, Brändlin habe die Beschwerde bearbeitet, um seinen Sturz zu betreiben. Ulrich Knoepfel bat die Synodalen um Verständnis dafür, «dass durch all diese Umstände die Behandlung der Beschwerde im Rat aufs Äusserste erschwert und verzögert wurde». Locher und Brändlin hätten ihrer Kirche «viel Leid und Schmach erspart», wenn sie die Beziehung selbst offengelegt hätten. – Die Synodalen dankten Knoepfel mit Applaus.
Externe Untersuchung
Mit der Untersuchung der in der Beschwerde erhobenen Vorwürfe hat der Rat der EKS eine Zürcher Anwaltskanzlei beauftragt. Die Juristen stellten sich in Bern vor. Die Synodalen gaben dem Wunsch des Rates für diese externe, kostspielige Untersuchung statt. Sie setzten auf Vorschlag der Synodeleitung eine nichtständige Kommission ein; ihr sollen die Juristen Bericht erstatten.
Die ausführliche Antwort auf die Interpellation wurde vom Aargauer Kirchenratspräsidenten Christoph Weber-Berg mit Verständnis und mit weiteren Fragen quittiert. Er und drei andere kantonale Kirchenräte hatten vor Wochen über Medien verlauten lassen, weitere Frauen hätten ihnen Hinweise auf andere «Grenzverletzungen» Lochers gegeben. Weber-Berg sagte, nach diesen Informationen gehe es um weit mehr als um einen «zeitlich weit zurückliegender Einzelfall». (Der Rat erfuhr davon aus den Medien, die Gruppe hat ihm die Informationen bisher vorenthalten.)
Dunkle Wolken über der EKS
Insgesamt verlief die erste Synode der neugeschaffenen nationalen Kirchengemeinschaft «Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz», die wegen der Corona-Bekämpfung statt in Sitten im Berner Kursaal stattfand und nur einen Tag dauerte, ganz anders als erwartet. Als Willkomm in die EKS-Ära gab es keine Feier, keinen Gottesdienst, keine Inpflichtnahme der Synodalen (die Verfassung schreibt ein Amtsgelübde vor). Den 75 anwesenden Kirchenvertretern, die mit unterschiedlichem Informationsstand angereist waren, und den Medienleuten wurden die Überforderung des Rats durch das komplexe Geschäft und die Unsicherheit der Synodeleitung vor Augen geführt.
Öffentlich – oder vertraulich?
Die Synodeleitung unter Pierre de Salis mühte sich ab mit der ur-reformierten Transparenz-Forderung beim Versuch, das Vorgefallene angemessen zu erörtern, ohne Klagen wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten zu riskieren. Über Stunden wurde in mehreren Anläufen diskutiert, ob der Bericht der GPK zur Beschwerde und dem Vorgehen des Rats vertraulich bleiben sollte.
Der GPK-Präsident Johannes Roth sagte zwar, nach unabhängiger juristischer Prüfung enthalte der Bericht keine Passagen, welche Persönlichkeitsrechte tangierten. Doch wünschte er, die Geschäftsführung des Rats im Zusammenhang mit den Rücktritten in interner Sitzung zu beraten. Roths entsprechender Antrag verfehlte die erforderliche Zweidrittelsmehrheit nur knapp. Die Synodeleitung sperrte sich angesichts der Bedenken gegen die Abgabe des Berichts bis zur Nachmittagspause, nach der Erklärung von Ulrich Knoepfel.
Pierre de Salis hatte zu Beginn der Sitzung die Verdienste von Gottfried Locher und Sabine Brändlin um den Schweizer Protestantismus kurz gewürdigt. Sie würden, falls sie es wünschten, im November förmlich verabschiedet. De Salis dankte der Geschäftsstelle, namentlich ihrer Leiterin Hella Hoppe, für den grossen Einsatz.
EKS ohne Handlungsfelder
Die vom Büro der Synode wegen Corona vorab gekürzte Traktandenliste – die Synode hätte auch ihr eigenes Reglement weiterberaten sollen – wurde zu Beginn der Sitzung weiter gestutzt: Christoph Weber-Berg beantragte, die vom Rat vorgelegten Handlungsfelder der EKS zu vertagen. Die Synodalen stimmten dem mit wenigen Gegenstimmen zu. Dasselbe widerfuhr der digitalen Kommunikationsplattform (Konzept und Budget). Die Synodalen strichen auch die Abnahme der Rechnung 2019 aus den Traktanden.
HEKS und BFA fusionieren
Von den übrigen anstehenden Themen wurde angesichts der fortgeschrittenen Zeit noch die für 2021 geplante Fusion der Stiftungen von HEKS und «Brot für alle» behandelt. Die Synodalen gaben ihr Plazet für die laufenden Fusionsverhandlungen, welche von den Stiftungsräten der beiden Werke geführt werden. Sie akzentuierten mit dem Ja zu Berner Zusatzanträgen die Erwartung, dass das neue Werk mit Kirchen und Kirchgemeinden kooperiert, Theologen mitreden lässt, die kirchliche Zusammenarbeit und die Sammelkampagne weiterhin gewichtet und internationale Partner ernst nimmt.
Kommentar: Ein Scherbenhaufen
Nach dem Rücktritt des «obersten Protestanten» stehen die Schweizer Reformierten vor einem Scherbenhaufen. Ihn aufzuräumen, wird dauern und viel kosten. Die erste Synode der EKS bot abgesehen vom Statement Ulrich Knoepfels über weite Strecken ein klägliches Schauspiel.
Der Fall Gottfried Lochers wegen seines Verhaltens gegenüber Frauen steht in merkwürdiger zeitlicher Nähe zum Beschluss des Nationalrats, die zivile Ehe neu zu definieren. Locher forcierte im Sommer 2019 das Ja der Reformierten zur «Ehe für alle» – im Bewusstsein, bibelorientierte Mitglieder vor den Kopf zu stossen.
Der Ratspräsident gab den Schweizer Reformierten in den vergangenen Jahren wesentliche Impulse. Nun ist der Start der nationalen Kirchengemeinschaft – sein grosses Projekt – missglückt, das Profil der Reformierten diffuser geworden. Wird die Synode künftig mit erkennbar geistlicher Motivation agieren?
Dem Rat, dessen Arbeit im Lockdown massiv erschwert war, ist (nicht nur fürs Aufkehren der Scherben) Vertrauen zu schenken – sonst kommen die Reformierten auf nationaler Ebene nicht vom Fleck.
Wenn in der EKS an der Prävention von Grenzverletzungen gearbeitet wird, werden die Verantwortlichen gut daran tun, ein Wort der Sprüche (22,38) zu beherzigen – nicht nur für diesen Bereich: «Verrücke nicht die uralte Grenze, die deine Väter gesetzt haben.»