«Ich, Karl, durch Gottes Gnade König»
Er herrschte von der Nordsee bis zur Adria. Auch die dünnbesiedelten Gebiete zwischen Bodensee und Genfersee gehörten zum Reich Karls des Grossen. Dem Frankenkönig, der im Januar 814 starb, ging es so sehr um die Festigung seiner Herrschaft wie um den kulturellen und religiösen Aufbau. Er wollte die Völker angesichts des nahen Endes der Welt recht regieren. In Zeiten der Entchristlichung lohnt sich ein Blick zurück auf jene ferne Zeit, in der Westeuropa tiefer christianisiert und mit dem Bischof von Rom verbunden wurde. Neue Bücher bringen uns den König und sein Ringen näher.
Aus Anlass des 1200. Todestags von Karl dem Grossen stellt eine Ausstellung im Landesmuseum in Zürich den epochalen Herrscher vor und zeigt, wie die Kultur in das Alpenland kam (bis 2. Februar). Wenn Karl in seinem Reich über 230 Klöster errichten oder vergrössern liess, ging es um die Förderung von Bildung wie um die Festigung seiner Herrschaft. Müstair, um 775 begonnen, liegt unweit des wichtigen Alpenübergangs von Augsburg nach Verona. Ein Besuch des jahrzehntelang Krieg führenden Herrschers im friedlichen Alemannien ist nicht bezeugt, aber die Gebiete zwischen Rhein und Rhone spürten die Hand des Franken.
Alemannen und Franken
Die Alemannen waren im 6. Jahrhundert in die heutige Deutschschweiz eingewandert und im 7. Jahrhundert Christen geworden, namentlich durch iroschottische Wanderprediger. Der für die neue Botschaft offene Adel erlaubte ihnen zu predigen. Zu den Bistümern aus römischer Zeit (Chur 451) kamen neue dazu (Konstanz um 585). Das dünn besiedelte Land wurde mit Kirchlein geschmückt. Generationen später war es Karl, der der religiösen Entwicklung eine Richtung gab.
Der König vereinheitlichte den Gottesdienst nach dem römischen Messbuch und schrieb Benedikts mediterran gestimmte Mönchsregel allen Klöstern vor. Ausserhalb des Adels konnten damals fast nur Mönche und Priester Latein lesen und schreiben. 779 ordnete Karl an, an jedem Bischofssitz und in jedem Kloster Schreib- und Leseschulen einzurichten. Die Priester sollten das Evangelium lesen und erläutern, das Volk das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser in seiner Sprache sprechen können und verstehen. Das ambitiöse Bildungsprojekt leiteten Gelehrte, die Karl als Freunde um sich scharte, über ihnen der Angelsachse Alkuin, der den antiken Bildungskanon der sieben Freien Künste übernahm.
Bündnis mit Rom
Karls Vater Pippin, wie sein Vater Hausmeier des Merowingerkönigs (faktisch Herrscher des Reichs), hatte sich 751 bei der Thronbesteigung von Bischöfen weihen lassen. „Die göttliche Vorsehung hat uns für den Königsthron gesalbt“, liess er wissen. 754 verbündete er sich mit dem Papst, der ihm und seinen zwei Söhnen die Firmsalbung spendete. Um einen Bundesgenossen im Kampf mit den Langobarden bemüht, erhob Stephan II. Pippin und die Knaben zu Schutzherren Roms (Patricii Romanorum). Der Frankenkönig ermöglichte anderseits die Bildung des Kirchenstaats.
Prägendes Erlebnis des päpstlichen Pomps
Als sechsjähriger Knabe erlebte Karl 754 die Begegnung Pippins mit Stephan II. Johannes Fried stützt sich in seiner neuen Biografie Karls auf den päpstlichen Bericht: „Der Sohn sah, wie der Vater dem Pontifex drei Meilen entgegen ritt, dort vom Pferd stieg, sich erniedrigte und zu Boden fiel, dem allerheiligsten Priester den Stratordienst leistet, was hiess: sein Pferd ein Strecke Wegs am Zügel führte und ihm wie ein Pferdeknecht diente… Der Knabe sah weiter, wie sich eine Prozession formte, hörte, wie der Papst und sein Gefolge das Gloria anstimmten, dann endlose Laudes… und wie alle schliesslich unter Hymnengesängen die Pfalz erreichten“.
Lobpreis vereinheitlicht
754 wurde ein Grund gelegt, auf dem Karl später aufbaute – auch für den Gottesdienst. Johannes Fried verweist auf die Bedeutung, die der römische Gesang seitdem für den Frankenkönig besass. In Gallien sollte wie in Rom psalmodiert werden, damit sie geeint seien „in der verehrungswürdigen Tradition des einen Gesanges und sich nicht unterschieden durch unterschiedliche Zelebration der Liturgie“. Die Rom-Bindung zeigt sich überdies darin, dass nach dem Sieg über die Langobarden Karl nicht bloss als Eroberer Italiens gepriesen, sondern auch als Abkömmling Trojas bezeichnet wurde. Von Troja war Aeneas, der mythische Stammvater Roms, gekommen...
450 Jahre nach Konstantins epochalem Schritt umgaben die fränkischen Emporkömmlinge ihre mit Schwert und List errungene Herrschaft mit einer christlichen Aura. Drei Jahre nach dem Tod seines Bruders und Mitherrschers Karlmann besuchte Karl 774 Rom. „Der König wusste fortan, welche Ziele es zu verwirklichen galt“, schreibt Fried. „Sein Königtum, sein Reich, sollte sich diesem Rom angleichen.“ An Weihnachten 800 liess er sich vom Papst zum Kaiser krönen.
Kirche beschützt und instrumentalisiert
Alkuin schrieb ihm, Christus habe ihn zum „Rektor des christlichen Volkes“ bestimmt; in ihm allein liege „das ganze Heil aller Kirchen Christi beschlossen“. Die Kehrseite dieser Verbindung war, dass Karl in die Ordnung der Kirche eingriff, Kirchenleute politisch einsetzte – Geistliche wurden mit Adligen als Königsboten ausgesandt – und auch von Bischöfen und Äbten Kämpfer für seine Feldzüge forderte. Züge wie jene gegen die Sachsen nordöstlich des Rheins, die Heiden geblieben waren. Die Stämme wurden in einem über 30-jährigen blutigen Ringen unterworfen und mittels Taufe zwangschristianisiert.
Schrift und Geld für Europa
Die Reichsbildung in Westeuropas mit dem Schwert war das Eine. Grundlagen zum Abendland legte Karl, indem er die karolingische Minuskel als neue Schrift einführte (Wörter deutlich voneinander abgesetzt) und den Silberdenar reichsweit zum offiziellen Zahlungsmittel machte – wesentlich für das heterogene Reich von vielleicht 20 Millionen Menschen, Völker, die einander fremd blieben, verstreut über eine knappe Million Quadratkilometer. Die vier Sprachräume der Schweiz deuten sich in jener Zeit an; das erste Büchlein deutscher Sprache wird in Zürich gezeigt. Der zur Ausstellung erschienene grossformatige, reich illustrierte Band „Die Zeit Karls des Grossen in der Schweiz“ stellt die hiesigen Belege und Spuren jener Epoche zusammen und erläutert sie kenntnisreich, von den Kultbauten (v.a. in Graubünden und Tessin) über Skulptur und Kunsthandwerk bis zur Schrift- und Buchkultur.
Endzeitbewusstsein…
Was glaubte Karl in seinem Herzen? Es ist uns nicht bekannt, wie Johannes Fried in seiner neuen, grossen Biografie des Karolingers betont. Nur Taten, aber „kaum Privates, nichts Persönliches“ sei zu fassen. Zwar hielten Geschichtsschreiber in den Annalen des Reichs deutlich mehr über ihn als über seine Zeitgenossen fest. Doch kaum ein Brief und kein Ausspruch sei Karl sicher zuzuschreiben, notiert Fried, kein Wort seiner Ehefrauen sei überliefert.
… und Liebschaften
Karl hatte von klein auf Feldzüge mitgemacht, war durch sie zum Krieger geformt worden, der seine Ziele mit Gewalt erreichte. Doch wusste er um die Nähe des Jüngsten Gerichts. Morgens und abends ging er zur Messe. Sein Interesse an Theologie, der Bildungshunger und die Bibelkenntnis hielten ihn nicht von zahlreichen Liebschaften ab. Nach der Verstossung zweier Gemahlinnen und dem Tod der zwei folgenden Gattinnen vermählte sich der König nicht mehr (um keine weiteren Thronanwärter mehr zu zeugen?). Seine Töchter liess er nicht heiraten und behielt sie am Hof, wo sie freizügig lebten.
Laut dem farbigen Portrait von Karin Schneider-Ferber war der grossgewachsene redselige Karl „ein lebensfroher, bodenständiger König mit einem starken Hang zu gutem Essen, schönen Frauen und einem Mittagsschläfchen“. Im bebilderten Band „Karl der Grosse, der mächtigste Herrscher des Mittelalters“ wird sein Eintreten für bedrängte Landleute, für die Armen, Waisen, Witwen und Pilger erwähnt. Der Bestechung suchte er zu wehren und kämpfte gegen richterliche Willkür, die Selbstjustiz durch Blutrache verbot er. Der Kitt, der das Reich zusammenhielt, war laut Schneider-Ferber das Christentum, „und Karl wurde nicht müde, die christlichen Grundwerte seinen Untertanen buchstäblich einzutrichtern“: Einhaltung der zehn Gebote, Sonntagsruhe, Nächstenliebe und Friedfertigkeit.
Unterricht für die Untertanen
„Unsere Aufgabe ist es, Christi heilige Kirche vor der Zerstörung durch Ungläubige nach aussen mit Waffen zu schützen, im Innern durch die Erkenntnis des katholischen Glaubens zu stärken“: Den Satz schrieb Karl 795 an den eben geweihten Papst Leo III. Im Treueid, den die Untertanen 802 auf die Bibel oder Reliquien in der Kirche abzulegen hatten, gelobten sie nicht nur dem Herrscher Treue, sondern verpflichteten sich auch, die Gebote Gottes zu halten. Dies setzte ihre Vermittlung voraus. Schneider-Ferber zitiert die Weisung von Karls Freund Theodulf, der als Bischof von Orléans seinen Priestern vorschrieb: „Die Pfarrer sollen in den Dörfern und auf den Gutshöfen Schule halten, und wenn einer der Gläubigen ihnen seine Kinder anvertraut, … sollen sie diese nicht zurückweisen, sondern sie mit grösster Liebe unterrichten. Sie sollen für diesen Unterricht aber keine Entschädigung verlangen…“
Reformeifer
Johannes Frieds Biographie, die das ganz andere Europa des 8. Jahrhunderts facettenreich in den Blick nimmt, umfasst mit den Anmerkungen 700 Seiten. Der Leser mag sich über die gehäuften Fragen wundern; sie drücken das Unwissen über Karl und sein Zeitalter aus, welches laut dem Autor eine moderne Biographie unmöglich macht. Fassbar wird die Persönlichkeit in ihren Taten. In einem grossen Kapitel geht Fried auf die Reformen ein, die der Herrscher seinen Untertanen verordnete, um sie dem ewigen Heil entgegenzuführen und die seit der Antike verfallene Kultur zu erneuern.
Nöte trieben ihn zum Handeln, „unklare, oftmals verworrene und von Gewalt dominierte Verhältnisse in Kirche und Volk“. Sein programmatisches Edikt, die admonitio generalis von 789, begann er mit den Worten: „Ich, Karl, durch die Gnade Gottes und seine schenkende Barmherzigkeit König und Lenker des Frankenreichs und ergebener Schutzherr der heiligen Kirche und ihr demütiger Helfer“. Die admonitio zielte auf Ordnung der Kirche, Kampf gegen Unbildung, Irrlehre und Aberglauben und die Christianisierung des Volks. Laut Fried wurde der Reformeifer des Kaisers in seinen letzten Lebensjahren noch drängender.
Als Ahnherr des Abendlandes glorifiziert
Manche kulturelle Errungenschaften blieben erhalten, als das Grossreich im Streit von Karls Nachkommen zerfiel, und bildeten die Grundlage fürs westeuropäische Mittelalter. Karl wurde als Ahnherr des Abendlandes verehrt, als sich die Nationen auseinander entwickelten. Die um 800 gesammelten und sorgfältig kopierten antiken Schriften nährten Jahrhunderte später die Renaissance. Auch die Verquickung von Religion und Politik, oft auch systematische Indienstnahme des Glaubens zu politischen Zwecken prägten Europa – bis das Pendel infolge der Beschränkung der Königsmacht in England 1688 und der Aufklärung des 18. Jahrhunderts auf die andere Seite ausschlug.
Johannes Fried:
Karl der Grosse. Gewalt und Glaube
Eine Biographie
736 Seiten mit 68 Abbildungen und 2 Karten.
Verlag C.H.Beck, München, 2014 (2.Auflage), ISBN 978-3-406-65289-9
Markus Riek, Jürg Goll, Georges Descœudres (Hg.):
Die Zeit Karls des Grossen in der Schweiz
Texte von 28 Autorinnen und Autoren, 328 Seiten, rund 300 farbige Abbildungen
Benteli Verlag, Sulgen, 2013, ISBN 978-3-7165-1784-0
Karin Schneider-Ferber:
Karl der Große
Der mächtigste Herrscher des Mittelalters
192 Seiten mit 120 Abbildungen und 3 Karten.
Konrad Theiss Verlag, Darmstadt, 2013
ISBN 978-3-8062-2602-7