Landeskirchen im Lockdown
Die grenzenlose Freiheit ist passée; zur Angst vor dem Virus gesellt sich die Aussicht auf einen wirtschaftlichen Einbruch. In der Corona-Krise haben Wissenschaftler das Sagen. Bringen die Kirchen das Evangelium als Botschaft, die über diese Welt hinaus trägt, in die Debatte zur Pandemie-Bewältigung ein? Oder gerät die Krise zu einer weiteren Episode ihrer Selbstsäkularisierung? – Beobachtungen, Einschätzungen und Fragen.
Der Bundesrat hat am 29. April die Öffnung der Restaurants am 11. Mai erlaubt. An dem Tag sollen die Kinder wieder zu Schule gehen. Coiffeusen können ihre Kundschaft seit dem 27. April empfangen. Die Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie werden nach dem Rückgang der Infektionen gelockert.
Doch das Versammlungsverbot, das auch die Kirchen schwer trifft, bleibt bis 8. Juni in Kraft. Als hätte es das Corona-Virus darauf abgesehen, dass der Grossteil der Feste des Kirchenjahrs – von Palmsonntag bis Trinitatis – nicht gemeinsam gefeiert werden kann.
Trost online
Viele Kirchgemeinden haben kreativ auf die Verbote reagiert, um den Menschen zu dienen. Live-Streams und Podcasts, auch tägliche Besinnungen vermitteln Trost und biblische Weisung (Links). Für Senioren wird eingekauft. Der Pfarrer kommt zur Haustür. Die Betagten werden telefonisch kontaktiert. Die Kirche sucht den Bedürftigen zu helfen. Für Notleidende wird gebetet, interkontinentale Solidarität mit Kollekten ausgedrückt.
Die Kantonalkirchen betonten unisono, dass die staatlichen Massnahmen umfassend einzuhalten seien. Im Internet verweisen sie auf Seelsorge- und Hilfsangebote. Die Basler Kirche hebt sich ab: Auf ihrer Website halten Pfarrerinnen und Pfarrer tägliche Kurzbesinnungen. Vielstimmig sind sie miteinander präsent als Zeitgenossen, als Bibelausleger und Seelsorger.
Soziologen als Deuter
Im Interkantonalen Kirchenboten sinniert der Basler Zukunftsforscher Andreas M. Walker über die Umbrüche in der Gesellschaft. Den reformierten Predigtgottesdienst sieht er stärker in Frage gestellt. «Die digitale Kanzel löst die hölzerne ab.» Echte Beziehungen gehörten zum «genetischen Code des christlichen Glaubens».
Die Zeitung reformiert. lässt Soziologen die Krise kommentieren. Hartmut Rosa überlegt, was es fürs Zusammenleben bedeutet, wenn der andere «eine mögliche Bedrohung» wird. Er reflektiert über «unfreiwillige Entschleunigung» und Generationen-Solidarität. Und meint, das «Bedürfnis nach einem Gefühl für eine Verbindung mit dem ‹Umgreifenden›» nehme zu.
Auf der letzten Seite des Blattes sagt Daniel Koch vom BAG, zu seinem Glauben gefragt, christliche Werte prägten ihn bis heute. «Aber die Religion und der Glaube sind für mich weit weg.»
Der Staat handelt säkular…
Diese Einstellung scheint den gesamten Umgang mit dem Coronavirus auf nationaler Ebene zu bestimmen. Er ist areligiös. Dass der Staat von A bis Z im säkularen Horizont handelt, ist verständlich. Doch stellen sich schwierige Fragen, auch für die Kirchen, umso mehr als er zum Notrecht gegriffen hat, zum «neuen Notstands-Staat» geworden ist. In der NZZ vom 25. März bemerkte Hans-Ulrich Gumbrecht unter diesem Titel, dass «religiös getönte Reaktionen bisher im Hintergrund geblieben» sind.
Wissenschaftler genössen weiterhin Vertrauen, obwohl sie keine klare Orientierung lieferten. Dies zeige, «wie Wissenschaft als abgehobene Autorität während der vergangenen Jahrzehnte die Religion ersetzt hat».
… und die Landeskirchen?
Peter Schafflützel, Pfarrer in Fischenthal, schreibt in einem Beitrag, den die NZZ als Gastkommentar aufnahm, die gegenwärtige Dynamik zwischen Regierung und Bevölkerung begünstige «die Entwicklung einer säkularen Staatsreligiosität». Die staatliche Interpretation von Solidarität (Social Distancing!) stellt Schafflützel in Frage. «Wir sperren die Alten weg, damit sie uns nicht wegsterben.»
In der Weltwoche fragt Peter Keller polemisch, «wie furchtsam ein Papst ist, der sich willfährig den weltlichen Vorgaben beugt (und) die Gläubigen nicht mehr um sich versammelt». Er zitiert Giorgio Agamben (NZZ, 15. April), der der katholischen Kirche vorgeworfen hat, ihre Prinzipien verleugnet und sich zur Magd der Wissenschaft gemacht zu haben.
Antworten, die weiter tragen
Die reformierten Kirchenleitungen vermeiden solche Töne. Doch das Virus müsste sie erschüttern und – so staatstreu und verantwortungsbewusst sie auch sind – aufrütteln, den Trend zur Selbstsäkularisierung zu hinterfragen. Zu Recht fügen sie sich ein in die Anstrengungen des Staates, tragen den aktuellen Kampf um das Leben der Gefährdeten mit. Doch was zeichnet sie – als Gegenüber der staatlichen Exekutiven und als Player in der Zivilgesellschaft – aus, wenn sie die Transzendenz ausblenden?
Es muss ihnen um viel mehr gehen als um die säkularen Ziele. Kirche gewinnt ihre Relevanz dadurch, dass sie auf die Ängste und Sorgen der Menschen weiter tragende Antworten gibt als Psychologen und Berater, dass sie andere Horizonte öffnet.
Glauben wir das ewige Leben?
Die Juden lehren uns, Gott als den Ewigen anzurufen. Jesus hat uns das «Unser Vater» gegeben, das mit dem Lobpreis seiner Kraft und Herrlichkeit schliesst. Durch Jesu Tod ist allen Menschen die Versöhnung mit dem heiligen Gott angeboten. Am Ostermorgen wurde er auferweckt in eine Leiblichkeit, der alle Mächte des Todes nichts anhaben können.
Im Apostolikum bekennen wir den Glauben «an die Auferstehung der Toten und das ewige Leben». Apostel und Märtyrerinnen sind leuchtende Vorbilder evangelischen Muts in fürchterlichen Zeiten. Christen dürfen gewiss sein, dass der Auferstandene ihr Anwalt bei Gott ist. Jesus sagt: «Himmel und Erde wird vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen.»
Auch wenn damit drängende Fragen nicht einfach beantwortet sind: Die geistlichen Schätze sind den Kirchen anvertraut, um den Menschen in der Krise Trost und Gewissheit zu vermitteln und sie im Vertrauen auf Gott aufzurichten. Die christliche Zuversicht in Corona-Zeiten geht über die Erwartung einer wirksamen Impfung hinaus.
Gottesdienste!
Websites mit Gebeten sind hilfreich. Doch der kirchliche Auftrag schliesst seelsorgliche Begegnung ein. Und Versammlungen.
Kirche lebt in Gottesdiensten mit gemeinsamem Lobpreis, Verkündigung und Fürbitte – Glaubende face to face, in einem Raum miteinander vor dem Ewigen.
Der Präsident der Schweizer Bischofskonferenz, Felix Gmür, hat gewünscht, dass auf Christi Himmelfahrt (21. Mai) öffentliche Gottesdienste wieder erlaubt werden. Dabei bleibe der Schutz der Schwachen vordringlich.
Je länger desto schwieriger
Laut dem Zürcher Kirchenrat haben die reformierten Kirchenleitungen beim Bundesrat Gottesdienste vor dem 8. Juni zur Sprache gebracht – vergeblich. Der Kirchenrat räumte ein, «dass dies für die Kirche eine ausserordentlich schwierige Situation darstellt – je länger desto mehr. Ohne Gottesdienste mit anwesender Gemeinde ist das kirchgemeindliche Leben seines zentralen Elements beraubt.»
Wie der Kirchenrat am 30. April schrieb, mussten zuerst die Voraussetzungen festgelegt werden, unter denen «spätestens ab 8. Juni zu Gottesdiensten zurückgekehrt werden kann». Dazu erarbeiteten die Landeskirchen zusammen mit der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) ein Schutz- und Hygienekonzept, das dem BAG vorgelegt wurde. (Dasselbe taten die Freikirchen mit der Schweizerischen Evangelischen Allianz.)
Am 1. Mai wurde es veröffentlicht (Version der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn). Die EKS schreibt eingangs, dies geschehe «nicht in der Absicht, von nun an das Eigeninteresse ins Zentrum ihres Wirkens zu stellen, und schon gar nicht mit der Intention, gegenüber den Behörden eine möglichst baldige Öffnung des Veranstaltungsverbots für Gottesdienste zu erwirken».
«Zu allen Zeiten und unter allen Umständen»
Grundsätzlichen Protest hat der Stäfener Pfarrer Michael Stollwerk eingelegt. Er kritisiert, dass Gottesdienste wie andere Veranstaltungen als entbehrlich bewertet und temporär untersagt wurden. In einer Online-Petition fordert Stollwerk, der Weltkirchenrat solle sich für die Öffnung von Kirchen und für Seelsorge einsetzen; sie seien wesentlich für die Allgemeinheit «zu allen Zeiten und unter allen Umständen».
Prophetisch wachen
Das prophetische Wächteramt, das die Reformierten für sich reklamieren: was bedeutet es in Corona-Zeiten? Reissen die reformierten Landeskirchen den von anderen festgehämmerten innerweltlichen Horizont auf, um Ewigkeits-Luft einzulassen?
Was tun die Kirchen gemeinsam – über Glocken, Kerzen und Abendgebet hinaus – in der Öffentlichkeit, gegenüber dem Staat, der seine Macht ausspielt, gegenüber den Wissenschaften, denen umfassende Deutungsmacht zugestanden wird?
Bilder: Dorfkirchen im Kanton Zürich.