«Religion ist etwas sehr Unselbstverständliches»
Nimmt Religion in der säkularen Gesellschaft ab? Oder geschieht eine Transformation? Für Hartmut von Sass verdeckt die Säkularisierungs-
these in ihren verschiedenen Formen mehr, als sie erklärt. Der Religionsphilosoph kommentiert Jürgen Habermas‘ späte Wertschätzung des Religiösen. Er wendet sich gegen den überzogenen Individualismus in der Theologie nach Schleiermacher und fordert die Kirche auf, eingefahrene Muster und Routinen aufzubrechen.
LKF: Was besagt die soziologische These der Säkularisierung?
Hartmut von Sass: In der klassischen Form behauptet sie einen korrelativen oder gar ursächlichen Zusammenhang zwischen zwei Phänomenen: Modernität und religiöse Zugehörigkeit. Sie behauptet, dass Elemente des Modernen, wenn sie zunehmen, verbunden sind mit dem Wegfall religiöser Teilhabe und religiösen Engagements. Wenn das Eine hochgeht, geht das andere runter.
Man hat sich indes gefragt, was Modernität ausmacht, und auf die soziale Ausdifferenzierung der Systeme, die Privatisierung des Lebens, Ökonomisierung und Rationalisierung verwiesen. Wenn diese Elemente zunehmen, würde das Auswirkungen haben auf religiöses Engagement. Und auch da fragt sich, was genau gemeint ist. Verschwindet das Religiöse an sich (decline of the religious) – oder nimmt die institutionelle Zugehörigkeit zu den Kirchen ab? Wird Glaube entdogmatisiert, so dass man noch irgendwelchen Spiritualitäten hinterher jagt und insofern religiös ist, aber ohne Glaubenssätze zu Jesus, Schöpfung, Vollendung, Auferstehung. Kurz: Die These behauptet eine Korrelation zwischen diesen zwei Dingen oder – die stärkere Version –, dass die Moderne den Glaubensverlust ursächlich bewirkt.
Woher kommt die These?
In ihrer klassischen Form geht sie auf Max Weber zurück; sie ist also ein deutsches Phänomen, aus den 1920er und 1930er Jahren. Reformuliert wurde sie unter sehr spezifischen Umständen in der Nachkriegszeit…
… im Zeichen des deutschen Wirtschaftswunders?
Ja, dieses Kolorit der Theorie muss man sich bewusst machen, diese Formen von Modernität – oder was man darunter verstanden hat. Wenn man heute schaut, wo die Säkularisierungsthese in ihrem Update, ihrer filigraneren Version überhaupt noch verfängt, ist es tatsächlich Deutschland, Ostdeutschland, woher ich komme, und Tschechien. Aber der Geltungsanspruch war natürlich grösser: Sie sollte für Europa gelten, für Papua-Neuguinea genauso wie für die USA.
Und dies führt zu einem ernsthaften Problem. Nach allen Standards ist Nordamerika unglaublich modern, vielleicht der Inbegriff des Modernen – und offenbar greift die Säkularisierungsthese nicht! Denn wir haben alle Formen religiösen Engagements, zum Teil auch Formen, die uns hier fremd sind. Folglich erscheint die These als schlicht falsch. Das haben die Religionssoziologen auch schon gesehen und lange von der great exception gesprochen. Bis man einsehen musste, dass die Bereiche, für die die These tatsächlich zutrifft, ihrerseits die Ausnahme darstellen.
Wir sind die Ausnahme.
Ja. Die Schweiz, Österreich schon etwas anders, Frankreich mit der starken Trennung von Staat und Kirche. Grossbritannien ist nochmals etwas anders zu bewerten, die skandinavischen Länder weisen eine starke lutherische Tradition auf. In Deutschland trifft die These der Säkularisierung auf den Osten viel stärker zu als etwa für das Rheinland oder Bayern. Je nachdem wie man die Brennweite einstellt, erscheint die Säkularisierung als Regelfall oder als Ausnahme.
Doch unübersehbar – weit über Deutschland hinaus – hat der Anteil der praktizierenden Christen abgenommen.
Doch den Befund muss man vorsichtig bewerten. Die Säkularisierungsthese hat ihre grosse Zeit, die 60er und 70er Jahre, längst hinter sich. In den 90er Jahren wurde vom return of the Gods und vom return of the religious gesprochen. Immer noch steht in Frage, was man behauptet. Ob das Religiöse selbst abnimmt oder eine Transformation religiöser Äusserungen stattfindet. Ist es so, dass die Leute tatsächlich den Glauben verlieren, auch in Spanien und Italien…
…und nur noch im Immanenten leben …
… und selbst das könnte religiös sein, bei einem entsprechenden Religionsbegriff. Oder meint man, dass die Leute nach wie vor religiös sind, aber nicht mehr in der herkömmlichen Weise, etwa durch religiöse Mitgliedschaft und Besuch von Gottesdiensten? Das kann man messen.
Jörg Stolz hat das für die Schweiz getan und vor allem gezeigt, dass mehr Leute Glauben nicht mehr weitergeben.
Detlev Pollack, derzeit in Deutschland wohl der bekannteste Vertreter der Säkularisierungsthese, diagnostiziert dies auch. Mit dem Kirchenaustritt und dem Verlust des institutionellen Rahmens bricht die Weitergabe von Religion ab – wenn man Pollack und anderen folgen will.
Als man überlegte, wie sich die Trends fortsetzen würden, geschah der 11. September 2001.
Wenige Wochen nach diesem schockierenden, schrecklichen Tag hat Jürgen Habermas den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. Er änderte das Thema seines Vortrags und sprach über «Glauben und Wissen». Viele waren verwundert – und Theologen tat es wohl, dass der grosse «atheistische» Philosoph nun vermeintlich Zugeständnisse machte und Glauben als denkmöglich einstufte, dass es gesellschaftlich und sozialphilosophisch offenbar einen Ort für Religion geben sollte. Zuvor hatte der säkulare Denker eher im Modus der Duldung und der Reserve gegenüber der Religion gesprochen. Nun stellte er sich in der Frankfurter Pauluskirche in die ganz starke besetzte Tradition von Glauben und Wissen.
Wie kam es dazu?
Wenn man genau hinschaut, gab es bei Habermas schon vorher zaghafte Zugeständnisse und dann immer deutlichere Spuren einer Wertschätzung des Religiösen. Eine Szene spielte sich hier in Zürich ab: Jürgen Habermas nahm 1991 an der Beisetzung von Max Frisch teil. Auf der Rückreise im Zug nach Frankfurt hielt er seine Eindrücke fest unter dem Titel «Ein Bewusstsein von dem, was fehlt». Frisch hatte ganz genau vorgegeben, wie sein Begräbnis vonstatten gehen sollte – alles vollkommen säkular.
Habermas und andere, auch Christa Wolf, standen am Grab des Dichters. In der NZZ beschrieb er dann sein Unbehagen an der Leere dieser Szene. An der (von Frisch selbst verordneten) Rituallosigkeit und Beliebigkeit – die ihm nicht gerecht wird. Habermas blickt als säkularer Philosoph am Grab Frischs in sich hinein und fragt, was denn hier nicht stimmt. Und kommt zur Vermutung, dass der Symbol- und Sprachhaushalt der christlichen Religion – nicht nur am Grab, sondern vielleicht auch davor – eine wesentliche Rolle spielen könnte.
Ich stelle das in den weiteren Kontext des Statements des deutschen Verfassungsjuristen Ernst-Wolfgang Böckenförde. Der katholische Rechtsphilosoph hielt in den 60er Jahren fest, dass der freiheitliche Rechtsstaat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht liefern kann. Habermas griff diese Doktrin auf seine Weise auf: Der Rechtsstaat nimmt auf etwas Bezug, darunter etwas Religiöses, Existentielles, nicht rechtsstaatlich Verfasstes, was selber aber zu den Bedingungen des gelingenden Rechtsstaates gehört.
Es führt eine Linie von Böckenförde über Habermas‘ Erlebnis 1991 zu seiner markanten Rede im Oktober 2001. Das Gefühl, «dass etwas fehlt» – ein Topos von Hölderlin, auch von Heidegger –, das Empfinden, dass wir da was brauchen, hat Habermas zunehmend ausgedrückt und nicht nur die Möglichkeit von Religion, sondern auch die Notwendigkeit von Religion erwogen.
Kürzlich hat der inzwischen 90-jährige Habermas ein etwa 1700 Seiten starkes, zweibändiges Werk vorgelegt, in dem er die gesamte westliche Philosophie-Geschichte am Leitfaden jenes markanten Duals von «Glauben und Wissen» darstellt.
Einmal davon abgesehen, dass allein schon dieser Umstand ein intellektuelles Ereignis ist, tritt Habermas hier nicht plötzlich als religiöser Autor auf – weit davon entfernt! Und doch durchzieht das Werk die schon zuvor vorgebrachte Überzeugung, dass der Staat von Ressourcen der Sinnstiftung und eines umgreifenden Selbst- und Weltverständnisses seiner Bürger zehrt, die woanders kaum zu haben sind und die der Staat nicht selbst hervorbringen könne.
Habermas will Sinn-Ressourcen zur Stabilisierung des Rechtsstaats eingebracht haben – in säkularer Form. Dementsprechend wird heute behauptet, man könne nicht mehr von Gottebenbildlichkeit sprechen, sondern müsse von Menschenwürde und Menschenrechten reden. Funktioniert das? Muss man nicht in religiöser Weise davon reden, um deutlich zu machen, dass es die Immanenz sprengt?
Ich stimme Ihnen zu. Habermas und andere sind so verstanden worden, dass sie einer Funktionalisierung des Religiösen für andere Bereiche das Wort reden.
Verzweckung.
Ja. Da wird gesagt: Wir brauchen irgendetwas anderes, damit der Rechtsstaat funktioniert. Unter anderem die Religion. Also bauen wir sie bei uns ein. Das ist ungefähr so, als wenn man einen Ferrari fährt und etwas am Vergaser nicht funktioniert. Die Religion ist dann wie ein Modul, das zum gesamten Auto gehört – aber die anderen Teile haben damit gar nichts zu tun. Es wird eingebaut…
… für kreatives Fahren…
… doch möglicherweise braucht man es später gar nicht mehr. Der Verdacht bleibt bestehen, dass man das Modul des Religiösen durch andere Module, die mit ihm gar nichts mehr zu tun haben, ersetzen könnte. Man hat Habermas‘ Frühschriften so verstanden, dass er sagte: Leider haben wir nichts anderes, setzen wir also auf die Religion. Aber wir könnten sie prinzipiell ersetzen durch nichtreligiöse Substitute.
Sie haben 2016 in einem Vortrag hervorgehoben,
dass die Sorge um den Rechtsstaat Habermas umtreibt.
Ich komme auf die Böckenförde-Doktrin zurück. Sie hört sich besser an, als sie ist. Wenn man sie auseinandernimmt, heisst sie: Ein System X setzt ein anderes System Y voraus, damit X funktioniert. Für X und Y können Sie alles Mögliche einsetzen.
Immerhin wird damit klar, dass der Rechtsstaat sich nicht selbst genügt.
Richtig, insofern ist die Doktrin interessant. Aber was ist schon autark? Heute leben und denken wir eher in Netzwerken. Netze haben es an sich, dass sich bei einer Bewegung alle Knoten mitbewegen.
Habermas ist so verstanden worden, dass man die Religion benutzt und braucht, doch selbst den Eigenwert der Religion nicht besonders wertschätzt. Es ginge aber darum, dass sie zweckfrei verstanden wird, einen Wert an sich hat.
Politiker reden von dieser sozialen Nützlichkeit der Kirchen. Zürcher Politologen errechneten in einer Studie den Wert der gesamtgesellschaftlichen Leistungen der Landeskirchen. Darum sollen sie weiterhin Staatsbeiträge kriegen.
Das läuft alles unter der Verzweckungslogik: Solange die Kirchen bestimmte Zwecke erfüllen – Diakonie –, sind sie willkommen. Wenn nicht mehr, drehen wir den Hahn zu. Habermas ist nicht gut darin, das Eigentümliche, Unverwechselbare der Religion zu beleuchten – da wo sie widerständig ist, wo sie keine Zwecke erfüllt, sondern möglicherweise sogar der troublemaker ist.
Ich plädiere dafür, dass die Religion, auch die Kirche eine konstante Quelle der Irritation ist. Also nicht etwas, was sich einfügt und verzwecken lässt, sondern was eingefahrene Muster und Routinen aufbricht – das Gegenteil von Verzweckung.
Diesen Bruch, dass Religion nicht aufgeht in den immanenten Zusammenhängen, kann man an einem Punkt sehr deutlich machen – Sie haben ihn vorhin angesprochen: Wer übernimmt es die Aufgabe, religiöse Sprachspiele in säkulare zu übersetzen?
Konkret: Ist statt von Gottesebenbildlichkeit nur noch von Menschenwürde zu sprechen?
Die harmlosere Frage, die sich dabei stellt: Sind das Äquivalente? Ich würde das bestreiten und die stärkere These vertreten, dass das hochmetaphorische Begriffe sind. Metaphern haben es nun einmal an sich, aus Gründen, welche die analytische Sprachphilosophie einsichtig macht, dass sie nicht einfach übersetzbar sind in Äquivalente, die nicht metaphorisch sind.
Sagen wir: «Achilles ist ein Löwe», und übersetzen das in: «Achilles ist ein starker Typ», verlieren wir etwas. Man kann die Metapher nicht einfach in etwas Nicht-Metaphorisches übersetzen. Habermas möchte uns nahelegen, dass es einen säkularen Ausdruck für Gotteskindschaft gibt. Und dann hat man eine Liste von Eigenschaften und Attributen, die das einfangen sollen. Ich kann verstehen, dass man das versucht, und will diesen Versuch auch nicht ad absurdum führen. Die Übersetzung wird auch in Predigten versucht.
Was ich nur sagen möchte: Die Erwartung, dass die religiösen Sprachspiele restlos in säkulare Äquivalente übergehen, ist ein sprachphilosophisches Missverständnis.
Wenn man die vielen Schichten der Metapher verständlich machen will, muss man reden über den Kontext, den ein Konzept hat – in der Bibel, in der Kirchengeschichte.
Ja, genau. Der Netzwerkcharakter, die Konzeptualität von bestimmten Inhalten – wie sie «im Leben liegen», nach Wittgensteins schöner Wendung – wird sonst verfehlt. Die Erwartung, dass es säkulare Übersetzungen gibt, leistet im Grund der Ent-Kontextualisierung der religiösen Sprache, Rituale und Bilder Vorschub. Es ist die Erwartung, dass man sie herausnehmen kann und sie – ohne sie zu beschädigen – in einen anderen Kontext setzen kann, damit sie endlich verständlich sind und dann den Rechtsstaat oder was auch immer befördern.
Ich würde sagen, es ist genau umgekehrt: Sie werden unverständlich, wenn man den Kontext wegnimmt. Dinge haben ihre Einbettung in eine bestimmte Umgebung. Texte haben Kontexte. Wenn man mit religiösen Texten so umgeht, dass sie aus ihrem Kontext, auch dem kirchlichen Kontext und einer konkreten Praxis – der Sakramente, des Gottesdienstes, des religiösen Lebens einer Gemeinschaft – herausgenommen werden, damit sie für ein anderes soziales System, etwa den Rechtsstaat, irgendwie funktionabel gemacht werden, ist das ein fatales Missverständnis.
Säkularisierung wird auch von Systemtheoretikern analysiert. Wie sehen diese den Prozess?
Die Systemtheorie geht davon aus, dass unsere Gesellschaft aus verschiedenen Sub-Systemen besteht: Religion, Politik, Kunst und dergleichen mehr. Nach dieser Theorie verläuft Säkularisierung in drei Schritten. Zuerst war Religion das Hypersystem und alle anderen – Wirtschaft, Recht, Kunst – waren Untersysteme der Religion. Gott setzt den König ein. Das Recht fusst auf dem Recht Gottes.
Der zweite Schritt ist, dass die Religion diese Vormacht einbüsst und auf das Niveau der anderen Systeme heruntergezogen wird – kein leitendes System mehr, sondern Äquivalenz, kein Rahmen, in dem sich alles anordnet, sondern Interaktion von nebeneinander bestehenden Systemen.
Der dritte Schritt kann doppelt gedacht werden. Entweder wird gefragt, wozu denn Religion überhaupt gut ist, und gefolgert, dass wir sie gar nicht mehr brauchen für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Das ist der Wegfall des Religiösen. Oder der Markt wird als das neue post-religiöse Hypersystem verstanden, und wir erhalten eine Markt-Theorie des Religiösen.
Zu den grossen Denkern unserer säkularen Zeit gehört Charles Taylor. Was trägt er zur Debatte bei?
Taylor ist Kanadier, ein wahrhafter Gentleman und über 80, doch immer noch sehr agil. Er ist Katholik und nimmt – das ist bei Philosophen selten – seinen Glauben mit in die Debatten. Er verbindet in seinen ideengeschichtlichen Studien Sozialphilosophie mit einem theistischen katholischen Glauben. Er hat die Säkularisierungsdebatte stark belebt, indem er Säkularisierung ganz anders versteht, als Vorgang vor allem im 17. Jahrhundert, in dem die religiöse Zugehörigkeit zu einer Entscheidung, zu einer Option wurde.
Zum ersten Mal war damals das Bekenntnis des Nicht-Glaubens – um es salopp zu sagen – nicht tödlich. Man konnte es tun, ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen. Ich halte derzeit ein Seminar über Häresie. Auch dieser Begriff änderte seine Bedeutung dadurch völlig.
Das heisst: Man konnte Nein sagen – und hat Ja gesagt. Anders als im Mittelalter, als alle von sich aus Christen waren – so jedenfalls das oft vorausgesetzte Bild. Keiner hatte sich demnach aktiv dafür entschieden. Wer davon abwich, wurde einen Kopf kürzer gemacht. Das änderte sich gegen 1700, als Leute nicht mehr vom Glauben abfielen, sondern überhaupt die Möglichkeit hatten, sich existentiell für den Glauben zu entscheiden und dazu Ja – oder eben Nein – zu sagen.
Taylor ist theistischer Katholik. Der Theismus stellt Gott anthropomorph vor, als eine Superperson, die alle Eigenschaften der Menschen im absoluten, vollen Mass hat: Er ist allwissend, allgegenwärtig, das höchste Gut. Gott regelt alles, steht am Anfang und liefert die Erklärung, warum die Dinge sind, wie sie sind und warum sie überhaupt sind. Sein grosses Buch «A Secular Age» (dt. Ein säkulares Zeitalter) endet mit einem Kapitel «Konversion»: Er plädiert für die Annahme eines theistischen Katholizismus! Da verlässt er leider den philosophischen Rahmen und wird Missionar.
Sie distanzieren sich vom Missionar Taylor. Hat uns sein Plädoyer auch gut getan?
Es ist gut, dass es eine solche Stimme gibt. Es ist wertzuschätzen, dass Taylor, was ihm wichtig ist, einbringt. Dass er als Religionsphilosoph ganz eigenständig, auch eigentümlich vorgeht.
Welche Aspekte von Säkularisierung geben Ihnen zu denken?
An der klassischen Formulierung der Säkularisierungsthese interessiert mich weniger die Frage, inwiefern sie zutreffend ist, als ihre Weiterentwicklung.
In Rostock, wo ich geboren wurde, und in Berlin, wo ich zeitweise wohne, der «Hauptstadt des Atheismus», trifft die These zu. Man kann die Gottlosigkeit mit Händen greifen.
Mich beschäftigt die Frage, ob es fürs Religiöse so etwas wie einen Energie-Erhaltungssatz gibt. In seiner allgemeinen Form sagt er ja, dass Energie nicht verschwindet, sondern sich transformiert. Wärme wird umgewandelt zu Kraft; Reibung erzeugt Wärme, usw. Die Summe bleibt konstant. So frage ich, ob Säkularisierung nicht der Verlust des Religiösen (decline of the religious) ist, sondern es sich um Transformationsprozesse handelt.
Dann braucht man sich nicht auf Suche zu machen nach den Restbeständen von Volkskirche, sondern fragt, wohin denn eigentlich die religiöse ‹Energie› geht. Sowohl im institutionellen Bereich und im Kulturellen – Sport ist so ein Phänomen – als auch im Individuellen: Hinwendung zu Spiritualität, Religiosität jenseits der Kirche. Das ist ja eine Frage, welche die Kirchenleute umtreibt: Wohin geht denn die Energie? Sie ist ja nicht weg! In welche Kanäle giesst sich die Energie? Diese Transformationsphänomene interessieren mich.
Wozu führt es, wenn wir hier von Energie reden? Menschen sind geplagt von Ängsten, haben verengte Lebenshorizonte…
Das würde ich gar nicht bestreiten. Zunächst sind Menschen Mitglieder von Gemeinschaften. Sie sind soziale Wesen, mit anderen in bestimmter Weise verbunden. Erst sekundär verstehen sie sich als ein Individuum. Der Individualismus, auch der Liberalismus geht von einem anderen Menschenbild aus, das die Kirchen viel stärker unter Druck setzt: dass zunächst alle Einzelne sind. Diese Idee ist von Friedrich Schleiermacher, dem Kirchenvater des 19. Jahrhunderts, besonders prominent gemacht worden.
Die Theologie, die weitgehend ihm und nicht Karl Barth folgt, lebt heute noch davon: Sie setzt auf einen ultra-religiösen Individualismus und sieht die religiösen Menschen praktisch als Monaden, die eigentlich alles bereits in sich haben. Die Gemeinschaft ist hier nur etwas Sekundäres. Ich halte das für ein Missverständnis; es ist ein Hauptgrund, warum die Kirchen so ein Problem haben. Sie setzen zuerst nicht auf die Gemeinschaft, sondern auf das Individuum.
Das zeigt sich etwa darin, dass die Eltern zustimmen, dass ihre Kinder religiös völlig frei aufwachsen und alle Informationen bekommen, um sich dann zu entscheiden…
Ja. Das hört sich sehr libertär an. Aber missachtet wird, wie Glauben und überhaupt Traditionen und Werte vermittelt werden. Stellen wir uns vor, dasselbe geschähe mit bestimmten grundlegenden Werten: Ich gebe sie dir nicht weiter, setze dich ihnen nicht aus – du sollst dann mit 15 oder 16 selbst entscheiden, ob du das haben möchtest…
… ob du anständig sein möchtest…
Ja. Mit 16 ist es allerdings zu spät. Warum wird das hingegen von Glaubensvorstellungen behauptet? Die sozialistischen Regimes im Ostblock wussten ja ganz genau, dass sie mit dem Verbot religiöser Beeinflussung von Minderjährigen die Weitergabe religiöser Tradition unterbrechen konnten. Unter dem Deckmantel des Libertären – du kannst dich mit 16 oder 18 entscheiden – wurde der Abbruch bewirkt.
Zurück zum Energie-Erhaltungssatz. Wo gehen die religiösen Energien denn hin?
Ich bin kein Religionssoziologe, sondern denke über mögliche Entwicklungen nach. Ich nehme Stichworte aus der Debatte über religiöse Zugehörigkeit und Vergemeinschaftung auf. Die Privatisierung und Individualisierung der Religion sind mit einem anderen Phänomen verbunden: mit dem Eklektischen. Man baut sich verschiedene Elemente zusammen.
Patchwork-Religion.
Ingolf Dalferth hat kritisch von Cafeteria-Religion gesprochen: dass man Vorgaben fürs Religiöse nicht mehr akzeptiert, sich nicht mehr einklinkt in eine Tradition mit ihren Beständen und möglicherweise einen starken Begriff von wahr und falsch überhaupt aufgibt.
«Es muss gar nicht wahr sein – Hauptsache, ich glaube es.»
Das kann nicht funktionieren. Niemand kann selbst Kriterium und Entscheider sein, was wahr oder falsch ist. Das kann nicht sein.
Die Kriterien müssen ausserhalb von dem sein, der sie anwendet. Sonst sind sie nicht valide. Ich kann nicht Gesetzgeber und zugleich Rechtsprecher sein. Dasselbe gilt für die Wahrheit: Ich kann sie nicht selbst bestimmen und dann noch anwenden und dann denken, ich hätte das Siegelrecht, wahr und falsch zu verteilen. Das geht ganz einfach nicht.
Doch wir haben genau diese Entwicklung. Individualisierung und Eklektizismus führen dazu, dass Religion eher ein Zustand und (nur noch) eine Haltung ist. Dann fällt ein ganz grosser Bereich weg: die Glaubensinhalte. Es geht nur noch um Glaubensvollzüge. Oder alles wird vom Glaubensvollzug «verschluckt», wie Rudolf Bultmann das einmal genannt hat.
Die Unterscheidung zwischen Glaubensvollzug und Glaubensinhalten sollte man festhalten! Heute vermute ich, dass die Energie konstant bleibt, aber von Inhalten mit wahrnehmbaren Konturen abgezogen wird. So kommt es zur konturlosen Kirche.
Doch die Kirche agiert in der Öffentlichkeit noch so, als könnte man sich das leisten. Man sagt dem Kind, dass es den Glauben so nehmen soll, wie er für es stimmt… Erwachsene reimen sich zusammen, was ihnen passt.
Was leistet da die Predigtlehre? Meine Eltern waren Pastoren. Heute lernen wir, die Leute da abzuholen, wo sie sind. Im Bild gesprochen: Die Pfarrerin muss mit der Bibel in der Hand zur Gemeinde kommen und gucken, wo die denn sei. Die Bewegung geht vom Text zum Hörer – man will die Leute in ihrer Situation ernst nehmen.
Die Sache könnte aber vollkommen anders sein: Die Hörerin, der Hörer muss zum Text gebracht werden! Dafür ist eine Distanz zu überwinden – der «garstig breite Graben» Lessings – und der Hörer soll in die Textwelt hineingebracht werden.
Da schliesst sich der Kreis zu dem, was wir anfangs sagten, von dem Versuch, religiöse Sprachspiele in nicht-religiöse Äquivalente zu übersetzen. Ich hatte vorhin erwähnt, dass das nicht funktioniert – wenn man sich annähert, was durchaus möglich ist, wird man den sehr spezifischen Sprach- und Bildhaushalt der christlichen Tradition doch nicht einfangen.
Dasselbe gilt in der Predigtlehre. Das Widerständige, der Bruch, das nicht Selbstverständliche, das Diskontinuierliche, das Eigentümliche und Eigene des christlichen Glaubens kann nur so zur Sprache kommen, indem man diese Eigenheiten nicht in der Übersetzung kaputtmacht, nivelliert und ausradiert. Sondern stark macht und konturiert und in der Predigt ausdrückt.
Ich sehe es als Chance der Kirche, wirklich widerständig zu sein. Heute sucht sie Anknüpfungspunkte und braucht sozusagen einen Adapter, damit der Strom fliesst. Das ist genau falsch.
Manche kritisieren, dass sich die Kirche selbst säkularisiert.
Der Begriff ist ein schillernder. Friedrich Gogarten («Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit. Säkularisierung als theologisches Problem», 1953) vertrat die These, dass die Säkularisierung aus dem Glauben selber kommt. Er machte das am Schöpfungsglauben fest, welcher für ihn dazu führt, dass die Schöpfung freigelassen ist. Dort findest du nichts Göttliches, nur Menschliches – Säkularisierung!
Wenn man im Sinne Gogartens von Selbstsäkularisierung der Kirche spricht, hat das einen positiven Ton: Kirche macht immer von Neuem darauf aufmerksam, dass das Weltliche weltlich ist, dass alle Vergottungstendenzen, Idolatrien und Ideologien in der Welt kritisiert werden müssen.
Nach meiner Ansicht säkularisiert sich die deutschsprachige Theologie seit Schleiermacher selbst in der Weise, dass sie von der Struktur her Kulturtheologie ist. Darunter verstehe ich, dass sie sagt, dass das Religiöse überall schon angelegt ist, dass es überall schon latent vorkommt.
Dann hat man eine Kulturtheologie des Sports und geht ins Stadion. Man hat eine Kulturtheologie des Kinos und meint, dass der Kinoraum irgendwie sakral sei. Man muss sich dann auf alles einen Reim machen, auf Handys, auf Sex, auf Familie. Und die Naturwissenschaften – Physik wird ein Teilgebiet der Theologie.
Das ist – salopp gesagt – bullshit (was nicht unbedingt ein Schimpfwort, sondern ein philosophisches Konzept ist). Es ist die Idee, dass es Kontinuitäten gibt zwischen dem einen Bereich des Glaubens und dem anderen des Unglaubens. Ich würde auf ein ganz anderes Modell setzen, das mit Schleiermacher und dem Verlangen nach Anknüpfung bricht. Das Widerständige, das was nicht aufgeht, der Rest, die Kritik ist stark zu machen.
Muss man 50 Jahre nach Karl Barth sagen, dass er mit seinem Einspruch gescheitert ist?
Sein Einspruch dagegen, dass es für die Erkenntnis Gottes in der Welt Anknüpfungspunkte gibt (so bereits Emil Brunner), geht mir zu weit. Doch mehr beschäftigt mich, dass man heute glaubt, dass die Religion immer und überall schon da ist. Denn sie ist etwas sehr Unselbstverständliches. Sie geht nicht in den alltäglichen Routinen auf, so dass sie wie eine Münze mit einem Metalldetektor aufzuspüren wäre.
Oder wenn etwa so getan wird, als sei ein bewussterer Vollzug alltäglicher Dinge schon Religion.
Religion ist die Kritik aller dieser Dinge! Sie steht in einem kritischen Verhältnis dazu – nicht negativ, nicht destruktiv, sondern im Sinn des Scheidens – krisis! Das hat dann ganz konkrete, praktische Auswirkungen. Die Kirche muss sich positionieren. Sie darf nicht im Mod»us der Verzweckung aufgehen, sondern ist der ständige troublemaker, auch und gerade in der Politik – einschliesslich der Migrationspolitik.
Dr. theol. habil. Hartmut von Sass ist Titularprofessor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Universität Zürich und Inhaber einer Heisenberg-Stelle an der Humboldt-Universität zu Berlin.