Gott und Gewalt
Wer den Gott der Bibel als gewalttätig kritisiert, nimmt regelmässig auch Anstoss an der grausamen Kreuzigung von Jesus – und weist das traditionelle, auf dem Kreuz fussende Verständnis des Heils zurück. Mit den verbreiteten Vorwürfen und unterschiedlichen Deutungen des Kreuzes befasste sich die Theologenvereinigung AfbeT an ihrem Studientag. Christian Stettler, Benjamin Kilchör und Andreas Loos referierten am 25. Januar in Aarau.
Warum liegt im Tod von Jesus am Kreuz unser Heil begründet? Wie kam es dazu, dass der mit Marter verbundenen römischen Hinrichtung dieser Sinn gegeben wurde? Am Studientag der Arbeitsgemeinschaft für biblisch erneuerte Theologie (AfbeT) in Aarau spürte der Neutestamentler Christian Stettler in seinem ersten Vortrag den Bedeutungen des Kreuzes nach.
Er sprach die Vielfalt der Deutungsansätze an und fragte, wie sie zusammenhängen. Liegt ihnen eine einzige Kategorie zugrunde, etwa der stellvertretende Sühnetod (P. Stuhlmacher) oder die Stellvertretung (J. Frey)? Erschwert wird die Klärung dadurch, dass manche Theologen die Worte von Jesus nicht als Basis nehmen wollen.
Erwartungen zunichte gemacht
Christian Stettler, Professor an der STH Basel und PD an der Uni Zürich, ging die Fragen historisch an: um nachzuvollziehen, «warum die ersten Christen dazu kamen, dem Tod von Jesus Heilsbedeutung zu geben». Denn vorab trat für die Anhänger des Nazareners bekanntlich der worst case ein: Die Erwartungen, er werde als der Messias Israels triumphieren und Gottes Reich aufrichten, wurden auf einen Schlag zunichte, als er von den jüdischen Führern in Jerusalem den Römern ausgeliefert und ans Kreuz geschlagen wurde.
«Wie konnte ein vorzeitiger, gewaltverursachter Tod eines Gerechten verstanden werden?» Zur Neubewertung des Kreuzes – von Ostern an – halfen den Jüngern die Worte von Jesus vor der Kreuzigung, die sie sich in Erinnerung riefen, und die Heiligen Schriften. Dadurch konnten sie den Kreuzestod zunehmend «in den Koordinaten von Messias und Gottes Reich» verstehen, zuerst die Emmaus-Jünger (Lukas 24,44: «es musste…»).
Sinnstiftende Worte Jesu
Neben den Leidensankündigungen legten die Abendmahlsworte die Dimensionen seines Todes offen: «Blut des Bundes» wies auf 2. Mose 24,8 zurück, auf jene Sühnopfer, mit denen die Israeliten zu einem «Königreich von Priestern» geweiht wurden. Laut Stettler ist damit klar, dass Jesus seinen bevorstehenden Tod als Sühnopfer verstand. Hebräer 9,22 und 3. Mose 17,11 zeigen, dass bei den Sühnopfern nicht Gottes Zorn beschwichtigt wird. Vielmehr gewährt Gott den Menschen eine Möglichkeit, Vergebung zu empfangen.
Mit dem Wort «Bund» schloss Jesus an die Verheissungen der Propheten vom «neuen Bund» an (Jeremia 31,31-34). Dazu gehört die Reinigung des Gottesvolks durch Vergebung. Jesus gab sein Leben «für viele» – mit diesem Bezug zu Jesaja 53,11 wird klar, dass er sich als den Gottesknecht sah, der das letzte, grosse Opfer bringt. Seinen gewaltsamen Tod riskierte er bewusst im Rahmen des Passafestes; er verstand ihn als das neue Passaopfer – das Tor zum neuen Exodus.
Wie Jesus nach Jerusalem ging
In der Folge ging Stettler auf das Wort vom «Lösegeld» ein. Matthäus 20,28 und Markus 10,45 lassen sich von Jesaja 53,10.12 her verstehen: «sein Leben hingeben» meint hier nicht (wie heute oft behauptet), dass Jesus seine ganze Kraft zum Wohl von anderen einsetzte, sondern seinen Tod.
Das Wort von der Tötung des Messias-Hirten (Matthäus 26,31) und die düstere Ansage des Märtyrer-Propheten (Lukas 13,31ff) passen in dieses Bild. Nach Stettler ist «Vollendung» hier aufs Kreuz zu deuten. Der Referent erwähnte weitere Motive: Erhöhung, himmlischer Hoher Priester, Weizenkorn.
Das Kreuz im Kontext
Werden die in den Evangelien verzeichneten Worte ernst genommen, zeigt sich laut Christian Stettler «ein reiches Netz von Vorstellungen, die teils schon im AT verbunden sind, teils von Jesus verbunden werden». Das heisst: «Das Kreuz steht von Anfang an in einem reichen Kontext.» Der Referent plädierte dafür, von modernen Abstraktionen des Kreuzestods Abstand zu nehmen. Sie seien nicht in der Bibel zu finden. Die ersten Christen hätten Jesu Worte und das Alte Testament befragt und das Kreuz von seinen Traditionen her gedeutet; ihnen zu folgen, ist laut Stettler sachgemäss.
Die Frage, ob die Deutungen nur Metaphern sind, verneinte er: «Die neutestamentlichen Autoren deuten das Kreuz nicht, sondern spüren seiner Bedeutung nach», aufgrund des Redens Gottes im Alten Testament.
Missbrauchte Gott seinen Sohn??
Der Vorstand der AfbeT hatte die Linien ausgezogen zum Gottesverständnis: Ist der Gott der Bibel ein gewalttätiger Tyrann? In einem zweiten Vortrag ging Christian Stettler auf verschiedene Facetten dieser Kritik ein. Zu Beginn zitierte er eine Tirade von Richard Dawkins. Von atheistischer Seite steht die Anklage im Raum, Gott habe sich an seinem Kind vergangen («cosmic child abuse»!).
Stettler betonte, dass Christen nicht glauben an den Vater, der den Sohn opfert – oder an den Sohn, der den zornigen Vater beschwichtigt. Sie glauben an den Dreieinen, der in Wesens- und Willenseinheit handelt. Das oft vorgebrachte emotional gefärbte Bild vom göttlichen Zorn sei verfehlt; die Satisfaktionslehre von Anselm von Canterbury werde verzerrt.
Am Kreuz wird, so Stettler, nicht ein launischer Gott besänftigt, vielmehr «schafft der dreieine Gott einen Ausweg für uns, die die Vernichtung verdient haben. Gott selbst gewährt einen Weg, wie wir nicht Kinder seines Zorns bleiben müssen.»
Solidarisch mit den Leidenden der Welt?
Manche Theologen suchen dem Kreuz einen Sinn abzugewinnen, indem sie es als Ausdruck von Solidarität oder als exemplarisches Leiden interpretieren. So von gewalttätigen Implikationen befreit, wäre es «das Leiden eines Unschuldigen, Leiden in Solidarität mit Schuldigen». Doch dann ist, wie Stettler urteilte, der Mann aus Nazareth «nur noch einer von Millionen Leidenden». Wer das Leiden für unabwendbar hält – und Gott dabei bloss mitleiden sieht –, stellt einen schwachen Gott vor, «der sich vom Kampf für Gerechtigkeit verabschiedet hat».
Traditionell glauben Christen paradox: Gott hat sich in seinem Sohn selbst in den Tod gegeben. Das Leiden Jesu als Vorbild der Liebe macht nur Sinn, wenn Jesus mehr als ein normaler Mensch ist. Christian Stettler spitzte zu: Das Kreuz zu denken abgesehen von Schuld und Sühne, führt zu nichts.
Stellvertretung unmöglich?
Immanuel Kant gab allerdings eine andere Denkrichtung vor, als er bestritt, dass ein stellvertretender Tod überhaupt möglich ist. Denn jeder sei für sich verantwortlich – kein anderer könne an seine Stelle treten. Liberale Theologen reden daher vielleicht noch vom Kreuz – aber nicht von Schuld. In der Folge, so Stettler, werde Jesus verflachend gedeutet als Zuwendung von oben: «Gott findet dich toll» oder als Chiffre für eine Oase der Selbstfindung und Entspannung.
Wie Christian Stettler konstatierte, führen alle diese Facetten des Versuchs, sich von einem angeblich gewalttätigen Gott zu verabschieden, dazu, dass viele Teile der Bibel nicht mehr zu(m gewünschten) Gott passen. Heute könne man das nicht mehr so sehen, werde dann gesagt; konsequenterweise müssten neue Gottesbilder konstruiert und Teile der Bibel abqualifiziert werden.
Radikaler Gewaltverzicht!?
Aktuell wird auch von Evangelikalen eine Deutung diskutiert, welche der US-Theologe Greg A. Boyd aus der Perspektive eines Offenen Theismus verficht: Im Kreuz zeigt sich Gott im radikalen Gewaltverzicht. Der Referent skizzierte Boyds Auffassung: «Christus ist die Selbstoffenbarung Gottes als der Gekreuzigte! Auf dem Angesicht des Gekreuzigten erweist sich Gott als der Schwache, überlässt sich der Gewalt der Mächtigen, die ihn töten. Gott trägt die Sünden am Kreuz.» Darin zeigt sich ein Verzicht auf Rache, eine kompromisslose Vergebungsbereitschaft.
Für Boyd seien alle Stellen der Bibel, die mit diesem Gottesbild übereinstimmen, direkte Offenbarungen Gottes – andere hingegen nicht. Bilder vom mächtigen, richtenden, Gewalt übenden Gott seien falsche, sündige Gottesbilder. Sie stünden nur deshalb in der Bibel, weil sich Gott als der Ohnmächtige, so Boyd, durch falsche Gottesbilder entstellen lasse.
Im Urteil von Christian Stettler sind Boyd auf diesem Weg mehrere Denkfehler unterlaufen. Es sei falsch, das Kreuz als archimedischen Punkt zu verstehen, von dem aus der Rest der Bibel bewertet werden könne. Denn das AT stelle die Kategorien für sein Verständnis bereit. «Das Kreuz darf nicht zum Spielball unserer eigenen Interpretation werden.»
Gottes Sieg
Auch das Neue Testament spricht, wie Stettler betonte, vom Sieg Gottes über seine Feinde, über die Mächte des Bösen. «Gott will seine Gerechtigkeit, seinen Schalom durchsetzen – wenn er es nicht täte, wäre er nicht gut.» Das heisst: «Am Kreuz wird Gottes Güte mit ihren beiden Seiten sichtbar, die wir kaum zusammendenken können. Gott richtet und nichtet am Kreuz das Böse. Zugleich wird seine unfassbare Liebe deutlich, die ihn den Tod des Sünders sterben lässt.»
Warum übt der gute Gott Gewalt? Der Referent gab zu bedenken, dass Gott unter den Bedingungen der gefallenen Welt handelt. «Wenn er das Böse bekämpft, nimmt das Gericht die Gestalt an, die das Böse hat» (vgl. Martin Luthers Auffassung, dass Gott fremdartig, sub contrario, handelt). Dass hier alles Reden nicht hinreicht, räumte Christian Stettler ein: «Ich versuche stammelnd Dinge zusammenzuhalten, von denen ich überzeugt bin, dass wir sie zusammenhalten müssen.» Nur so könne ein vollständigeres Bild von Gott ermöglicht und Verkürzungen gewehrt werden.
Der grosse Versöhnungstag
Am Nachmittag referierte Benjamin Kilchör, Professor für Altes Testament an der STH Basel, über den grossen Versöhnungstag, den Yom Kippur. In der Spur von
L. Michael Morales machte er die Struktur von 3. Mose durchsichtig. In der Mitte des Buchs (Kapitel 16) steht der Yom Kippur. Kilchör charakterisierte die Opfer und beschrieb ihre Bedeutung. Insgesamt ermöglichen sie Menschen, sich der Herrlichkeit Gottes zu nähern.
Die Kapitel 1-9 von 3. Mose beschreiben, wie man sich nähern soll, die Kapitel 10-15, wie man es nicht darf. Auf die Bewegung dieser ersten Hälfte des Buchs (von aussen nach innen) folgt ab Kapitel 17 die Bewegung nach aussen: Nachdem der Hohe Priester sich geheiligt und für die Sünden des Volks geopfert hat, soll es als ganzes heilig werden (19,2). Die Bedeutung des Zeltes der Begegnung liegt darin, dass es zeigt: «Von Gottes Gegenwart geht Heiligkeit als Lebenskraft aus.» Von da zog Kilchör Linien ins NT.
Staunend und passioniert vom Kreuz reden
Die AfbeT gab Zeit, die Vorträge zu erörtern. Dr. Andreas Loos, Dozent für systematische Theologie am tsc auf St. Chrischona, äusserte, dass Boyds Zugang sehr wohl den Anliegen einer biblisch erneuerten Theologie entspreche. Boyd stehe Stettlers Ansatz näher, als man meine. Die beiden diskutierten angeregt.
Loos legte auch fünf Thesen zur Kommunikation des «Kreuz-Wort-Rätsels» vor. Die erste: «Wer selbst aus der geheimnisvollen Kraft des Kreuzes und des Wortes vom Kreuz lebt und theologisch arbeitet, der traut dem Evangelium zu, dass es seine kommunikative Kraft zu allen Zeiten und in jedweden sozialen Kontexten entfalten kann.»
Das Wort vom Kreuz könne und werde Glauben stiften, sagte Loos. «Sind wir selbst ergriffen vom Kreuz-Wort-Rätsel?» Der Theologe sollte es bescheiden, passioniert und Zeitgeist-sensibel kommunizieren – und das Staunen wieder neu lernen, sich «das Entsetzliche und Schauderhafte des Kreuzes zumuten». Wenn Gott in Christus war, «haben wir es … mit einem innertrinitarischen Drama zu tun».