«Zum glaubwürdigen Zeugnis gehört die Ehrlichkeit»
Kirchgemeinden und Freikirchen können sich aufeinander zu bewegen. Dabei kommt es auf persönliche Beziehungen an, betonen der Thurgauer Kirchenratspräsident Wilfried Bührer und Chrischona-Direktor René Winkler in einem Mail-Austausch. Da und dort werden die Chancen zur Zusammenarbeit genutzt. Das Landeskirchen-Forum will konkrete Schritte auf dem Weg zu evangelischer Einheit fördern. Wir haben dazu sieben Thesen formuliert und führen mehrere Tagungen durch.
LKF: Die Entkirchlichung trifft alle Kirchen. Wir nennen uns alle 'evangelisch'. Können wir uns langfristig leisten, im Wesentlichen beziehungslos nebeneinander zu arbeiten?
Wilfried Bührer: Die Antwort ist schnell gegeben: Nein, wir können uns das nicht leisten!
René Winkler: Vermutlich nicht. Allerdings: Wir sind nicht beziehungslos. Beziehungen sind ja primär zwischenmenschlich und da gibt es viele bis wenige und keine bis viele. Strukturell gibt es örtlich oft einige oder gar viele Beziehungspunkte, z.B. im Rahmen der Evangelischen Allianz oder durch gemeinsame Projekte. Dann gibt es auch regelmässige Kontakte auf nationaler Ebene zwischen SEK, dem Freikirchenverband VFG, der Evangelischen Allianz SEA und dem Réseau Evangélique. Sie sind allerdings - auch aufgrund wechselnder Delegierter - nicht viel mehr als ein gegenseitiger Informationsaustausch.
Beziehungen sind in der Vergangenheit durch die gemeinsame Verantwortung für die Christustage entstanden. Dass mehr wachsen kann, zeigt die gemeinsame Erklärung "Unterwegs zum gemeinsamen Zeugnis" der reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn und der evangelischen Gemeinschaften - das Ergebnis eines jahrelangen gemeinsamen Weges.
Welche Rolle spielt das Territorialprinzip ("wir decken alles ab") für die Haltung der Landeskirche gegenüber Freikirchen? Sollte die reformierte Kirche realistischerweise von ihm Abschied nehmen?
Wilfried Bührer: Vom Territorialprinzip sollten wir nicht zu schnell abrücken. Wenn in grösseren Landstrichen keine christliche Kirche mehr die "Grundversorgung" übernimmt, wird es auch für evangelistische Tätigkeiten - ob diese nun von Landes- oder Freikirchen kommen - schwierig. Das Evangelium ist dann den Leuten ähnlich fremd wie irgendwelche exotische Religionen. Man kann solches etwa aus stark entkirchlichten Gegenden von Frankreich oder der EX-DDR hören. Aus dem Territorialprinzip dürfen aber keine Machtansprüche erwachsen. Keine Kirche hat, um es in wirtschaftlichen Begriffen zu sagen, die "Generalvertretung" für das Evangelium in einem gewissen Landstrich.
René Winkler: Erschwerend für das Miteinander wirkt sich das Territorialprinzip dann aus, wenn die reformierte Kirche die freikirchlichen Gemeinden auf "ihrem Territorium" als Teil ihrer Aktivitäten versteht und einen Rechenschaftsanspruch erhebt. Namentlich bei Gemeinde-Neugründungen gab es in früheren Jahrzehnten mitunter eigenartige Situationen.
Reformierte und Freikirchen haben je ihre eigene Identität. Was braucht es, was muss geschehen, damit jede Seite die andere als Ergänzung wahrnimmt?
Wilfried Bührer: Wenn sich der Bäcker des Dorfs und die Filialleiterinnen von Migros und Coop treffen, sollten sie im Vordergrund den Gedanken haben, dass die ganze Bevölkerung mit Brot versorgt wird. Aber sie wären wohl unehrlich, wenn sie sagten, es sei ihnen egal, wo das Brot gekauft werde. Zu einem glaubwürdigen Zeugnis gehört die Ehrlichkeit.
Der Gedanke der Ergänzung ist schön, und wir sollten wohl noch mehr in dieser Kategorie denken. Allerdings gilt es manchmal ehrlicherweise eine gewisse Konkurrenz einzugestehen, z.B. wenn landeskirchliche und freikirchliche Gemeinden dieselben Jugendlichen ansprechen wollen - und dann noch Jugendkirchen auftreten. Wie sich bei näherem Hinsehen zeigt, sind es oft nicht Jugendliche, die bis anhin von kirchlichen Angeboten überhaupt nicht erreicht worden waren.
René Winkler: Beide Seiten müssen sich ihrer eigenen Identität bewusst sein, aus einer weiten Reich-Gottes-Perspektive heraus leben und sich gegenseitig als vollwertige Partner anerkennen und wertschätzen. Wenn dies der Fall ist, kann man es u.a. daran erkennen, dass wir das Wertvolle und die Stärken voneinander unaufgefordert benennen, wenn sich Gelegenheiten dazu bieten.
Haben Sie den Eindruck, dass Christen hüben und drüben sich heute eher als Brüder und Schwestern im Glauben anerkennen?
Wîlfried Bührer: Ja, ich glaube, dass dies zunehmend der Fall ist.
René Winkler: Die Entwicklung geht sicher in diese Richtung. Es kommt mehr auf Personen als auf die Struktur an. Je weniger Berührungspunkte es gibt (bzw. wenn sie irritierend sind), desto zurückhaltender wird man, einander als Glaubensgeschwister anzuerkennen. Eine Schwierigkeit ist, dass in der reformierten Kirche die Pfarrer inhaltlich zu sehr wenig Identifizierbarem verpflichtet sind (Bekenntnisse). Da und dort sind Glaubenshaltungen und Praktiken zu beobachten, die wir nicht eindeutig als christlich identifizieren können. Wahr ist deshalb: Reformierte Kirche/Kirchgemeinde ist nicht = reformierte Kirche/Kirchgemeinde - was natürlich für Freikirchen auch gesagt werden kann.
Evangelische Einheit würde mindestens heissen, dass Reformierte und Freikirchen einander keine Steine mehr in den Weg legen; sie könnte heissen, dass sie einander in der Öffentlichkeit unterstützen und mehr als punktuell (Gebetswoche, Bettag) zusammenarbeiten. Wie geschieht das konkret auf Ortsebene - aber auch sprachregional? Es soll ja nicht beim Christustag bleiben ...
René Winkler: Eine Übersicht habe ich nicht, weiss aber, dass gerade unsere Hauptamtlichen in den Aktivitäten der örtlichen Evangelischen Allianzen sehr engagiert oder oft sogar die treibenden Kräfte sind, beispielsweise im Jugendbereich im Thurgau (Godi-Netzwerk).
Wilfried Bührer: Ja, wir sehen im Thurgau an vielen Orten ein erfreuliches Zusammenwirken. Der Evangelischen Landeskirche kommt dabei eine Scharnierfunktion zu: Sie hat die Chance, sowohl mit Freikirchen als auch mit katholischen Kirchgemeinden intensiv zusammenzuarbeiten, jedenfalls auf Ortsebene, und das ist ein starkes Zeugnis für die Öffentlichkeit. Wieviel darüber hinaus möglich und sinnvoll ist, ist für mich offen. Es kommen dann eben zwei Schwierigkeiten zusammen: Das Zusammenbringen von verschiedenen Denominationen und das Zusammenbringen von verschiedenen Gemeinden innerhalb einer Denomination. Letzteres ist angesichts der grossen Gemeindeautonomie selber schon sehr anspruchsvoll.
René Winkler: Woran macht man Einheit fest? Einheit unter uns Christen ist das, was Jesus Christus für uns geschaffen hat. Diese Einheit ist nicht organisatorischer Natur und kann nicht durch Organisation und auch nicht durch Aktivitäten hergestellt werden, nicht mal innergemeindlich.
Problematisch empfinde ich, dass wir in wesentlichen ethischen Fragen, z.B. Lebensrecht, zwischen reformierten Kirchen (vertreten durch den SEK) und Freikirchen oft keine gemeinsame Überzeugung haben, die wir in der Öffentlichkeit mit einer Stimme einbringen könnten. Oftmals liegen katholische und freikirchliche Überzeugungen einander deutlich näher. Da haben wir leider noch kaum Wege gefunden, uns gemeinsam zu äussern, weil die Differenzen zur römisch-katholischen Kirche auf anderen Ebenen sehr gross und irritierend sind (Ekklesiologie u.a.).
Wilfried Bührer: Die Statements des Evangelischen Kirchenbunds SEK sind nicht selten innerhalb der protestantischen (Landes-)Kirchen selbst umstritten. Ich sehe allerdings, dass auch in freikirchlichen Kreisen bei politischen und sozialethischen Themen die Meinungen recht weit auseinander gehen. Sowohl in der EVP als auch in der EDU sind nach meiner Wahrnehmung viele Freikirchler, und die Parolen dieser beiden Parteien sind oft nicht identisch - was aber auch nicht weiter schlimm ist!
Wie können theologische Unterschiede, namentlich im Verständnis der Bibel, bearbeitet werden? Kennen Sie Modelle oder mutmachende konkrete Beispiele, wo man das versucht hat und versucht, abgesehen von der Berner Erklärung vom November 2013?
René Winkler: Mir sind im Moment keine Beispiele bewusst, wo dies erfolgreich gemacht worden und es zu formulierten Ergebnissen gekommen wäre. Wenn sich die Überzeugungen der handelnden Personen plus/minus decken, kann gemeinsam viel bewegt werden. Wenn die Überzeugungen zu sehr divergieren, passiert nichts. Es hängt weitestgehend von den handelnden Personen und nicht von offiziellen Definitionen ab. Die Berner Erklärung ist recht gut gelungen, obwohl man darin ja auch sehr konkrete, nicht unwesentliche Differenzen benannt hat. Wie es sich auswirken wird, werden wir sehen.
Wohl jede Freikirche hat Ablehnung erlebt; einzelne wurden ausgestossen. Ist der Schmerz, dass Glaubensgeschwister so miteinander umgingen, zur Sprache zu bringen?
René Winkler: Klar, es waren irritierende und schmerzvolle Erfahrungen, die unsere Geschwister in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und auch später gemacht haben. Sie mussten wider Willen Wege ausserhalb der reformierten Kirche suchen, um gemeinsam die Bibel zu lesen, Gemeinschaft zu pflegen und Menschen das Evangelium nahe zu bringen. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass dieser Schmerz, der durch Ablehnung und Verachtung entstand, heute noch eine Rolle spielt. Der Schmerz und die Wunden werden nicht mehr empfunden und sind deshalb auch nicht mehr identitätsbildend.
Natürlich haben die negativen Erfahrungen dazu beigetragen, dass in Gemeinschaften und Freikirchen ein negatives Bild von der Kirche zementiert und kolportiert wurde. Und mit Bestimmtheit sind solche Entwicklungen nie stolzfrei. Trotzdem glaube ich nicht, dass es jetzt in irgendeiner Weise "geistliche Deblocker" braucht, damit wir verstärkt gemeinsam leben und arbeiten. Es hängt meines Erachtens vielmehr an den erkennbaren und identifizierbaren Überzeugungen (siehe oben) und am konkreten Miteinander der handelnden Personen. Dann kann etwas wachsen. Wachsen wird aber kaum mehr als bisher, wenn man die Unterschiede aktiv ausbleicht und das Deckungsgleiche mit Scheinwerfern befeuert.
Wilfried Bührer: Verletzungen dürfte es im langen Nebeneinander von Landes- und Freikirchen schon viele gegeben haben, hüben und drüben. Verursacht etwa durch arrogantes Verhalten von Landeskirchenvertretern, die Macht ausspielen. Als arrogant wird anderseits ein allzu grosses Betonen des "Wir-sind-die-Geretteten" durch Freikirchenleute empfunden. Um da ein Stück weiterzukommen, braucht es vielleicht gar nicht die grossen theologischen Debatten und Erklärungen. Hilfreicher wäre aus meiner Sicht z.B. ein schlichtes gemeinsames Lesen der Bibel. In Gruppen können wir dann erleben, wie wir alle um das rechte Verständnis der Bibel ringen - und wie anspruchsvoll es sein kann, das, was wir als biblische Botschaft erkannt haben, auch zu leben.
Auf welchen Gebieten sehen Sie für die nächsten Jahre die besten Chancen für Zusammenarbeit - und wo wünschen Sie sie besonders?
Wilfried Bührer: Aufs Ganze gesehen werden im Thurgau die Chancen der Zusammenarbeit schon recht gut genutzt, wie mir scheint: in der Allianzgebetswoche, in evangelistischen Aktionen, in Gebetsgruppen von Pfarrern, Pastoren und Gemeindeleitern etc. Auch auf kantonaler Ebene arbeiten wir jetzt schon recht gut zusammen, z.B. in der Medienkommission, von deren sechs Mitgliedern je zwei Vertreter aus der evangelischen und katholischen Landeskirche und aus Freikirchen kommen.
Ich bin eigentlich ganz glücklich, dass der traditionelle Name unserer Thurgauer Landeskirche nur "evangelisch" heisst. Das ist einerseits inhaltlich Programm und gibt uns anderseits eine tiefe innere Verbindung mit Glaubensgeschwistern in Freikirchen und auch in der katholischen Kirche. RW: Gemeinsam christliche Werte in der Öffentlichkeit (Gesellschaft) vertreten. - Ich wünsche mir auch, dass die reformierten Kirchen die qualitativ hochstehenden Ausbildungen von Pastoren, wie sie ausserhalb theologischen Fakultäten beispielsweise an unserem Theologischen Seminar St. Chrischona oder an der Staatsunabhängigen Hochschule in Basel betrieben werden, anerkennen und den Absolventen viele der Barrieren und Steine auf dem Weg in den Pfarrdienst wegräumen.
Wilfried Bührer (57) ist seit 2003 Kirchenratspräsident der Evangelischen Landeskirche des Kantons Thurgau (mit knapp 100000 Mitgliedern), daneben aushilfsweise als Pfarrer in Gemeinden tätig. René Winkler (54) ist seit 2012 Direktor der Pilgermission St. Chrischona mit rund 200 Gemeinden in der Schweiz, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Südafrika und Namibia. Er vertrat den Freikirchenverband VFG im OK des Christustages.