Die Reformierten und die «Ehe für alle»
Fünf Wochen nach Ablauf der Vernehmlassung des Bundes hat der Rat des SEK Ehe-Rechte für gleichgeschlechtliche Paare befürwortet. Ihnen soll auch die kirchliche Trauung ermöglicht werden, empfiehlt der Rat den Mitgliedkirchen. Der Beschluss folgte auf eine kontroverse Debatte im Juni. Eine Arbeitsgruppe hatte bei den Reformierten einen grundlegenden Dissens im Eheverständnis festgestellt. Wir dokumentieren den Gang der Debatte.
Im Frühjahr 2019 veröffentlicht der Rat des Kirchenbundes das Papier seiner Arbeitsgruppe, das diese aufgrund der 2016 überwiesenen Motion der St. Galler Kirche erstellt hat, und nimmt Stellung dazu.
Die Arbeitsgruppe formuliert im Papier zwei Grundpositionen zur Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. Entsprechend wird die Frage, ob homosexuelle Beziehungen in der Kirche gesegnet werden können, gegensätzlich beantwortet.
Der Rat SEK formuliert seine Position zum Ergebnis der Arbeitsgruppe in vier Punkten:
«1. Wir sind von Gott gewollt, so wie wir geschaffen wurden. Unsere sexuelle Orientierung können wir uns nicht aussuchen. Wir nehmen sie als Ausdruck geschöpflicher Fülle wahr. Unabhängig von unserer sexuellen Orientierung begegnen wir homosexuellen Menschen mit Respekt. Wir nehmen uns gegenseitig als Schwestern und Brüder in Christus an.
2. In der Frage nach der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare bestehen innerhalb der reformierten Kirche ablehnende und befürwortende Positionen. Sowohl befürwortende als auch ablehnende Haltungen berufen sich auf die Bibel und kirchlich-theologische Traditionen. Beide Positionen vertreten wichtige Argumente und gehören deshalb unverzichtbar zum innerkirchlichen Gespräch über die Ehe.
3. Das innerkirchliche Gespräch über die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare soll in einer geschwisterlichen Haltung geführt werden: Das bedeutet mit gegenseitigem Respekt und Achtung für die Glaubensüberzeugungen anderer. Die Auseinandersetzung in dieser Frage wirft Konflikte auf, die unsere Kirchengemeinschaft ernsthaft herausfordern.
4. Die Gewissensfreiheit der Pfarrerinnen und Pfarrer ist zu achten. Wir dürfen einander nicht unterstellen, mit der Einführung oder Ablehnung gottesdienstlicher Handlungen die gemeinsame Grundlage der Schrift und des reformierten Glaubens zu verlassen.»
Am 19. Juni werden die Zusammensetzung und das Vorgehen der Arbeitsgruppe sowie diese Position des Rats in der Abgeordnetenversammlung (AV) kontrovers diskutiert (Bericht). Mehrere Votanten fordern ein eindeutiges Ja zur «Ehe für alle». Der Zürcher Oberländer Pfarrer Willi Honegger hält fest, die Ehe-Frage mit einem reinen Mehrheitsbeschluss zu entscheiden, sei für die Kirche – auch nach der politischen Beschlussfassung – kein gangbarer Weg. «Eine Volkskirche muss es aushalten, dass es bleibend unterschiedliche Haltungen … gibt.»
Auf Antrag des Zürcher Kirchenratspräsidenten Michel Müller machen sich die Abgeordneten nur die drei ersten Sätze des Rats (Punkt 1) zu eigen. Gottfried Locher und das für die Arbeitsgruppe zuständige Ratsmitglied Daniel Reuter sagen zu, dass im Kirchenbund an der Frage «partizipativ» weitergearbeitet werden wird.
Aufgrund der Nähe dieser Debatte zum Termin der Vernehmlassung der nationalrätlichen Rechtskommission (21. Juni) hat der Rat SEK eine Fristverlängerung erwirkt.
Am 21. Juni sendet der Zürcher Kirchenratspräsident Michel Müller ein Schreiben an die Rechtskommission. Vor dem Votum für die «Ehe für alle» schreibt er: «Mit der Anerkennung der Gleichwertigkeit der sexuellen Orientierung durch die AV des SEK gemäss meinem Antrag, ist die Basis dafür gelegt, dass die Ehe auch gleichgeschlechtlichen Paaren ermöglicht werden soll.» Als Präsident des Kirchenrates der Zürcher Landeskirche und Antragsteller in der AV des SEK sehe er sich «legitimiert, eine Vernehmlassungsstellungnahme abzugeben».
Müller schreibt, die «Ehe für alle» sei ausdrücklich erwünscht. «Für die reformierte Kirche, die Ehe auch jetzt schon nicht als Sakrament, sondern die Trauung so oder so als Segens- und Fürbittehandlung definiert, bestehen keine grundsätzlichen Hindernisse zur Anerkennung der Ehe für alle auch als Voraussetzung für eine kirchliche Trauung.» Gemäss dem Schreiben «sollen alle Paare, gleich- wie verschiedengeschlechtlich, Zugang zum Stiefkind- sowie zum Voll-Adoptionsverfahren haben». Müller unterstützt überdies den Antrag der Minderheit der Rechtskommission, dass lesbischen Paaren die Insemination mit gespendeten Samenzellen erlaubt wird.
Der Zürcher Kirchenrat nimmt das Schreiben Müllers, laut Website «aus Gründen der Dringlichkeit als Präsidialverfügung eingereicht», zur Kenntnis.
Am 5. Juli titelt die Neue Zürcher Zeitung auf der Frontseite: «Ehe für alle spaltet Reformierte». Zwar sei die reformierte Kirche «gegenüber Homosexuellen relativ offen – doch bei der Frage der Heirat stellen sich Konservative quer». Die Zeitung erwähnt auch die Stellungnahmen der Schweizerischen Evangelischen Allianz und der Bischofskonferenz und zeigt sich überrascht davon, dass die Reformierten es noch nicht geschafft hätten, eine Position zu finden. Der Redaktor Simon Hehli lässt Befürworter und Gegner zu Wort kommen und fragt nach dem konservativen Einfluss in der Pfarrschaft. Bei den Reformierten bestehe Angst vor einer Zerreissprobe. Gesondert werden Bedenken von Fachleuten im Zivilstandswesen dargestellt.
Am 7. Juli sendet der Rat des SEK seine Vernehmlassungsantwort an die Rechtskommission. Er hält eingangs fest, das staatliche Eherecht sei «aus der vor 500 Jahren einsetzenden engen und konstruktiven Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche» hervorgegangen. Es habe ein tragfähiges Fundament für die gesellschaftliche Entwicklung geschaffen.
Der Rat schreibt, der Kirchenbund habe sich seit langem intensiv gegen die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und für den Schutz gleichgeschlechtlicher Partnerschaften eingesetzt (Ja zum Partnerschaftsgesetz). Die Mitgliedkirchen – so der zweite Punkt – stimmten darin überein, «dass sich in der Vielfalt sexueller Orientierungen die Fülle des göttlichen Schöpfungshandelns widerspiegelt». Er zitiert die drei von der AV gebilligten Sätze (siehe oben).
Drittens hält der Rat fest: «Die kirchliche Antwort auf die Frage nach der Ehe für alle erfolgt auf der Grundlage der biblisch-theologischen Verständnisse von Ehe und Trauung in der Abgeordneten-versammlung.» Viele Mitgliedkirchen träten für eine weitgehende oder vollständige Gleichbehandlung von hetero-und homosexuellen Paaren auf rechtlicher und kirchlicher Ebene ein. «Andere Mitgliedkirchen befinden sich mitten im Klärungsprozess.»
Sowohl für die rechtliche Frage wie für die liturgische Frage (Trauung) werde eine einmütige Antwort der Reformierten verlangt, «die den gesellschaftlichen Entwicklungen angemessen Rechnung trägt und die bestehenden theologischen und liturgischen Differenzen nicht einebnet». Anschliessend werden zehn Fragen formuliert, unter anderem zum Umgang mit den biblischen Zeugnissen über Ehe, Familie und Sexualität und zum biblisch-christlichen Segensverständnis.
Am 16. August veröffentlichen die Tamedia-Zeitungen ein Interview von Michael Meier mit SEK-Ratspräsident Gottfried Locher. Auf der Frontseite steht der Titel: «Ja zu kirchlicher Trauung für Schwule und Lesben». Ohne die Stellungnahme des SEK zu erwähnen, wird Gottfried Locher als Befürworter der Ehe für alle und der kirchlichen Trauung für gleichgeschlechtliche Paare eingeführt.
Im Interview unterstreicht Locher eingangs, dass er eine Spaltung der reformierten Kirchen verhindern will. Die Abgeordneten sollten am 4. November zu einer «eindeutigen» Stellungnahme gelangen. Er persönlich denke: «Auch Homosexualität entspricht Gottes Schöpfungswillen.» Die Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare befürworte er. Und: «Wenn sich der Staat zur gleichgeschlechtlichen Ehe hin öffnet, sehe ich keinen Grund, warum wir ihm nicht folgen sollten.»
Die Reformierten haben in ihrer Geschichte laut Gottfried Locher «nie abschliessend definiert, was die Ehe ist». Nun gebe es «einen neuen gesellschaftlichen Konsens». Eine Bekenntnisfrage sei die Ehe nicht; das Thema müsse versachlicht werden: «Die Ehe ist nicht Teil des christlichen Bekenntnisses; sie gehört nicht zu den Grundfragen des Glaubens.»
Widerstand gegen die Ehe für alle sieht Locher vor allem in Landgegenden. Nur mit «demokratischer Willensbildung» liessen sich da Ängste abbauen. Er wolle verhindern, dass sich «gewisse Kreise innerlich verabschieden. Vielleicht sagen dann evangelikale oder besser pietistische und konservative Reformierte, dass sie ihre Zukunft eher nicht mehr in der Landeskirche sehen.» Sie sollten bedenken, dass die Ehe für alle keine Bekenntnisfrage sei. «Gemeinsam können wir die traditionelle Familie stärken, ohne gleichgeschlechtliche Paare zu diskriminieren.»
Am 19. August schiebt Michael Meier einen Kommentar nach. Er schreibt, spät habe Gottfried Locher erkannt, dass sich die Reformierten mit einem Nein zur «Ehe für alle» von der Gesellschaft verabschieden würden. «Sagt eine Kirche Nein zur Homo-Ehe, gerät sie ins gesellschaftliche Abseits.» Das wisse Locher, das wüssten auch die katholischen Bischöfe und «die Evangelikalen, die Angst haben, sich zu äussern, weil sie sonst abgehängt würden». Wegen dem «überraschend grossen Widerstand der evangelikalen und pietistischen Christen» habe der Kirchenbund noch nicht Ja gesagt. «Doch Lochers Position dürfte Signalwirkung haben.» «Die Evangelikalen», so Meier, seien mit ihrer Einschätzung der Homosexualität als Krankheit «tatsächlich nicht gesellschaftsfähig».
Mitte August unterstützt der Berner Synodalratspräsident Andreas Zeller in der sämann-Ausgabe von «reformiert.» Lochers Wortmeldung. Die Berner Kirche habe die Segnung von homosexuellen Paaren bereits in den 1990er-Jahren in ihre Kirchenordnung aufgenommen. Welche Auswirkungen eine Gesetzesänderung auf die kirchlichen Trauungen habe, müsse besprochen werden, wird Zeller zitiert. 2021 solle dazu eine Gesprächssynode stattfinden.
Am 23. August kommentiert SEK-Ratsmitglied Sabine Brändlin Lochers Aussagen gegenüber dem Interkantonalen Kirchenboten. Er habe damit den Entscheid im Rat und in der Abgeordnetenversammlung nicht vorweggenommen, sagt Brändlin. Die laufende Debatte habe er «dynamisiert». Locher bringe eine Haltung zur Homosexualität zum Ausdruck, «die einbezieht und nicht ausgrenzt».
Christliche Ethik, so Sabine Brändlin auf eine Frage, «geht von einer grundlegenden Gleichwertigkeit der verschiedenen sexuellen Orientierungen aus». Und sie hält fest, dass der Entscheid für oder gegen «die Trauung für alle» in der Kompetenz der Kantonalkirchen liegt. Zur Frage, ob sich konservative Reformierte mit einem Ja zur «Ehe für alle» abfinden würden, sagt Brändlin, man wolle gemeinsam Kirche sein. «Wir brauchen die verschiedenen theologischen Strömungen in unserer Kirche, um das Evangelium überzeugend verkündigen zu können.»
Am 29. August beschliesst der Rat des SEK, die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare auf zivilrechtlicher Ebene zu befürworten. Der Rat wird den Mitgliedkirchen empfehlen, einen allfällig erweiterten zivilrechtlichen Ehebegriff als Voraussetzung für die kirchliche Trauung zu übernehmen. Trauungen gleichgeschlechtlicher Paare sollten gleich gestaltet werden wie Trauungen heterosexueller Paare.
Die Gewissensfreiheit für Pfarrerinnen und Pfarrer bezüglich der kirchlichen Trauung für gleichgeschlechtliche Paare sollte in den Reglementen der Mitgliedkirchen gewahrt bleiben, heisst es auf der Website des Rates. Er bezieht sich auf den Beschluss der Abgeordnetenversammlung im Juni, Homosexualität auch als «Ausdruck geschöpflicher Fülle» zu verstehen. Zu Fragen der Adoption und Reproduktionsmedizin (Teil der Vernehmlassung der nationalrätlichen Rechtskommission) werde der Kirchenbund später Stellung beziehen.
Der Rat des SEK betont, das Bekenntnis zu Jesus Christus sei zentral. Es sei «die starke Grundlage, die innerhalb der evangelisch-reformierten Kirche unterschiedliche Positionen und Ehebilder zulässt». Ratspräsident Gottfried Locher ist zitiert mit dem Statement: «Zur reformierten Kirche gehören unterschiedliche theologische Strömungen. Diese verschiedenen Stimmen sind wichtig für das Ringen um Wahrhaftigkeit.»
Nach dem Beschluss der Abgeordneten im November werden Entscheide zur kirchlichen Trauung gleichgeschlechtlicher Paare in der Kompetenz der Kantonalkirchen liegen.
Am 30. August berät die nationalrätliche Rechtskommission das Ergebnis ihrer Vernehmlassung. Sie konstatiert bei den 154 Antworten (darunter 34 aus LGBTIQ+-Kreisen) eine grosse Zustimmung zum Entwurf der Kernvorlage. Die LGBTIQ+-Organisationen und linke Kreise machen auch die Mehrheit aus, welche die Variante, den «Zugang zur Samenspende für gleichgeschlechtliche, weibliche Ehepaare» befürwortet. Von den Kantonen sprechen sich zwei dafür aus.
Die Kommission entscheidet mit 13 zu 12 Stimmen, die Variante nicht in ihre Kernvorlage aufzunehmen. Die Meinung überwiegt, dass die Vorlage damit nicht mehr mehrheitsfähig wäre. Die Fragen der Fortpflanzung sollen in einem nächsten Schritt angegangen werden. In der Gesamtabstimmung votieren 17 Mitglieder für die Vorlage, 7 wollen am bisherigen Recht festhalten. Die Beratung im Nationalrat wird voraussichtlich im Frühjahr 2020 stattfinden.
Am 18. September befürwortet der Aargauer Kirchenrat die zivilrechtliche Eheschliessung gleichgeschlechtlicher Paare als auch deren kirchliche Trauung. «Wenn zwei Menschen das Leben miteinander teilen und füreinander Verantwortung übernehmen wollen, dann ist es nicht nur im Interesse des Staates, dies zu schützen, sondern auch für die Kirche ein Grund zur Freude und ein Bund, für den sie um den Segen Gottes bittet.»
Aussagen der Bibel seien zeitbedingt und müssten «auf ihre Relevanz für heutige Fragestellungen hin überprüft und interpretiert werden», schreibt der Kirchenrat. «Eine kirchliche Trauung soll im Zuge der gesellschaftlichen Neuordnung der Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare selbstverständlich sein… Die Botschaft Jesu stellt die Liebe in den Mittelpunkt.» Der Aargauer Kirchenrat hofft auf ein «eindeutiges» Ja der Abgeordnetenversammlung im November zur Ehe für alle.