«Wir existieren nur als Gabe»
Gelingt ein überzeugender Gesamtentwurf christlichen Lebens für Europa in säkularer Zeit? Am Studientag der STH Basel am 6. Dezember 2014 faszinierte der britische Theologe John Milbank mit Gedanken über Gott und Kultur, Frömmigkeit und Markt.
Kann man nach der Moderne die Wirklichkeit als ganze christlich denken? Den Versuch ist es allemal wert. John Milbank und andere Theologen versuchen im Rückgriff auf antike und mittelalterliche Denker die Schönheit und ganzheitliche Kraft der christlichen Botschaft für die Kultur wiederzugewinnen. Die "Radical Orthodoxy" genannte Denkrichtung wurde am 6. Dezember 2014 an einem Studientag der STH Basel vorgestellt und diskutiert.
Radical Orthodoxy (RO) nimmt Synthesen christlichen Denkens im Mittelalter auf, namentlich von Albert dem Grossen, Thomas von Aquin, Meister Eckhart und Nikolaus von Kues. John Milbank, einer der Väter von RO, skizzierte die in der anglo-katholischen Tradition beheimatete neue Denkrichtung, die den Reichtum des christlichen Erbes vor den Verzerrungen der letzten 600 Jahre wiedergewinnen will. "Radical" meint ein Zurückgehen zu den Wurzeln; dabei seien Erkenntnisse der antiken Philosophen (Neuplatonismus) einzubeziehen, sagte Milbank in seinem Vortrag.
Kritik der Aufklärung nötig
Dass die Säkularisierung Westeuropas in der Moderne unabwendbar war und irreversibel ist, hält der in Nottingham lehrende Denker für eine blosse Behauptung. "Die Geschichte kann eine andere Richtung einschlagen". Die Aufklärung sei eine Reaktion auf dekadentes Christentum gewesen; sie sei im Rahmen der christlichen Geistesgeschichte zu sehen und zu kritisieren. Milbank verwies auf andere Ansätze, das Verhältnis Politik-Religion zu bestimmen, etwa im Islam. Die Europäer hätten Errungenschaften der Aufklärung zu verteidigen, bemerkte der Referent; anderseits empfänden Christen eine gewisse Nähe zu Vertretern traditionsbestimmter Religionen, wenn die säkulare Kultur objektive Referenzpunkte ablehne.
Gründlich denken, bitte
Am STH-Studientag in Riehen plädierte der britische Denker dafür, nicht nur die Dinge in ihrem Werden und Vergehen (Physik), sondern Gründe des Seins (Metaphysik) von Gott her zu denken. Die RO wendet sich - mit teils steilen, umstrittenen Thesen - sowohl gegen dürren Rationalismus wie gegen eine übersteigerte, bloss aufs Innerliche gerichtete Frömmigkeit. Die Franziskaner hätten einem illusionären Ideal der Besitzlosigkeit gehuldigt. So wurde nach Milbank nicht verantwortlicher Umgang mit Eigentum zu göttlichen Zwecken gefördert, sondern (schon von Wilhelm von Ockham im 14. Jh.) der Willkür der Mächtigen der Weg bereitet.
Gottes Gnade in der gefallenen Welt
Der auf die Rechtfertigung des Sünders zentrierten Theologie der Reformatoren stehen die Denker der RO distanziert gegenüber. Die Bibel sehe den Menschen durch Sünde nicht als völlig verdorben an, bemerkte Milbank. Gottes Gnade wirke schon bei der Vertreibung aus dem Paradies. Auch die Welt sei als Gottes Schöpfung und durch sein anhaltendes gnädiges Erhalten immer "gottesvoll". Infolge des Sündenfalls werde dies nicht immer gesehen.
Ökonomie für den Menschen
Die Apostel haben mit ihrer Verkündigung eine neue Form von oikonomia, verantwortlicher Haushalterschaft, hervorgebracht ("a new kind of concern of everybody for everybody else"). Diese sei verloren gegangen, als man meinte, man könne Ethik ohne Religion haben, sagte Milbank. Europa gerate in die Krise, wenn die christliche Identität verleugnet werde. Dagegen wendet sich RO: Sie bezieht Religion und Wirtschaft, Ethik und Politik aufeinander. Der Markt dürfe nicht der Unmoral preisgegeben werden. Es sei möglich, die Welt wieder als vom Geheimnis Gottes durchwoben zu sehen ("re-enchantment").
Die Kultur prägen...
Milbank stellte die Frage, ob Christen im Westen ihre gesellschaftliche Marginalisierung als Gottes Wille annehmen sollten. Antwort: Da dies nicht klar sei, sei der alte Anspruch, die Kultur zu prägen, aufrechtzuerhalten. Insgesamt gelte es, eine Vision des Kosmos, der von Gott liebevoll geordneten Welt wiederherzustellen, sagte der Theologe. Sonst werde zur Rettung der Seelen nicht genug getan. "Wir existieren nur als Gabe, nur so, dass wir Gott zurückgeben, was wir empfangen haben". Deshalb soll das ganze Leben als Gottesdienst, ja als Liturgie (wörtlich "Dienst des Volkes") verstanden werden. Denn auch der Kontext der Bibel sei immer liturgisch.
...im Feiern
Die christliche Liturgie, und insbesondere das Abendmahl ist für die RO gleichsam das Brennglas, in dem die Welt als von Gott geordnet und durchwoben erfahren wird. Christliche Spiritualität im 21. Jahrhundert, so Milbank, soll Christen durch liturgisches Feiern immer neu lehren, die Welt als nicht bloss säkulare zu sehen. Gerade im Abendmahl werde darum Kirche gebildet - und darum sollte dieses im Zentrum des kirchlichen Lebens stehen.
Frei - und verantwortungslos
Für John Milbank kann die Menschlichkeit im 21. Jahrhundert mit Humanismus allein, ohne die religiöse Dimension, nicht bewahrt werden. Angesichts der Entwicklung in England ist für ihn gar nicht mehr sicher, dass ein durchwegs säkularer Staat die Religionsfreiheit gewährleistet und Religionsgemeinschaften eigene Regeln zugesteht. Denn wenn der Sinn für Religion verloren gehe, werde ihre Bedeutung fürs Gemeinwohl nicht mehr gesehen. "Wenn wir nicht klar für religiöse Toleranz eintreten, könnte sie sich unversehens verflüchtigen".
Leben als Experiment
Milbank warnte vor einer Verabsolutierung der Freiheit. Dabei konkurrierten die verschiedenen Freiheiten sich gegenseitig. Die Gesellschaft habe dann kein Ziel fürs Menschsein mehr und drehe sich bloss um Lustgewinn bei zahlreichen Optionen. Der Verfall der Moral führe zu einer "total verantwortungslosen Verspieltheit" - Leben als Experiment. Um die Würde der Person festzustellen, seien festere Grundlagen als die säkularen vonnöten. Rechtsstaatlichkeit (rule of law) genüge nicht.
Milbank warf an der STH in Riehen zahlreiche Schlaglichter auf die westliche Kultur- und Geistesgeschichte. Mit ihm und Adrian Pabst (Canterbury) setzten sich am Studientag mehrere Denker "analytischer" und "kontinentaler" Prägung auseinander. Die vielfältigen Stossrichtungen von "Radical Orthodoxy" wollte und konnte die Veranstaltung nicht ausloten (dieser Bericht kann sie kaum andeuten). Doch zeigte sie, wie relevant die christliche Tradition für heutige gesellschaftliche und Machtfragen sein kann. Die Tagung weitete den Horizont: Es gibt unter dem Himmel mehr, als der säkulare Mainstream träumen will.