Reformierte unterwegs in die Zukunft

Die reformierten Schweizer Kantonalkirchen befinden sich in vielfältigen Transformations-Prozessen. Notwendige Änderungen werden unterschiedlich angegangen. Dabei gehen die Ansichten auseinander, welche Massnahmen als zukunftsweisend zu bewerten sind. Neben der mitmenschlichen spielt immer auch die geistliche Dimension mit, schreibt Alfred Aeppli in seinem Kommentar. Darunter Schlaglichter auf neun Kantonalkirchen.

Auf der einen Seite stehen die Bemühungen um schlanke Strukturen, Synergien in der Verwaltung, finanzielle Stabilität und dem kirchlichen Leben angemessene Rechtsordnungen. Von aussen betrachtet scheint der Zürcher Prozess KirchGemeindePlus wesentlich auf solche äussere Faktoren ausgerichtet zu sein.

Auch die Änderung des Berner Kirchengesetzes mit der neuen Anstellungsordnung für Pfarrpersonen ist eine typische Strukturbereinigung. Anderseits weisen die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn mit der Vision «Von Gott bewegt. Den Menschen verpflichtet» darauf hin, dass neben der horizontal-mitmenschlichen immer auch die vertikal-geistliche Dimension mitspielt. Ähnlich hat es auch schon die St. Galler Kirche formuliert mit dem Slogan «nahe bei Gott – nahe bei den Menschen».

Beobachtungen in reformierten Gemeinden zeigen, dass ein vielfältiges Gemeindeleben vor Ort mit der Beteiligung von Freiwilligen aller Altersgruppen eine anziehende Dynamik ausstrahlt. Die Entwicklung verläuft in solchen Gemeinden meistens von innen nach aussen, vom Kern der Gemeinde zu den wohlwollend Interessierten, vom persönlichen Glauben zur aktiven Mitarbeit. Auch missionarische Angebote haben dabei ihren Raum.

Distanzierte Beobachter kritisieren dann oft eine gewisse evangelikale Prägungen des Gemeindelebens. Sie betonen die Bedeutung sorgfältiger Kasualien für jene Mehrheit der Mitglieder, die sich nicht zum Kern der Gemeinde zählen. Einfühlsame Kasualien gehören zweifellos zu den Kernaufgaben jeder Volkskirche.

Allerdings stellt sich bei einer einseitigen Ausrichtung auf die Bedürfnisse der sogenannt Distanzierten die Frage, wie Kirche aufgebaut werden könnte mit jenen, die normalerweise abwesend sind. Oder anders gefragt: Was ist unsere Vision von Kirche?

Neben der traditionellen Befriedigung religiöser Bedürfnisse der Kirchenmitglieder sind die Gemeinden auch herausgefordert, auf aktuelle gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren. Allerhand Kirchen-Experimente wie Migranten-Kaffee, Kleidervermittlung, Sportprojekt, Jugendtreff, Männerpalaver und anderes mehr sind Versuche, Menschen anzusprechen, die mit herkömmlichen Angeboten nicht erreicht werden.

In diesen neuen Gefässen von Kirche sind gelebter Glaube und die Botschaft des Evangelium als Basis der Gemeinschaft ebenso wesentlich wie in der traditionellen Gemeindearbeit, und es ist anspruchsvoll, im Sinn einer «mixed economy» neue Experimente sinnvoll mit der traditionellen Versorgung der Ortsgemeinde zu verbinden.

Bei allen Bemühungen um eine zukunftsfähige Gestalt der Kirche bleibt der dreieinige Gott der Anfänger und Vollender des Glaubens und des Gemeindelebens. Die Spannungsfelder Versorgungskirche versus Beteiligungskirche, traditionell versus modern, liberal versus evangelikal sind auszuhalten und wo immer möglich fruchtbar zu machen. Gegenseitige Abgrenzungen bringen uns nicht weiter.

Wenn es uns gelingt, die vom Heiligen Geist bewegten Entwicklungen auf allen Stufen kirchlichen Lebens wahrzunehmen und zu integrieren, haben wir nicht um die Zukunft der Kirche zu fürchten. Darum die Bitte: «Komm, Heiliger Geist!»

Alfred Aeppli, bis 2016 Pfarrer in Jegenstorf, leitete das LKF während acht Jahren.

 

Visionen und Visitationen
 

Während der Kirchenbund reformierte Kirchengemeinschaft auf nationaler Ebene betont, suchen kantonale Kirchen die wachsenden Herausforderungen mit ihren Ortsgemeinden zu bewältigen. Hat die St. Galler Kirche mit Visitation, Vision und Leitzielen die Nase vorn? – Eine Übersicht über Prozesse in neun Kantonalkirchen. Die Links finden sich unter dem Text.
 

St. Gallen: Spannungsfelder
«Unser Kern ist und bleibt das, was wir vermitteln, ausstrahlen und weitergeben: Gottes Gegenwart.» Der St. Galler Kirchenrat erstattete 2017 Bericht über die Visitation 2015/2016, deren primärer Fokus die Mitarbeitenden waren. «Fördernde und hemmende Strukturen» sollten erkannt werden. Eine der Fragen des Kirchenrats war, ob die partnerschaftliche Gemeindeleitung zu viele Ressourcen verschleisse.

Der Bericht konfrontiert Innen- und Aussensicht der Kirchgemeinden unverblümt. Angesichts steigender Austrittszahlen in den letzten Jahren überrasche es, dass sich Kirchgemeinden nicht mehr um die Gewinnung neuer Mitglieder bemühten.

Die Kirchen, so der Kirchenrat, «gelten als verstaubt und statisch». Die Gemeinden aber sähen sich «als dynamisch und offen. Sie gewähren ihren Mitarbeitenden auch Spielraum für Neues.» Allerdings: «Schwerpunkte oder präzisere Profile von Kirchgemeinden – auch in Form von Erwartungen, wie Mitarbeitende den Glauben leben sollen – sind selten.»

Die Gespräche mit 369 Kirchenvorstehern und 295 Mitarbeitenden in den 42 Kirchgemeinden des Kantons zeigten drei Spannungsfelder: offen vs. bekenntnisorientiert, liberal vs. evangelikal und traditionell vs. modern.

Zu Fusionen führt der Kirchenrat Pro und Contra auf und schreibt: «Dörfer mit ihren jeweiligen kulturellen Hintergründen in einem gemeinsamen Projekt einander näher zu bringen, ist ein herausforderndes Unterfangen.» Kasualien, bedeutungsvoll für die Distanzierten, müssten «noch stärker in den Gemeindeaufbau integriert werden».

Aufgrund des Berichts diskutierte und verabschiedete die Synode am 4. Dezember 2017 eine aktualisierte Vision mit neun Leitsätzen und Leitzielen, wegweisend bis 2025. Bei jedem Leitziel sind die Aufgaben von Kantonalkirche und Kirchgemeinden aufeinander bezogen. Zum Spannungsfeld Verschiedenheit heisst es: «Die Kantonalkirche … stärkt das Verständnis der Gemeinsamkeit in der theologischen Vielfalt. Die Kirchgemeinden geben verschiedenen Frömmigkeitsstilen Raum.»

Die Offenheit «für geistliche Aufbrüche zur Erneuerung der Kirche» konkretisiert das Papier dahingehend, dass die Kantonalkirche neue Ausdrucksformen kirchlichen Lebens unterstützt und die Kirchgemeinden personell und finanziell Freiräume schaffen, «damit auch geistliche Erneuerung entstehen kann». Dazu gehört auch «Mut zum Beenden veralteter Strukturen und Angebote».

Während die Kantonalkirche neue Leitungsstrukturen für die Gemeinden prüft, pflegen diese «ein Gemeindeleben, das verstärkt von Freiwilligen getragen, geprägt und gestaltet wird». Die Angestellten haben die Freiwilligen zu begleiten und zu befähigen.

Luzern: Heimat
Der Synodalrat führte 2016 eine Visitation durch, in der es ums Profil der Gemeinden und ihre Ausrichtung ging. Im Bericht stellte er Schwerpunkte der acht Kirchgemeinden vor und hielt fest, dass sie im allgemeinen einander nicht als Ergänzung wahrnehmen (Diasporasituation!).

Einige Gemeinden böten weniger Gottesdienste an, wendeten aber mehr für deren Gestaltung auf. Veränderungen wollten die meisten langsam angehen, damit nicht alteingesessene Mitglieder ihr «Heimatgefühl» bedroht sähen. «Es wurde berichtet, dass man trotz viel Mühe kaum Brücken zu jungen Familien aufbauen könne oder dass Jugendgruppen nach kurzem Anlauf wieder zerfallen.»

Grundsätzliche und weitreichende Überlegungen würden wenig angestellt, schreibt der Synodalrat. Er schliesst aus den Gesprächen und eingereichten Fragebögen, dass die Kirchgemeinden «sich ihrer strategischen Mittel nicht immer bewusst sind». Die Visitation trug jedenfalls zur besseren gegenseitigen Wahrnehmung bei.

Thurgau: Thesen!
Für den dritten Thurgauer Kirchensonntag am 11. Juni 2017 hatten die 63 Kirchgemeinden je ihre These zur Zukunft der Kirche formuliert. 2500 Frauen und Männer feierten in Neukirch-Egnach. Ende August erörterte eine Gesprächssynode den Kurs, «den das Kirchenschiff auf seiner Fahrt in die Zukunft» nehmen soll.

Der Kirchenrat führte dann Gesprächsrunden zu fünf Schwerpunkthemen durch (Die Welt kommt zu uns, Verbindliches Zusammenleben, Öffentliches Zeugnis, Weltweite Verbundenheit, Geeignete Gefässe für das kirchliche Leben der Zukunft). Die Treffen wurden in einer Broschüre dokumentiert. Am 10. Februar 2018 führte die Thurgauer Landeskirche eine «Zukunftstagung» mit 150 Teilnehmenden durch. Verlaufsbericht https://lkf.ch/berichte/tagung-tg

Bern: Vision!
Die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn entwickelten aufgrund eines Vorstosses in der Synode in einem dreijährigen Prozess eine «Vision Kirche 21». Zuerst wurden 5748 Fragen gesammelt (total über 5‘500) und diese von Experten zu 13 Spannungsfeldern zusammengefasst. Die Synodalen und Gäste diskutierten diese im August 2016. Darauf formulierte eine Kommission die Vision «Von Gott bewegt. Den Menschen verpflichtet» mit sieben Leitsätzen.

Die Vision wurde am 10. September 2017 in Bern im Rahmen eines grossen Festes, das mit neun Gottesdiensten unterschiedlicher Gestaltung begann, in einer Feier auf dem Bundesplatz proklamiert. Gottfried Locher (SEK) erinnerte an Martin Luther King: «Es ist gut, einen Traum, eine Vision zu haben. Träumen ist schon gut, aber träumen und handeln ist besser.»

Laut dem zuständigen Synodalrat Iwan Schulthess gibt die Vision als Leitstern «Orientierung für viele Wege. Die führen nicht alle zum gleichen Ziel. Gemeinsam ist ihnen der gleiche Orientierungspunkt.» Den Kirchgemeinden ist aufgetragen, die Vision umzusetzen.

Basel-Stadt: Beteiligung! Die Evangelische-reformierte Kirche Basel-Stadt hat seit Jahren intensiv um Spenden geworben, um den Rückgang der Steuern (nicht vom Staat eingetrieben) bei anhaltendem Mitgliederschwund auszugleichen. Zugleich forderte die Kirche die Gemeinden zur Profilierung auf und belohnte Beteiligung (Gottesdienstbesuch etc.) mit zusätzlichen Ressourcen.

Dieses Modell wurde in der Synode hinterfragt und die Rückkehr zur Mittelzuweisung pro Mitglied gefordert. Endlich wurde aber eine abgeschwächte Variante der Profilförderung genehmigt.

Im November 2017 nahm die Synode Kenntnis von einer Umfrage zur Mitgliederbindung. Zwei Hauptergebnisse: «Wer Zeit spendet, spendet auch Geld. Wer sich für die Kirche engagiert, der identifiziert sich auch stärker mit der Kirche, zeigt eine höhere Bindung und ist deshalb auch eher bereit, Geld zu spenden.»

Weiter schreibt der Kirchenrat: «Die Kirche muss die Leute wieder stärker zu sich holen. Jahrelang war die Devise, die Kirche müsse zu den Leuten gehen. Aus der Umfrage resultiert nun, dass die Kirche die Angebote eher so gestalten soll, dass sie die Mitglieder näher an die Kirche heranführen.» 2018 soll eine Strategie erarbeitet werden.

Basel-Land: Empfehlungen
Aufgrund der Visitation 2013-2015 erstellte die Kommission fürs nächste Jahrzehnt 25 Handlungsempfehlungen an die Kirchgemeinden und die Kantonalkirche. Sie zielen u.a. auf die Förderung des Gemeindelebens und die Weiterentwicklung der Zusammenarbeit, die Weiterbildung der Mitarbeitenden und Ehrenamtlichen, aber auch auf die «Suche nach ergänzenden Finanzierungsquellen». Kirchen sollen als Orte der Musik, Kunst und Kultur gestärkt werden.

Für die Umsetzung beschlossen die Synodalen im Juni 2016 ein Konzept.

Aargau: Den Geist wirken lassen!
Eine Gesprächssynode der Aargauer Kirche besprach im September 2017 die «Vision für eine lebendige Kirche». Im Gottesdienst verwies Kirchenratspräsident Christoph Weber-Berg auf das Fundament der Kirche: Jesus Christus. Aus Schwächen der Kirche könnten Stärken werden, weil sie sich ihren Auftrag nicht selbst gegeben habe.

Nicht-Aargauer gaben Impulse: Benedikt Schubert plädierte dafür, charismatische Bewegungen, wesentlich für die weltweite Dynamik des Christentums, hier zu integrieren. Alfred Aeppli erzählte, wie in Jegenstorf Gemeindeaufbau mit einer grossen Zahl an Ehrenamtlichen und Freiwilligen gelang. Am Nachmittag formulierten die Synodalen in Gruppen Visionssätze.

Zürich: Fusionen!?
Im Unterschied zu diesen Bemühungen fokussiert die Zürcher Landeskirche, die 2017 um 6‘800 Mitglieder (1,5 Prozent) schrumpfte, auf strukturelle Änderungen. Der Kirchenrat lancierte 2012 den Prozess «KirchGemeindePlus» (KGP).

Dieser Prozess führt jedoch vielerorts nicht – oder noch nicht – zu den von ihm angepeilten Zusammenschlüssen. Dies ergab eine Vernehmlassung 2017. Der Kirchenrat hielt trotz deutlichen Vorbehalten an der Basis und in der Theologischen Fakultät am Ziel von überörtlichen und Grossgemeinden mit professioneller Verwaltung fest.

KGP als kantonaler Prozess wird überschattet von der Vereinigung der Stadtzürcher Quartiergemeinden zu einer riesigen Stadtkirchgemeinde mit 80‘000 Mitgliedern. Für sie soll die Kirchenordnung neu ein Parlament vorsehen. Die Synode folgte am 16. Januar 2018 dem Kirchenrat und schützte die auf Eigenständigkeit bedachten Quartiergemeinden Hirzenbach und Witikon vor der Zwangsfusion, welche die vorberatende Synodekommission beantragt hatte.

Kantonsweit führt KGP zu mehr Zusammenarbeit unter Kirchgemeinden. Zusammenschlüsse von Kleingemeinden wurden in der Kirchensynode als noch nicht hinreichender erster Schritt qualifiziert.

Graubünden: Verfassungsrevision
Der Evangelische Grosse Rat Graubündens bereinigte und billigte im November die revidierte Verfassung. Sie zielt auf zeitgemässe Rahmenbedingungen für kirchliches Leben. Kirchgemeinden sollen in Regionen zusammenarbeiten.


SG
Von der Visitation zur Vision
TG
Thesen und Materialien
Verlauf der Zukunftstagung
BE
Visionsprozess in drei Schritten
LU
Visitationsbericht
BS
Perspektiven 2025
Dokumente der Synode 2017
BL
Visitationsbericht und Umsetzungskonzept
AG
Gesprächssynode
ZH
Prozess KirchGemeindePlus
Zusammenschluss in der Stadt Zürich
Synodeberichte
GR
Verfassungsrevision