Vom Sinn theologischer Ethik

Gut leben und zum nachhaltigen Wohl der Gemeinschaft beitragen -– wie gelingt das? Zum 50-jährigen Bestehen des Instituts für Sozialethik der Universität Zürich hielt Wolfgang Huber am 1. Dezember einen Vortrag. Der Ex-Ratsvorsitzende der EKD, der selbst Ethik gelehrt hat, stellte die Bedeutung der theologischen Ethik dar und skizzierte ihre Beiträge in säkularen Horizonten.

Eingangs ging Wolfgang Huber auf den gesellschaftlichen Wandel der letzten Jahrzehnte ein. Das Leben werde als Projekt wahrgenommen; dabei verdrängten Autonomie und Selbstbestimmung Solidarität und Fürsorge als die dominierenden Bezugspunkte der Ethik. Die Globalisierung führt laut Huber dazu, dass wir „"ohne die Erfahrung von Fremdheit und die Begegnung mit dem Fremden... nirgendwo mehr zu Hause sein können"“. Zudem sind wegen zunehmender Umweltzerstörung auch langfristige (mögliche) Auswirkungen des Handelns zu bedenken. Werden grundsätzliche christliche Beiträge zur Lebensführung da noch beachtet? Huber schilderte typische Konstellationen theologischer Ethik, indem er einen Bogen von Augustin und Thomas von Aquin zu den Reformatoren, Schleiermacher, Barth und Bonhoeffer schlug.

Von Prämissen bestimmt sind alle
Die philosophische Ethik hat sich in der Moderne emanzipiert; ihr gegenüber ist die theologische ins Hintertreffen geraten. In Ethikkommissionen sei die Mitwirkung von Theologen nicht mehr automatisch gegeben. "„Die Rolle der theologischen Ethik im ethischen Zeitgespräch hat an Selbstverständlichkeit verloren".“ Der Gast aus Berlin plädierte dafür, ihre Position gegenüber der philosophischen Ethik "„nicht apologetisch, sondern selbstbewusst“" zu vertreten. Oft werde Theologen unterstellt, sie seien von weltanschaulichen Positionen bestimmt, nicht frei Der Vorwurf trifft nach Wolfgang Huber nicht. Denn jede Ethik stellt auf vorwissenschaftliche Grundannahmen und normative Prämissen ab. Eine nicht standortgebundene Ethik gibt es nicht (Hans-Richard Reuter).

Beitrag zu einer globalen Moral
Zur ethischen Orientierung in der Gegenwart ist Theologie vonnöten: Sie "„weckt einen neuen Sinn für die Endlichkeit des Lebens, für die Verletzlichkeit und die Irrtumsanfälligkeit unserer Existenz, für das Leben selbst, das eine Gabe ist -– und nicht nur ein Projekt".“ Theologische Ethik soll im kritischen Nachdenken übers Christsein zu seinem besseren Verständnis beitragen und Christen Orientierung vermitteln. Zudem soll sie das christliche Ethos so auslegen, dass klar wird, was es beiträgt zu einer weltumspannenden Moral und zum „"Zusammenleben in der Pluralität der Überzeugungen"“ und Lebensverständnisse. Laut Huber muss sich christliche Ethik der Frage stellen, „"welche moralischen Regeln für alle gelten sollen, damit das Zusammenleben der Verschiedenen möglich wird und sie sich miteinander den grossen Herausforderungen in einer sich wandelnden Welt stellen können"“.

Gott: ein anderes Verhältnis zur Welt
Was qualifiziert die theologische Ethik dazu? Nicht ein „"besonderes Methodenarsenal"“. Der Gast aus Berlin wandte sich in Zürich auch gegen das direkte Anwenden biblischer Weisungen und Normen auf Probleme der Gegenwart. „"Die Bindung der in der Bibel enthaltenen Normen an die jeweilige Zeit und an die sozialen Bedingungen, unter denen sie formuliert wurden, muss berücksichtigt werden, bevor sie zu ethischen Fragen der Gegenwart in Beziehung gesetzt werden".“ Mehr Gewicht als die Weisungen hätten in der Bibel die Erfahrungen der Präsenz Gottes in der Welt; sie ergäben ein bestimmtes Selbst- und Weltverhältnis.

Nicht um sich selbst kreisen
Auf die Frage nach der Identität des Menschen -– grundlegend auch für philosophische Ethik –- kann theologisch mit dem Verweis auf Selbsttranszendenz eingegangen werden: Der Mensch ist imstande, "sich reflexiv auf ein anderes seiner selbst zu beziehen und sich in dieser Relation begründet zu wissen"“. Wir sind „"zum Fragen über uns selbst hinaus"“ genötigt, falls wir mit dem gegebenen Dasein (Kontingenz) einen Sinn verbinden wollen, sagte Wolfgang Huber mit Verweis auf Hans Joas. Die Wertschätzung des eigenen Lebens als Gabe "erscheint als unentbehrlich, wenn wir dazu im Stande sein sollen, das Leben anderer Personen, ja aller Personen als wichtig und schützenswert, ja liebenswert anzuerkennen"“. In der jüdisch-christlichen Vorstellung vom Menschen (zum Bild Gottes geschaffen) ist dafür der Grund gelegt.

Individualität und Sozialität
Heute steht, so Wolfgang Huber, bei manchen Ethikern der Einzelne so im Zentrum, dass auch seine Verantwortung nur noch als Selbstbezüglichkeit gedacht werden kann. Theologische Ethik hingegen sieht den Menschen auch in seinen Bezügen zu anderen, zur Welt und zu Gott: "„Individualität und Sozialität werden als gleich ursprünglich angesehen".“ Freiheit gibt es nicht ohne Schuld; das Evangelium ermöglicht Vergebung und Neuanfang. Theologische Ethik reagiert auf ungleiche Chancen mit einer "„vorrangigen Option für die Benachteiligten"“: Nicht nur Nahestehende sollen unsere Fürsorge erfahren, sondern auch Menschen, "„zu denen wir nicht in einer individuellen Verantwortungsbeziehung stehen"“. So wirke theologische Ethik darauf hin, dass sich die Hoffnung auf Gerechtigkeit im Reich Gottes erfüllt.