1517 – 2017: Reformationsjubiläum in der Schweiz

Das Jubiläum 500 Jahre Reformation – wie viel hat es in der Schweiz bewegt? Die Feierlichkeiten und Veranstaltungen ragen aus dem Fluss des Geschehens in Kirche und Gesellschaft heraus. Doch scheint es, als hätten sie ihm – trotz denkwürdigen Momenten – keine andere Richtung gegeben. Haben sie die reformierte Identität und die Kraft zur Wertevermittlung in der Gesellschaft gestärkt? – Ein ganz unvollständiger Rückblick.

Quer – frei – neu, denken – handeln – glauben: Mit seinen nach Lust und Laune kombinierbaren Elementen sagte der gutgemeinte Hauptslogan der Schweizer Reformierten im weltweiten Jubiläumsjahr 2017 mehr über sie selbst aus, als dass er Dynamik vermittelt gewirkt hätte. Hängt das auch mit der Reformation selbst zusammen?

1517 dachte Martin Luther nicht daran, mit seinen Thesen eine Kirchentrennung herbeizuführen. Doch er brachte den Stein ins Rollen. Die Reformation verlief dann, ab 1523, in den Orten der Eidgenossenschaft, welche evangelische Predigt zuliessen, ganz unterschiedlich. Entsprechend divers haben die Reformierten in der Deutschschweiz ihre Impulse 2017 aufgenommen. Landauf landab gab es Vorträge, Podien, Ausstellungen, Aufführungen…: Jubiläum von unten, in lokaler, kantonalkirchlich angeregter Initiative.

Jodel-Liturgie und Kulturprogramm
Die Aargauer Kirche schenkte ihren Gemeinden und den Schwesterkirchen eine Abendmahlsliturgie in drei Varianten – mit einer Chor-, einer Pop- und einer Jodel-Version und einem Krippenspiel. Der Berner Theologe Matthias Zeindler fasste Identität stiftende Hauptpunkte und Errungenschaften der Reformation für heute prägnant zusammen – anregend für die Gemeinden, die über 300 Events durchführten (kantonalkirchlicher Rückblick mit Bildern und Videos).

Die Zürcher Reformierten unterstützten Anlässe der Gemeinden, welche 2018 weitergehen (Agenda auf der Startseite). Zur Eröffnung im Januar luden sie auch Mennoniten zu den Gesprächsrunden in die Bahnhofhalle ein. Daneben schufen sie mit Stadt und Kanton Zürich eine Plattform, auf welcher Facetten von «Reformation», säkular von Künstlern reflektiert, in der Limmatstadt bis 2019 präsentiert und verhandelt werden. Bei der Lancierung des üppig finanzierten Kulturfestivals blieb dem Kirchenratspräsidenten allein die Aufgabe, die Geburtstagstorte anzuschneiden. Gesponsert wurde im November auch das «Denkfest» der Freidenker...  

Der Rat SEK mit dem Patron, Bundesrat Johann Schneider-Ammann, im Chor des Grossmünsters, 5. Januar 2017.

Cherchez les femmes!
Es macht den Anschein, als wollte Zürich den Reformator Zwingli mehr durch kulturelle Events («Schattenwurf») und einzelne Kraft-Worte vergegenwärtigen, als ihn zu dem, was ihn umtrieb, neu zu befragen: als Bibelausleger, Impulsgeber geistlicher Erneuerung und Denker des mit Gottes Wort konfrontierten Gemeinwesens.

Sowohl das aufwendige «Mysterienspiel» Akte Zwingli wie auch ein noch ausstehender Spielfilm wollen Zwingli über seine Frau Anna Reinhard erschliessen, von der ganz wenig bekannt ist. – Einzelne Frauen leisteten wesentliche Beiträge zur Reformation, wie neue Veröffentlichungen zeigen.

Geschichtsbewusst in die Zukunft
Die Thurgauer Reformierten feierten am 11. Juni in Neukirch-Egnach den Kirchensonntag gemeinsam. Kirchenratspräsident Wilfried Bührer fragte die 2'500 Besucher, ob die Kirche 500 Jahre nach Luther nicht ebenfalls einer epochalen Veränderung bedürfe. «Vielleicht müssen wir wie Jesaja sagen ‹Hier bin ich, Herr, sende mich› und wieder lernen, mit mehr Selbstverständlichkeit von unserem Glauben zu reden.» Im Vorfeld hatten die Thurgauer Kirchgemeinden zur Zukunft der Kirche Thesen formuliert. Diese wurden am Kirchensonntag am nachgebauten Tor der Wittenberger Schlosskirche festgenagelt. Martin Luther trat auf, gespielt von Eric Wehrlin.

Thesen an die Tür! Luther am Thurgauer Kirchentag.

Die Thurgauer Kirche führte im Jubiläumsjahr erstmals eine Gesprächssynode durch. Die Zukunft der Kirche wird an einer Tagung im Februar weiter thematisiert. Zum Bewusstmachen der Geschichte wurden Beiträge einer vierjährigen Kirchenboten-Serie, die den Bogen von Wyclif und Hus über das 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart schlägt, zu einer attraktiven Broschüre gebunden.

Die St. Galler eröffneten am Reformationssonntag 2017 das Jubiläumsjahr (bis November 2018) in einem Festgottesdienst, an dem der Bischof der Gallusstadt teilnahm, mit Reformationswurst und Vadian-Bier (Online-Agenda). Am selben Tag, dem 5. November 2017, beschlossen die Aargauer Reformierten ihre Feierlichkeiten.

Reformaction!
Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund SEK realisierte insgesamt 13 Projekte, darunter – als einziges gemeinsam mit freikirchlichen Verbänden – das Jugendfestival Reformaction Anfang November in Genf. Der Schweizer Pavillon «Prophezey» gehörte zu den Attraktionen der Weltausstellung in Wittenberg, deren Besuch (300‘000) deutlich unter den Erwartungen blieb.

Auf SEK-Initiative erschien im November ein Handbuch, das den Verlauf der Reformation in den verschiedenen Orten der Eidgenossenschaft und ihre kulturellen Wirkungen nachzeichnet (Bericht von der Vernissage).

Reformaction im Angesicht der Gründerväter in Genf

Der Geschichten-Truck, der kreuz und quer durch Europa fuhr, hielt im Winter in acht Schweizer «Reformationsstädten» – Hinweis darauf, dass die Schweiz, wie Bundesrat Alain Berset sagte, das «Epizentrum eines geistigen und gesellschaftlichen Erdbebens» war. (Videos aus den Reformationsstädten in 19 Ländern.)

«Liebe Kirche, woran hängt dein Herz?»
Für die Eröffnung der Feierlichkeiten in Genf und Zürich hatte der Kirchenbund den Innen- und den Wirtschaftsminister gewonnen. Bundesrat Johann Schneider-Ammann übernahm mit Gottfried Locher auch das Patronat. Der Freiburger und der Berner Magistrat rühmten die einzigartigen kulturellen und Freiheitsimpulse der Reformation.

Im nationalen Festgottesdienst am 18. Juni im Berner Münster fragte Gottfried Locher die Synodalen und Kirchenräte des Landes mit Matthäus 6,19: «Liebe Kirche, woran hängt dein Herz?» Er rief sie auf, einen Schatz im Himmel anzuhäufen, darauf ihr Herz zu richten. Prominente Gäste machten in den Ansprachen deutlich, dass Kirche anderswo traditionsbewusster und ernster gelebt wird. Justin Welby, der Erzbischof von Canterbury, nannte es die doppelte Bestimmung der Kirche, Gott anzubeten und Zeugnis von der Auferstehung abzulegen. «Der Rest ist Deko.»

«Wo dein Schatz ist, ist dein Herz»: Gottfried Locher im Festgottesdienst.

Signale in Wittenberg
Die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen, der die Schweizer Reformierten angehören, unterzeichnete am 5. Juli in einem Gottesdienst in Wittenberg zwei Erklärungen. Sie bekannte sich gemeinsam mit dem Lutherischen Weltbund zum «Wittenberger Zeugnis» und unterzeichnete die «Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre» des Lutherischen Weltbundes und der Römisch-katholischen Kirche von 1999.

Was bleibt? Die Schweizer Reformierten hatten sich von ihrem europäisch vernetzten Ratspräsidenten Gottfried Locher motivieren lassen, beim weltweiten Jubiläum – 2017 und in keinem anderen Jahr – nicht abseits zu stehen. Im Nachhinein wird ihnen in der NZZ bedeutet, sie hätten durch halbherziges Mitreiten auf der lutherischen Welle versäumt, sich zu profilieren.

Nachfahren der Umstürzler sind… Langweiler
Wenn dem so ist, dann aus anderen Gründen als dem schwergewichtigen deutschen Jubiläum (die Luther-Dekade, die am 31. Oktober endete, liess sich dfie EKD eine neunstellige Summe kosten) und der Luther-Vermarktung. Laut dem NZZ-Redaktor ist es in einem glaubensfernen Umfeld schwierig, für kirchliche Belange Interesse zu wecken. Gesellschaft und Kirche hätten sich weit auseinandergelebt.

Dass keine Belebung der Kirche durch das Jubiläum auszumachen sei, habe, so die Analyse, auch mit den «mainstreamigen Positionen» der Reformierten zu ethischen Fragen zu tun. «Umstürzlerische Kraft wie die protestantischen Gründerväter vor 500 Jahren entfalten ihre Erben schon gar nicht.» Und selbst im Jubeljahr habe ein katholischer Heiliger ihnen die Show gestohlen.
 

Christus die Mitte: In St. Michael in Zug feierten Katholiken und Reformierte gemeinsam.

Ökumenisches Miteinander
Dem Rat des Kirchenbunds ist zugute zu halten, dass er diese Gleichzeitigkeit als Chance erfasst hat – zur Entkonfessionalisierung: «Gemeinsam zur Mitte» in Christus taten Reformierte und Katholiken Schritte. Am 1. April strahlte in Zug die Frühlingssonne über dem bewegenden nationalen ökumenischen Gedenk- und Feiertag, der das Feier des 600. Geburtstags des Hl. Niklaus von Flüe mit dem Jubiläum der Reformation verband. Kirchenbund und Bischofskonferenz trugen ihn mit Veranstaltern aus der Region.

Am Tag wurde Errungenes und Unerreichtes der grosskirchlichen Ökumene schonungslos benannt und die Schuld des Gegeneinanders, von Hass und hartnäckigem Misstrauen, von Gottfried Locher und Bischof Felix Gmür im Gottesdienst förmlich bekannt. In gewisser Weise schloss am 20. Juni der ökumenische Gebetsgottesdienst der Freiburger Studientage («Komm, Heiliger Geist») an den 1. April an. Freikirchenleiter nahmen daran teil – noch nie dagewesen.

Die Perlen und der Eifer
Was Protestanten wegen der schon 1525 einsetzenden Verfolgung der Täufer schmerzt, stellte im Herbst auch das Berner Podium zur Vernissage des erwähnten Handbuchs heraus: Der ursprünglich geistliche Aufbruch wurde rasch von einem politischen Ringen überlagert. Die Reformation war kirchliche, auf das Gemeinwesen zielende «Erneuerung aus dem göttlichen Wort» (Peter Opitz). Daher wären – für ein integrales Jubiläum – neben den kulturellen Wirkungen und zeitlos aktuellen «reformatorischen Werthaltungen» (NZZ) die Losungen der Reformatoren (solus Christus, sola gratia, sola fide, sola scriptura) aufzunehmen.

Abschied Zwinglis. Bild von Ludwig Vogel, 1838.

Dass Zwingli, um evangelische Predigt in der Innerschweiz durchzusetzen, ins Feld zog, dass Bullinger zum Streiter gegen alle radikalen Lesarten und Calvin zum strengen Oberaufseher der Genfer Reformation wurde, kompliziert das Beherzigen des kostbaren Erbes der Reformation. Niemand sollte sich jedoch mit Verweis darauf von der ernsthaften Auseinandersetzung mit seinen Schätzen dispensieren – wenn ihm an der Zukunft der Reformierten und aller anderen Kirchen in diesem Land gelegen ist. 


 

Bild Akte Zwingli: Judith Schlosser