Forschendes Staunen übers frühe Christentum

Wie fasste die Jesusbewegung in den Städten des Römischen Reiches Fuss, warum wuchs sie explosionsartig und transformierte nach einigen Generationen die antike Zivilisation? Die Fragen griff Benjamin Schliesser am 3. Oktober in seiner Antrittsvorlesung ans der Universität Bern auf. Er machte deutlich, wohin die Forschung sich heute bewegt. Geistliche und theologische Faktoren erhalten mehr Gewicht.

Seine Überlegungen skizzierte Benjamin Schliesser, seit einem Jahr ausserordentlicher Professor für Neues Testament in Bern, im Horizont der Thesen von Edward Gibbon, Adolf von Harnack und Rodney Stark. Er betonte eingangs, dass Jesus in seiner Heimat Galiläa die Städte mied. Doch in den folgenden Jahrzehnten verbreitete sich die Jesus-Bewegung rasend schnell. Die Städte des Reichs wurden zum «Hotspot des frühen Christentums»; dieses wurde zur Stadtbewegung.

Dies illustrierte Benjamin Schliesser mit einem die aktuelle Forschung antippenden «Vogelflug über das Römische Reich»: Besuche in sieben Städten, an deren Gemeinden innere Wachstumsfaktoren des frühen Christentums zu erkennen sind.

1. Jerusalem: schichtenübergreifend – schlichte Message, strikte Moral. «Wer das himmlische Heil erwartete, war auch und gerade in den irdischen Bezügen gefordert. Wer bereit ist, sein Leben für seinen Glauben zu opfern, verleiht diesem Glauben Wert.»

2. Antiochia: identitätsstiftend – der Christusglaube. Christliche Identität entsteht auf jüdischem Grund, doch über den Bruchlinien zwischen Völkern und Kulturen, in der Gemeinschaft des Glaubens.

3. Ephesus: anpassungsfähig – Wanderer zwischen zwei Welten. Die neutestamentliche Forschung spürt heute dem «komplexen Identitätsmanagement» nach, welches das Nebeneinander so vieler «Christentümer» an einem Ort erforderte.

4. Philippi: sozialdiakonisch – «das Evangelium der Liebe und Hilfeleistung». Christen rückten schwache und benachteiligte Menschen in den Blick der Öffentlichkeit und beeindruckten mit der Intensität ihrer von Jesus inspirierten Nächstenliebe.

5. Korinth: charismatisch – Erfahrungen des Geistes und der Kraft. Für die Verbreitung des Christentums war von unschätzbarer Bedeutung, dass die Jesus-Anhänger im charismatischen Hotspot die Unterscheidung der Geister übten, um den Mittelweg zwischen Abschottung von der Umwelt und Assimilation zu finden.

6. Athen: gemeinschaftsorientiert – neuartige Sozialformen. Niedrige Zugangsbarrieren und anderes machten christliche Gemeinden attraktiv im Gegenüber zu anderen Gemeinschaften der Stadt – sie legen es generell nahe, «die Zentren des frühen Christentums je für sich in den Blick zu nehmen und sowohl nach dem einigenden Band als auch nach den lokalen Besonderheiten zu fragen».

7. Rom: an Bildung interessiert – die Rationalität des Glaubens. Die ersten Christen waren kein ungebildeter Haufen; die Judenchristen trugen dazu bei, dass wohl die Hälfte der Gemeinde lesen und schreiben konnte. Bald gab es religiösen Unterricht.

Vom 1. zum 21. Jahrhundert
Nach der aufschlussreichen Reise vom Jordan an den Tiber deutete Benjamin Schliesser an, dass die «postchristlich gewordene europäische Gesellschaft» mit der vorchristlichen des Römerreichs manches gemeinsam hat. Zum Visionsprozess der Berner Landeskirche meinte er: «Eine Vision 21 ist gut beraten, sich von einer Vision 1 inspirieren zu lassen.»

Der Mitautor von theologischen Werken über den Glauben kündigte an, dass er in Bern weiter diesem Zentralthema des Christentums und seiner identitätsstiftenden Wirkung nachdenken will: «Die Entdeckung des Glaubens ist und bleibt eines der spannendsten Forschungsthemen für Neutestamentler.»

Benjamin Schliesser vor der Karte, die Adolf von Harnack zeichnete.