Wahrheit fürs Leben
Was wir anstreben, Gedeihen und Glück, erwächst aus Wahrheit. Sie zu ergründen, ihr auf der Spur zu bleiben, gehört zu den edelsten Ambitionen des Menschen. Wie lässt sich heute Wahrheit denken als Begriff, der nicht bloss überprüfbare Aussagen meint? An einem Workshop des Forums für christliche Studien und des Instituts für Hermeneutik und Religionsphilosphie der Uni Zürich skizzierte der nordamerikanische Religionsphilosoph Lambert Zuidervaart einen umfassenden, lebensdienlichen Wahrheitsbegriff.
Zuidervaart, der in Toronto und Grand Rapids lehrt, ist der reformational philosophy verpflichtet. Diese unter holländischen Reformierten entstandenen, von Herman Dooyewerd (1894-1977) profilierte Denkrichtung will die ganze Wirklichkeit, auch Natur und Kunst, im Horizont der Geschichte Gottes mit den Menschen verstehen. In drei Vorlesungen im Rahmen eines Workshops am 19. März 2016 an der Universität Zürich skizzierte Zuidervaart im Gegenüber zur analytischen Philosophie von Hegel und Heidegger her einen umfassenden Wahrheitsbegriff.
Die Wahrheit schätzen
Obwohl wir, so der Gelehrte, in Politik, Gesellschaft und Kunst nicht ohne «Wahrheit» auskommen, wird sie doch relativiert, als gültig nur für den unmittelbaren Kontext gesehen (Richard Rorty) oder als manipulatives Instrument im Ringen um Macht abgewertet. Fragt man nach dem Nutzen von Wahrheit, gerät sie in den Sog des Konsumdenkens, das dem besten Produkt den Vorzug gibt. Zuidervaart dagegen: «Wahrheit wird vorgezogen, weil sie wichtig ist - sie ist nicht wichtig, weil sie bevorzugt wird.» Das philosophische Bemühen verläuft auf zwei Achsen: was Wahrheit ist und welchen Wert sie hat. Laut dem reformational thinker gilt es zu formulieren, warum Wahrheit wichtig ist.
Wahr sind nicht nur Behauptungen und Aussagen, die sich belegen und argumentativ ausreichend rechtfertigen lassen. Als wahr gelten können auch existentielle Erfahrungen, etwa Bestürzung angesichts einer griechischen Tragödie (Aristoteles), eine Geisteshaltung (Anselms rectitudo), religiöse Erfahrungen und Kunsterlebnisse. «Existentielle Wahrheit hat mit Wahrheit zu tun, die erprobt und nicht bloss angenommen, praktiziert und nicht bloss festgestellt, ausgelebt und nicht einfach behauptet wird.» Wahrheit ist auch vorsprachlich - nicht in Worte gefasst. Zuidervaart drehte den Spiess um mit der These, dass die Wahrheit von Aussagen selbst eine Form existentieller Wahrheit ist.
Wahrheit wird in menschlichen Institutionen gesucht, formuliert und bestritten. Diese sind, so Zuidervaarts These, selbst auch «Institutionen und Handlungsweisen von Wahrheit»: In ihnen träten Erkenntnis und Wahrheit zu Tage - und diese nähmen das Gepräge der Institutionen an
Damit Wahrheit und das Gute sich treffen
Die moderne Philosophie vernachlässigt zu ihrem eigenen Schaden, dass es um die Auseinandersetzung mit dem Bösen geht. Mit diesem Urteil der Philosophin Susan Neiman setzte Lambert Zuidervaart zum zweiten Vortrag an. Ganzheitliche Wahrheit (holistic truth) ziert sich mit Güte, überschneidet sich mit dem Guten. Um derart «robuste» Wahrheit soll sich die Philosophie bemühen und der Skepsis entgegenwirken, welche Wahrheit auf erhärtbare Aussagen beschränkt. «Wir können wahre Erkenntnis nicht von gutem Handeln und echter Hoffnung trennen.»
Erkenntnis gibt es letztlich, weil Dinge unverborgen sind und sich erschliessen (Heidegger). Die Offenheit dafür ist abhängig von der menschlichen Gemeinschaft. Wahrheit, umfassend verstanden, ist nach Zuidervaart «eine dynamische Entsprechung zwischen zwei Achsen: Treue zu Prinzipien der Gesellschaft (Gerechtigkeit, Solidarität) und einer Leben gebenden Erschliessung von Gesellschaft (disclosure of society).»
Gedeihen zur Vollendung hin
Diese Prinzipien der Gesellschaft seien geschichtlich bedingt und sollten in eschatologischer Offenheit auf die Bestimmung der Menschen bezogen werden, sagte Zuidervaart. Erfüllende Gemeinschaft erwächst in der Antwort auf den Ruf, Gott und den Nächsten zu lieben und für die Schöpfung zu sorgen. Wahrheit schliesst dann die eschatologische Überwindung des Bösen ein - motiviert von Hoffnung auf die Zukunft, die Gott erschliesst. «Der Wahrheit zur Entfaltung zu verhelfen, heisst nicht nur objektive Erkenntnis zu suchen, sondern auch gesellschaftliche Transformation anzustreben mit dem Ziel erhöhter Treue und grösseren Gedeihens.»
Im dritten Vortrag kam Lambert Zuidervaart, selbst Musiker und Kunstliebhaber, auf die Wahrheitsdimension von Kunst, Religion und Wissenschaft zu sprechen. Artistic truth zeigt sich in dem, was sich der Wahrnehmung und Imagination durch seine Form erschliesst und aufdrängt. In Kunst, Religion und Wissenschaft geht es einerseits um die Erhaltung der Integrität der eigenen Sphäre, andererseits auch um die Kontinuität, die in der Tiefe alle diese Sphären verbindet.
Der Workshop wurde veranstaltet vom neugegründeten Forum Christliche Studien foxs und dem Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie an der Universität Zürich.