Pentateuch-Forschung: Wege aus der Sackgasse

Seit 1970 ist die Forschung zu den fünf Mosebüchern laut Benjamin Kilchör «regelrecht auseinandergebrochen». Der Assistenzprofessor an der STH Basel veranstaltet daher Mitte März eine Fachtagung, die den Stand der Forschung beleuchtet und nach der Möglichkeit eines Paradigmenwechsels fragt. Referenten aus neun Ländern nehmen teil. Für Kilchör ist klar: Aus der Sackgasse ist ein Ausweg zu suchen. Im Interview erläutert er die Hintergründe.

LKF: Inwiefern sind die fünf Bücher Mose (Pentateuch) grundlegend für die westliche Religionsgeschichte?
Benjamin Kilchör: Der Pentateuch bildet die Grundlage sowohl für die jüdische wie für die christliche Bibel. In der jüdischen Bibel sind die Propheten und die Schriften der Tora zu- und untergeordnet. Auch das Neue Testament gründet auf dem Pentateuch, so etwa das von Jesus aufgestellte Doppelgebot der Liebe (Liebe zu Gott: Deut 6,5; Liebe zum Nächsten: Lev 19,18).

In der Genesis werden alle theologischen Themen der Bibel grundgelegt: Schöpfung, Mensch, Sünde, Gottesdienst, Erwählung, Bund, etc.. Die Exodus-Erzählung verbindet sich mit der Offenbarung des Gottesnamens und führt zum Grundsatz biblischer Theologie: «Ich bin JHWH, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.» Unter diesem Satz stehen die Zehn Gebote und das ganze Gesetz. Es ist zur Freiheit gegeben. Joshua Berman, der auch an unserer Tagung referieren wird, hat in seinem Buch Created Equal. How the Bible Broke with Ancient Political Thought (Oxford University Press, 2008) gezeigt, dass Menschenrechte und die westliche Demokratie in der Tora gründen.

Worin besteht das Paradigma (die grundlegenden Annahmen zur Entstehung des Pentateuchs) aus dem 19. Jahrhundert?
Schon im 17. Jahrhundert wurde die bis dahin verbreitete Annahme, dass der Pentateuch im Wesentlichen mosaischen Ursprungs sei, aufgrund so genannter A-Mosaica (Texte, die nicht von Mose stammen können), infrage gestellt (Spinoza, Simons). Im 18. Jahrhundert hat man sich über die Quellen des Pentateuch Gedanken gemacht; u.a. kam da die Theorie von Quellenschriften (Jahwist, Elohist) auf (Astruc), die heute kaum noch Vertreter hat. Weiterhin ging man aber davon aus, dass der Pentateuch seine Ursprünge im zweiten Jahrtausend vor Christus hat und Israels Identität letztlich in der Gottesoffenbarung am Sinai gründet.

Zwei Thesen aus dem 19. Jahrhundert, die sich bis heute gehalten haben, haben zu einer wesentlichen Neueinschätzung geführt. Die erste stammt vom Basler Alttestamentler W.M.L. de Wette; sie greift die schon altkirchlich bezeugte Annahme auf, dass es sich beim Buch, das nach 2.Kön 22 zur Zeit Josias durch den Priester Hilkia im Tempel gefunden wurde, um das Deuteronomium handelt. Doch de Wette vermutete 1806 ohne jeglichen Beweis, dass das Buch nicht gefunden, sondern als «pia fraus» (frommer Betrug) untergeschoben wurde, um die josianische Reform zu legitimieren. Bis heute hat sich die josianische Datierung des Deuteronomiums (7. Jhd. v.Chr.) gehalten, auch wenn sie teilweise anders begründet wird.

Neue Forschungsansätze diskutieren: Benjamin Kilchör.

Der zweiten These hat Julius Wellhausen in seinen Prolegomena zur Geschichte Israels (1878) zum Durchbruch verholfen, auch wenn er sie nicht als erster aufgestellt hat. Die These lautet, die so genannte Priesterschrift (P), bis dahin für die älteste Pentateuchquelle gehalten, setze die josianische Reform voraus und sei ins babylonische Exil (6. Jhd.) zu datieren. Beide Thesen haben sich bis heute gehalten.

Wozu haben diese Thesen in den evangelischen Kirchen geführt?
Die Pentateuchkritik mit ihren Resultaten bildet die Grundlage für alle bibelwissenschaftliche Arbeit. Das Paradigma aus dem 19. Jahrhundert hat dazu geführt, dass sich eine Kluft aufgetan hat zwischen biblischer Heilsgeschichte und wissenschaftlich rekonstruierter Geschichte, die dahin führt, dass Theologie nicht mehr im geschichtlichen Handeln Gottes, sondern in den zeitlosen Ideen fiktiver Geschichten verortet wird.

Gerhard von Rad hat das Problem in seiner berühmten Theologie des Alten Testaments (1957) folgendermassen formuliert, ohne eine rechte Lösung anbieten zu können: «Die historisch-kritische Geschichtswissenschaft hat in den letzten 150 Jahren ein imponierend geschlossenes Bild der Geschichte des Volkes Israel erstellt. In diesem Werdeprozess ist das alte Bild von Israels Geschichte, das die Kirche gläubig dem Alten Testament entnommen hatte, Stück um Stück abgetragen worden.»

Eine für die Kirche schwerwiegende Folge davon ist, dass Bibelwissenschaft nicht mehr als theologische, sondern als religionsgeschichtliche Disziplin betrieben wird. Es wird nicht mehr nach Gottes geschichtlicher Offenbarung gefragt, sondern die Theologie wird auf menschliche Reflexion von Erfahrungen begrenzt und damit gnostisch vergeistigt.

So hat das Alte Testament an Kraft in der Verkündigung eingebüsst. Und es ist nur folgerichtig, wenn der Berliner Theologieprofessor Notger Slenczka jüngst gefordert hat, dem Alten Testament seine kanonische Geltung zu entziehen. Er wollte damit nichts am kirchlichen Gebrauch des AT ändern, sondern lediglich dogmatisch nachvollziehen, was sich in der kirchlichen Praxis auf der Grundlage moderner Bibelwissenschaft sowieso schon durchgesetzt hat.
 

König Josia hört das Gesetz.

 

Welche Kraft zur Wahrheitsfindung hat das Paradigma noch?
Das Paradigma ist immer noch die Grundlage für alle historische Bibelforschung. Um ein Beispiel zu nennen: Hesekiel ist eines der letzten Prophetenbücher, das noch relativ lange als literarische Einheit betrachtet wurde. Im Paradigma von Wellhausen stand Hesekiel historisch zwischen dem Deuteronomium und der Priesterschrift als Übergang.

Die Forschung nach Wellhausen hat allerdings gezeigt, dass Hesekiel diverse «priesterschriftliche» Texte aus dem Pentateuch voraussetzt. Das hat nun allerdings nicht zu einer Neubewertung der Datierung von P geführt, sondern dazu, dass man auch das Hesekielbuch zerlegt hat: Alles, was von P beeinflusst ist, muss später hinzugefügt worden sein.

Wie weit ist die theologische Kritik an diesen Grundannahmen der alttestamentlichen Wissenschaft gediehen?
Meinem Empfinden nach ist die theologische Kritik eher schwächer als stärker geworden. Sie kommt fast nur noch von ausserhalb des alttestamentlichen Fachbereichs, sei es von Systematikern und Praktischen Theologen, welche mit den Forschungen der Alttestamentler kaum noch etwas anfangen können, sei es von kirchlicher Seite.

In der Ausschreibung der Fachtagung reden Sie von einer Sackgasse: Worin besteht diese?
Während das Gesamtbild von Julius Wellhausen bis in die 1960er Jahre weitgehend zum Konsens wurde, ist die Pentateuch-Forschung ab den 1970er Jahren regelrecht auseinandergebrochen. Zwar gibt es in den USA eine Schule von Neo-Documentarians, die das alte Wellhausen-Bild wieder zu etablieren versuchen, doch ist in der kontinentalen Pentateuch-Forschung der «Elohist» einen kurzen und schmerzlosen Tod gestorben, während über die Existenz und den Charakter eines «Jahwisten» endlos gestritten wird.

Es haben sich verschiedene Schulen herausgebildet, die über ihre eigenen Kreise hinaus kaum noch diskursfähig sind. Die Unterscheidung von P und Nicht-P (mit exilisch-nachexilischer Datierung von P) ist fast noch das einzige, worüber relativ breite Einigkeit besteht. Thomas Römer fasst die Sackgasse in seinem Forschungsüberblick folgendermassen zusammen: «Bei Studierenden aber auch bei Lehrenden kann angesichts der heutigen Situation der Pentateuchforschung der Eindruck einer chaotischen Situation entstehen, die es kaum erlaubt, ein fundiertes Bild der Entstehung des Pentateuchs zu rekonstruieren» (Die Entstehung des Alten Testaments 2014, 68).

Mit welchen Forschungen, auf welchen Feldern setzen die Referenten der Konferenz an?
Die Konferenz wird sowohl von den Positionen der Referenten her, wie auch von ihren Forschungsfeldern, relativ heterogen sein. Sie sind aber darin verbunden, dass sie das Problem der heutigen Pentateuch-Forschung sehen und offen dafür sind, nach neuen Wegen zu fragen. Einige der Referenten werden sicher dafür argumentieren, den Pentateuch (oder bestimmte Teile des Pentateuch) wieder früher zu datieren, sei es aus rechtshistorischen Gründen oder sonstigen Vergleichen aus der Umwelt Israels, aus linguistischen oder aus textinternen Gründen.

Ohne die These von Sandra Richter zu kennen, vermute ich beispielsweise, dass sie von den Silberpreisen im Deuteronomium her für einen älteren Ursprung des Deuteronomiums argumentieren wird. Inflation gab es ja schon früher und ausserbiblisches Vergleichsmaterial erlaubt es, Rückschlüsse zu ziehen (der für Josef veranschlagte Preis entspricht beispielsweise ganz klar Sklavenpreisen aus dem 2. Jahrtausend v.Chr.; im ersten Jahrtausend waren die Sklavenpreise drei- bis sechsmal so hoch).

Lina Petersson wird aus ihrer Doktorarbeit, die sich auf der Ziellinie befindet, präsentieren: Das Hebräische hat ja auch eine sprachgeschichtliche Entwicklung durchgemacht und sie wird wohl argumentieren, dass das Hebräisch der P-Texte vorexilisch sein muss. John Bergsma fragt, wie es sein kann, dass der Pentateuch im Wesentlichen als Jerusalemer Produkt aus dem 7.-5. Jahrhundert betrachtet wird, wenn er in seiner vorliegenden Gestalt nicht Juda und Jerusalem, sondern Ephraim und das (722 untergegangene) Nordreich begünstigt. Joshua Berman wird aus einem Buch, das dieses Jahr erscheinen wird, präsentieren, warum er die Unterscheidung von P und Nicht-P (einer der letzten Pfeiler der Pentateuch-Forschung) in zentralen Texten der Genesis für unhaltbar hält.

Wo sehen Sie persönlich Ansatzpunkte, um aus der Sackgasse heraufzufinden?

Ein Standardsatz in der Bibelwissenschaft lautet: «Wir können nicht hinter xy zurück.» Das ist ein traditionalistisches Argument. Natürlich haben wir keine Zeitmaschine. Ich meine aber, dass man in einer Sackgasse gut beraten ist, zur letzten Kreuzung zurückzufahren und einen neuen Weg zu nehmen. Ich halte die beiden Thesen von de Wette und Wellhausen für Sackgassen und bin der Meinung, dass wir in der Tat soweit zurück gehen müssen, um einen neuen Weg einzuschlagen, der es nicht mehr nötig macht, dass alles, was nicht ins Paradigma passt, durch Operationen an den Texten (siehe das Hesekiel-Beispiel oben) passend gemacht wird.

Wie der neue Weg aussehen soll, weiss ich aber noch nicht. Ich erhoffe gerade dazu eine fruchtbare Diskussion an unserer Tagung mit Leuten, die bereit sind, Altes infrage zu stellen und konstruktiv nach neuen Lösungen zu fragen oder sich zumindest auf eine Diskussion einzulassen.


Die Fachtagung Paradigm Change in Pentateuchal Research findet vom 16. bis 18. März 2017 an der STH Basel statt. Sie wird in englischer Sprache durchgeführt. Detailprogramm.

Das Interview wurde per Mail geführt.
Bilder: Holzschnitte von Julius Schnorr von Carolsfeld.