Warum all das Leid?
Hat Gott wirklich alles in der Hand? Warum ist so viel Leiden? Wenn Gott an der Notbremse sitzt, warum betätigt er sie nicht öfter? Diese existentiellen Grundfragen nahmen Wolfang und Ulrike Bittner am Studientag der Fritz Blanke Gesellschaft im Nidelbad Rüschlikon am 23. Januar 2016 auf.
Die Frage nach dem Warum, das sogenannte Theodizee-Problem, kann nicht bloss intellektuell beantwortet werden. Doch aufgrund der antiken Philosophie wurde Gott auch von Christen als im Gegensatz zum Menschen unbegrenzt gedacht: als allgegenwärtig, allwissend und allmächtig. In der Neuzeit kommt der so vorgestellte Gott unter Rechtfertigungsdruck: warum er dem Leiden nicht wehrt, warum er in seiner Welt nicht Ordnung schafft, warum ...
Laut Wolfgang Bittner redet aber die Bibel nicht in dieser philosophischen Weise von Gott. Ein Grund: «Das biblische Denken ist nicht interessiert an den Eigenschaften Gottes, sondern an seinem Handeln. Den Hebräer interessiert nicht, ob du ein treuer Mensch bist sondern ob du an mir treu handelst.» Übersetzungen verwischen dies, wenn Aussagen, die Gottes Handeln beschreiben, in Sätze über seine Eigenschaften gegossen werden.
Der Gott, der persönlich erfahren wird
Ulrike Bittner übertrug den Ansatz auf Psalm 139. Da werde nicht die Allgegenwart Gottes ausgesagt, sondern persönliche Erfahrung geschildert: «Wenn ich an die Enden der Erde gehe, dann ist Gott da.» Dies könne von vielen Menschen erfahren werden. In der Bibel werde diese Erfahrung bezeugt und allen angeboten. «Sie wird erworben, nicht vorausgesetzt: Gott ist für jeden da.» Die biblischen Bücher Hiob und (in Kurzform) Ruth wie auch der Psalm 73 bilden den persönlichen Umgang mit der Theodizee-Frage ab.
Das Unglück, das über Hiob hereinbricht, relativiert, so Ulrike Bittner, die weisheitliche Perspektive, wonach die Ernte der Saat folgt. Sie betonte, dass Hiob wie Naomi ihr Leid nicht dem Schicksal oder dem Teufel anlasten, sondern Gott als ihr Gegenüber behalten und das Schwere aus seiner Hand annehmen. «Die Bibel hält es nicht für nötig, Gründe zu wissen oder anzuführen.» Die Referenten folgerten, dass aus der weisheitlichen Perspektive kein Gesetz zu machen ist.
Wolfgang Bittner benannte vor diesem Hintergrund Lösungsversuche der Theodizee-Frage, die zwar im Einzelfall richtig sein können, aber nicht zur Regel erhoben werden sollen: zum einen die Auffassung, dass Menschen durch Leiden Wesentliches lernen und anderen damit helfen können, zum anderen den Gedanken, dass Gott durch Schweres die Ernsthaftigkeit des Glaubens prüfen will. Laut Ulrike Bittner bezeugt die Bibel insgesamt, dass Gott es mit den Menschen gut meint und ihnen nachgeht. Doch werde nicht behauptet, dass jeder es erfährt.
Gott nicht in die Schuhe schieben, was Menschen verantworten
In den Nachmittag leitete Wolfgang Bittner ein mit dem Appell, die Bibel nicht mit philosophischer Brille zu lesen, sondern sich auf die darin geschilderten Erfahrungen einzulassen. Heute sollten die Menschen ihre eigene Wirkungsmacht anerkennen und sich fragen, warum sie so viel Leid verursachen und zulassen: «Wer steht hinter den Bürgerkriegswirren im Mittleren Osten? Menschen!» Es sei eine Verdrehung und grenze an Blasphemie, Selbstverursachtes Gott in die Schuhe zu schieben.
In der Folge ging Wolfgang Bittner durch den Psalm 73. Er versteht ihn als Angebot: «Ich darf ausprobieren, ob dieses Gewand mir steht, mir eine Hilfe ist.» Der Psalm von Asaph schildert einen Erfahrungsweg mit Wendepunkten ohne alles sagen zu können. Das Vertrauen in Gottes Fürsorge ist dem Beter fast abhanden gekommen; «beinahe gestrauchelt» ist er damit, als er den Erfolg der Gottlosen beobachtete. Doch plötzlich gehen ihm nochmals die Augen auf er sieht sich selbst mit anderen Augen und beschreibt, ohne zu verallgemeinern, seine Einstellung. War es umsonst, dass er sein Herz rein hielt?
Eine neue Sprache
Laut Wolfgang Bittner ist bemerkenswert, dass der Beter keinen Schluss zieht, während er an seiner Wahrnehmung festhält. Die Reflexion (v. 16) bringt allerdings die Lösung, die Menschen suchen, nicht. Ein Weg aus der Qual der Frage eröffnet sich, als der Beter auf Gottes heiliges Walten achtet (andere Übersetzung: ins Heiligtum tritt) und ihm so begegnet. «Da wird nicht die Frage gelöst, sondern ich werde von meiner Frage gelöst.» Der Beter bekommt eine neue Sprache geschenkt. Wolfgang Bittner verwies auf die Parallele zum Buch Hiob. Auch Hiob, der von Gott den Grund wissen will, erhält keine Antwort; die Hintergründe werden ihm nicht geschildert. Doch am Ende (c. 42) hat Hiob die Frage nicht mehr. Bevor der Referent Fragen und Meinungen der Teilnehmenden sammelte, hatten sie die Aufgabe, für sich den Psalm 73 betend durchzugehen mit der Frage, ob und wie er ihr Gebet werden könne.
Wenn Gott richtet
Im Schlussteil kam Bittner aufs Gericht Gottes zu sprechen. In dem Zusammenhang sind auch biblische Aussagen zu «Rache» (v. 26) zu verstehen. «Gott sorgt dafür, dass der Unterschied zwischen Recht und Unrecht nicht (endlos) verwischt wird, dass Unrecht endlich nicht stärker ist als Recht. Dass das Recht der einzig wirklich lohnende Weg ist.» Das Gericht gehört nach biblischem Zeugnis zum Evangelium als der Ort, da Gott Recht schafft und herstellt und Unrecht bestraft. Bittner betonte: «Wenn ich meine Schuld im Gericht sehe, werde ich sie als eine sehen, für die Jesus schon bezahlt hat.»
Gericht ist aber nicht bloss der Akt des Beurteilens und In-die-Ordnung-Bringens, sondern vorgängig schon «ein längerer Prozess, in dem mir langsam und zunehmend etwas deutlich wird, was ich vorher so nicht gesehen habe: dass Gottlosigkeit zunehmend Jammer und Herzeleid bringt» (Jeremia 2,19). Dass Menschen Zeit bekommen, dies einzusehen, lässt laut Bittner ahnen, dass es viele Situationen gibt, «wo jemand seine Hand dazwischen halten muss, damit es mich nicht trifft».
Wenn zuerst nach den menschlichen Verursachern des Leids auf der Welt zu fragen ist, soll dies nicht zu einem pessimistischen Weltbild führen. Vielmehr sollen Christen sich von Gott den Weg zeigen lassen, auf dem sie die Zusammenhänge immer besser sehen lernen. Und beten, dass er «trotzdem weiter seine Hand dazwischenhält».