Entdeckungen im Umbruch der Kirche

Kreativität, Vertrauen, Charismen, Neuaufbau: leuchtende Stichworte stehen neben drastischen Problemanzeigen aus Deutschlands Osten. Ein Band mit dem obigen Titel versammelt Beiträge der Jahrestagung 2015 des EKD-Zentrums für Mission in der Region. Als Dessert gibt’s Hintergründe zum höchst erstaunlichen Turnaround der Anglikaner in London.

Bietet die Region Entwicklungschancen, gar einzigartige? Christhard Ebert, theologischer Referent des EKD-Zentrums für Mission in der Region in Bielefeld, leuchtet den Begriff aus und bemerkt: «Was eine Region ist, lässt sich ausserhalb ihrer selbst schwer sagen.» Immer aber sind Regionen «dazwischen».

Als Zwischenräume sind sie: Sichträume, Resonanzräume, unter Umständen Überlappungs- oder Verbindungsräume. Und jedenfalls müssen sie Freiräume sein. Darin liegt aber, so Ebert, auch ihre Verletzbarkeit, «denn sie sind nicht an Herrschaft interessiert, sondern an der Entfaltung von Lebensmöglichkeiten».

Region braucht lokale Akteure
Für den Theologen ist klar: «Starke Regionen brauchen starke lokale Akteure.» Gute Prozesse bedrohen die Identität von Kirchgemeinden (Parochien) nicht. «Solange parochiale Identität mehr von Angst als von Vertrauen geprägt ist und deshalb mehr auf Abgrenzung setzt als auf Verbundenheit, wird es für die Region schwer.»
Ebert wünscht Prozesse, in der die Christen einer Region sich als Leib Christi verstehen, Unterschiedlichkeit annehmen, sich vernetzen, zusammenarbeiten und flexible Regelungen finden, die Experimente zulassen. Für vorwärtsgerichtete regionale Entwicklung – statt strukturfixierter Regionalisierung – braucht es eine Vision, die geistlich zu erarbeiten und umzusetzen ist. Christhard Ebert gibt dazu auf 20 Seiten wesentliche Hinweise.

Neu geformt: Ausschnitt des Buch-Covers

Rückbau und Aufbau
Umbau ist Neuaufbau im Rückbau – aber wie? Rückbau bleibt ein Trauerprozess, doch Not macht erfinderisch. «Rückbau und Aufbau müssen getrennt gesehen und geplant werden», schreibt Thomas Schlegel, Kirchenrat der Mitteldeutschen Kirche in Erfurt, zuständig für Gemeinde und Seelsorge. Die Kirchenleitenden hätten in beide Bereiche Energie, Personal und Finanzen zu stecken.

Schlegel fragt: «Wo investieren wir gezielt in die Ausbildung Ehrenamtlicher? Wo machen wir Mut und Lust darauf, völlig neue Wege zu gehen? Wo stellen wir Hauptamtliche frei, Aufbauarbeit zu leisten? Welche Finanzmittel stellen wir für missionarische Projekte zur Verfügung? … Um Aufbau zu ermöglichen, sollten Missionare und Diakone ausgesandt werden: nicht um Aktionen zu machen, sondern um Menschen zu sammeln und Gemeinde zu bauen. Neue Formen von Kirche, von denen wir noch nicht wissen, wie sie aussehen, können so gezielt gefördert werden.» Doch lasse sich Umbau nicht zentral organisieren. Er ereigne sich dezentral und könne zentral nur begleitet werden.

An den Rändern
Für Schlegel – und das gilt auch für Strukturreformen unter komfortablen Schweizer Umständen – gilt es darauf hinzuarbeiten, dass Rückbau günstige Rahmenbedingungen für Aufbau liefert. Das geschieht am ehesten an den Rändern. Der Erfurter zitiert den österreichischen Ökonomen Otto Neurath, der 1932 schrieb: «Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.»

Wohl der einzige direkte Weg vom Rückbau zum Aufbau ist für Schlegel, das verbleibende Geld strategisch dort zu konzentrieren, wo die «Möglichkeit zum Wachstum gegeben ist: in Kinder- und Jugendarbeit oder einer Ehrenamtsakademie oder missionarischen Aktivitäten im Plattenbauviertel. Auch hier sind es die Ränder, denen die finanzielle Aufmerksamkeit gelten sollte.»

Drastische Problemanzeige
Wie viel (oder wenig) vermögen Religionssoziologen – bei allem Reichtum erhobener Daten – über eine Analyse des zunehmenden Unglaubens hinaus für einen kirchlichen Aufbruch zu leisten? Gert Pickel schlägt Alarm: Dass die Hälfte der unter 29-Jährigen deutschen Protestanten es nicht mehr für wichtig ansieht, den Glauben an ihre Kinder weiterzugeben, sei «eine drastische Problemanzeige». Warum handeln Eltern so? Laut Pickel, weil sie einen christlichen Lebensstil im Gegensatz zu den «aktuell dominierenden Wertemustern der Selbstverwirklichung» sehen – «und weil Religion und Kirche in der Öffentlichkeit ein eher verschämtes Dasein führen».

Was geben Eltern ihren Kindern weiter? In Rottweil.

Breitet sich der religiöse Analphabetismus aus, sind einerseits Gleichgültigkeit und andererseits – wie die jüngsten Schlagzeilen über deutsche Rechts- und Linksextreme zeigen – die Radikalisierung grösserer Gruppen unabwendbar. Pickel warnt vor der Meinung, religiös Indifferente könnten jederzeit auf Glauben angesprochen werden – vielmehr sind sie, säkularen Winden ausgesetzt, geneigt, ganz religionslos, ganz säkular zu werden.

Bei Kindern ankommen
Daraus folgert Oberkirchenrat Konrad Merzyn, bei der EKD in Hannover zuständig für den Reformprozess, der religiösen Sozialisation höchste Priorität zu geben. Es komme auf die früheste familiäre Situation an: «Vorleben und Nachahmung sind die beiden zentralen Elemente, mit denen Kinder nicht nur Lesen und Schreiben, Fairness und Gewaltfreiheit lernen, sondern eben auch Zugang zu Religion und Glauben finden.» Es gilt dabei auch, religiös sprachlos gewordene Eltern zu unterstützen. Merzyn hält fest: Für Menschen, die wenig an Bildung interessiert sind, «fehlen … Formen des Erkennens und Erlebens von Religion im Alltag».

Kirchenverantwortliche sollen im Blick auf die Zukunft weder Kirche kleinreden „noch verzweifelt um den blossen Erhalt gegenwärtiger Grösse kämpfen, sondern die geistliche Dimension ihres Grundauftrags profiliert vortragen». Merzyn plädiert dafür, von allen drei soziologischen Theorien zur religiösen Entwicklung (Säkularisierung, Individualisierung, Markt) zu lernen und entsprechend vielfältige Perspektiven zu entwickeln.

Das heisst für ihn: Neben dem Bemühen um Weitergabe des Glaubens (gegen Säkularisierung) hat Kirche auch das auf vielfältige religiöse Aufbrüche einzugehen und «die religiöse Produktivität der Mitglieder ohne Vorbehalte zu akzeptieren» (angesichts der Individualisierung). Und sie kommt nicht darum herum, bestehende Angebote zu verbessern und gänzlich neue für den Markt zu entwickeln.

Kreativität!
Hans-Hermann Pompe, als Leiter des EKD-Zentrums für Mission in der Region versierter Beobachter, sucht «Kreativität im Umbruch». Er fordert, entschieden Freiraum für neue Ideen zu schaffen und «Geburtshelfer der Veränderung» zu fördern. «Potenzielle Kreativität muss befreit werden.» Zu wahr sei das Wort von Jesus vom Propheten, dessen Wort in der Heimat nichts gilt. «Die Kirche muss wie alle anderen lernen, den prophetischen Widerspruch zuzulassen, zu hören und im Aufbruch gehorsam zu sein.»

Hans-Hermann Pompe an der LKF-Tagung in Bern, September 2011.

Was setzt Kreativität frei? Vor allem Vertrauen, sagt Pompe. Zwar wollten Evangelische aus Glauben leben, doch kultivierten viele ein «verhinderndes Misstrauen». Eine gepflegte Skepsis sei bei Pfarrern verbreitet. «Viele in der Kirche trauen Jesus keine Zukunft seiner Kirche zu, weil sie selber am Ende ihrer Möglichkeiten sind.»

Vertrauen ist zu fördern, auch Neugier. Und Menschen sind freizusetzen – statt zu beaufsichtigen und zu gängeln. Pompe wendet sich gegen Trägheit und Kurzsichtigkeit. Er träumt von einer «Willkommenskultur für die vielen Gemeinden der fremdsprachlichen Christen unter uns». Und davon, dass «Menschen aus der muslimischen Bevölkerung hier in Jesus mehr entdecken als nur einen Vorläufer ihres 700 Jahre später gekommenen eigentlichen Propheten Mohammed».

Auf Geistbegabte setzen
Der katholische Theologe Hubertus Schönemann plädiert für eine neue Gestalt von Kirche: durch «Umkehr von einer Gabenorientierung zu einer Charismenorientierung»: Kirche ist von den Gaben der Menschen her aufzubauen, die sich freiwillig einsetzen.

Die deutschen Kapitel des Büchleins toppt ein bewegender Rückblick des Londoner Bischofs Richard Chartres auf den Turnaround der Anglikaner in der englischen Hauptstadt seit 1990: Dazu beigetragen hat ein Ineinander von struktureller Vereinfachung, theologischer Verwesentlichung und geistlicher Sammlung, gepaart mit Demut, Wagemut zur Gemeindegründung und -neubelebung und dem Geschick, begabte Nicht-Theologen zu ermächtigen. – Unbedingt lesenswert!


Entdeckungen im Umbruch der Kirche
Im Auftrag des Zentrums für Mission in der Region
hrsg. von Hans-Hermann Pompe und Benjamin Stahl
Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2016
192 Seiten, Paperback, 978-3-374-4433-­7