Was die Reformation Europa gab
Baron Rowan Williams, bis 2012 Erzbischof von Canterbury, hielt zur Eröffnung des Reformationskongresses in Zürich am 6. Oktober einen Vortrag über das Erbe der Reformation. Darin liess der frühere Leiter der Church of England aufscheinen, was Europa (und die Welt) in der Reformation geschenkt bekam. Und wie komplex – und lohnend – der Umgang mit diesem Erbe ist.
Was haben der Protestantismus und seine Theologie zur christlichen Kultur Europas beigetragen? Williams nannte drei Themen, denen er „anhaltende und wesentliche Bedeutung für die theologische Gesundheit der christlichen Gemeinschaft“ beimisst:
1. Gott ist souverän. Das Handeln des Schöpfers und das Handeln seiner Geschöpfe sind absolut unterschieden.
2. Die Heilige Schrift ist nicht bloss Text und Quelle für die christliche Lehre, sie ist nie nur ein Instrument der Kirche, sondern eine „kritische Präsenz“ in der Kirche, kommt ihr in die Quere.
3. Die Kirche ist zuerst und vor allem die Sammlung eines Volkes, nicht von Herrschern und ihren Untertanen.
Mit der Wiederentdeckung der unbedingten Souveränität Gottes erteilten die Reformatoren jedem menschlichen Bestreben, Gottes Gunst zu erlangen, und auch dem Anspruch der Kirche, seine Gnade zu verwalten, eine Absage: Gott reagiert nicht auf menschliche Frömmigkeit und Bussleistungen, ist in keiner Weise durch menschliches Tun bestimmt. Dies setzt anderseits die Menschen frei, ihre Welt verantwortlich zu gestalten.
Erwartungsvolles Hören auf die Schrift
Die Heilige Schrift, das Wort Gottes, dient seinem von Menschen nicht bedingten Tun. Sie darf nicht von Menschen instrumentalisiert werden. Die Bibel ist „immer ein Buch, das von der Kirche gelesen wird; aber sie wird von der Kirche so gelesen, dass diese zu hören vermag, was sie sonst nicht hören würde… Wir hören auf sie in der Erwartung, in eine Christus ähnlichere Seinsweise verwandelt zu werden.“ Die Schrift ist allen zugänglich – laut Williams unterstreicht dies die gleiche Würde der Getauften. Sie können sich alle ins Gespräch über ihre Botschaft einbringen.
Hellwache Gemeinschaft
Für den anglikanischen Theologe ist das positive Erbe der Reformation „eng verbunden mit der Idee einer Gesellschaft (säkular und kirchlich), die sich selbst befragen kann, die auf die vorgehende Bekräftigung von Gottes Handeln so vertraut, dass Angst und Rivalität gewehrt wird, einer Gesellschaft, die durch eine gemeinsame Konversation um das Narrativ der Schrift geeint und hellwach und bereit ist für die Möglichkeit neuer Einsichten oder neuer Herausforderungen in diesem Kontext“.
Moderne – nicht ohne die Reformation
Die real existierende moderne und ‚aufgeklärte‘ Gesellschaft unterscheide sich von dem, was die Reformatoren anvisierten, sagte Williams, doch hätte sie nicht ohne ihre Anstösse entstehen können. Woher die Unterschiede? Die Moderne habe der Autonomie des Menschen einen solchen Stellenwert gegeben, sagte Williams, dass Gottes Souveränität nun als Bedrohung menschlicher Würde angesehen werde. Und im gleichen Zug meine man, die Freiheit des Einzelnen bedrohe, wer Verantwortung einfordere. „Das reformatorische Bild vom Aufblühen des Menschen schliesst Gehorsam ein“: Die höchsten Freiheiten haben „etwas zu tun mit Unterordnung: sich befragen zu lassen durch eine Realität, eine Wahrheit, die unsere individuellen Agenden übersteigt“.
Missverständnisse und Verzerrungen
In der Folge analysierte der Engländer drei Schwierigkeiten im reformatorischen Erbe. Die Moderne habe die Reformation systematisch missverstanden und wesentliche theologische Elemente von ihr verdreht, meinte er. Es wurde derart auf rationale Erkenntnis gesetzt, dass sich Wissenschaft und Glaube zunehmend gegenüberstanden. Für Williams geht es darum, einen weiten, integralen Begriff von Erkenntnis zurückzugewinnen. Mit den besten Einsichten der Reformation seien die späteren Verzerrungen zu bekämpfen.
Dass Protestanten sich vereinzeln, statt gemeinsam vor Gott zu leben, hange mit einem falschen Verständnis der unsichtbaren Kirche zusammen. Weiter, so Williams, verschliesst die christliche Hoffnung nicht die Augen vor dem Argen, aber sie „erlaubt uns nicht, geringer von unserem Menschsein zu denken, als sein Schöpfer es tut… Von christlicher Hoffnung zu sprechen, heisst von göttlicher Treue zu sprechen; unsere Vision für die Gemeinschaft ist gegründet im Glauben an einen Gott, der frei verspricht, der Gott derer zu sein, die seine Liebe weder verdient noch aus Verpflichtung provoziert haben.“
„Dankbarkeit, dass Gott Gott ist“
Die Sprache des christlichen Glaubens, so der britische Baron, ist „geprägt durch Dankbarkeit für unverdiente und nicht verursachte Liebe und Vergebung, Dankbarkeit dafür, dass Gott Gott ist“. Gott stehe – allen Behauptungen zum Trotz – den Menschen nicht vor dem Licht und der Freiheit.
Rowan Williams schloss mit einer Verbeugung vor Calvin: Der Genfer Reformator habe in seiner Theologie auf die Reife des Menschen gesetzt und zugleich seine Fähigkeiten „schonungslos realistisch“ bewertet. Im 16. Jahrhundert hätten sich die Reformatoren für einen Glauben ohne infantilisierende Impulse eingesetzt; dies müsse heute mehr denn je das Bestreben sein, „wenn christlicher Glaube überzeugen und anziehen und zum Uebertritt veranlassen will“.