Ein Kompass für die Reform der Kirche

LKF: Wir haben Entwicklungen in der Theologie erörtert. Wo müsste eine Reform der Kirche einsetzen?
Ingolf U. Dalferth:
Die meisten Reformen bisher waren Reaktionen auf finanzielle, politische und organisatorische Probleme. Da sehe ich Defizite. Die Wurzeln der Probleme liegen in gesellschaftlichen Veränderungen und in Unklarheiten über den Grund und Sinn des Christseins. Wir sind heute viel mobiler als frühere Generationen. Immer mehr Menschen verbringen immer mehr Zeit in den vom Internet ermöglichten Kommunikationsformen.

Die kirchliche Arbeit ist dadurch notgedrungen ausdifferenziert, aufgesplittert und auf Menschen in bestimmten Lebensphasen bezogen. Viele werden dennoch kaum mehr erreicht, weil sie nicht da sind, sondern an verschiedenen Orten leben. Wie kann man unter diesen Bedingungen dazu beitragen, dass sich christliche Biographien bilden können, dass Menschen lernen, als Christen zu leben, miteinander auf das Vertrauen zu setzen, das Gott nicht nur ihnen, sondern allen Menschen entgegenbringt? Wie wird dieses Vertrauen auf das uns geschenkte Vertrauen Gottes für andere hilfreich und wirksam?

Brauchen wir eine neue Betonung auf kommunitärem, gemeinschaftlichem Leben?
Ohne Bindung an andere – das sehen wir durch die ganze Kirchengeschichte – wird kein christliches Leben dauerhaft sein. Aber es war die Stärke der volkskirchlichen Traditionen in Zentraleuropa, dass sie eine bestimmte Mobilität innerhalb ihres Spektrums ermöglichten. Man konnte in einem Bereich aufwachsen und sich in einem anderen weiter entwickeln, ohne die Kirche verlassen zu müssen. In den USA wechseln Menschen von einer religiösen Denomination, Tradition oder Orientierung zu einer anderen. Häufig führt das Leben aus der Kirche hinaus, in der man aufgewachsen ist.

Was heisst das für uns?
Der Zürcher Kirche wünsche ich, dass sie die ökonomischen Notwendigkeiten und Veränderungen in der Gesellschaft nicht nur als Herausforderung begreift, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Glaube, Hoffnung und Liebe wachsen nur, wenn man sie weitergibt, und um dafür Bedingungen zu schaffen, kann man nicht phantasievoll genug sein. An keiner lieb gewordenen Ordnung sollte man festhalten, wenn sie dem entgegensteht.

Als ich 1995 nach Zürich ankam, lief eine Debatte über sogenannte Richtungsgemeinden. Ich sprach mich damals dafür aus, eher Ortsgemeinden zu stärken. Heute würde ich anders reden: Wir müssen alle Möglichkeiten nutzen. Richtungsgemeinden haben ihr gutes Recht, wenn sie für bestimmte Gruppen von Menschen das sind, was sie zur Kirche bringt. Das muss einschliessen, dass man niemals nur sich selbst, sondern immer das Ganze der Kirche Christi im Blick hat. Und es setzt voraus, dass die Menschen auch erreicht werden.

Dafür hat die Zürcher Kirche inzwischen mit ihrer Milieustudie eine Grundlage geschaffen.
Wir sind in einer instabilen Situation. In den Städten haben wir andere Probleme als auf dem Land, in multikulturellen Umgebungen andere Herausforderungen als in gewachsenen Gemeinden. Was in der Stadt oder in einem bestimmten Milieu abgeht, darf das Vorgehen anderswo nicht bestimmen. Die anonyme Existenz vieler Menschen in der Stadt trägt zum Verlust religiöser Verankerung bei. Aber sie schafft auch neue Bedürfnisse und Interessen. Das gilt für Familien, für junge Menschen und für die wachsende Zahl der alten Menschen auf unterschiedliche Weise. Auf solche Veränderungen, Verschiebungen und Verschiedenheiten müssen kirchliche Angebote ausgerichtet sein. Nicht alles muss dabei immer langfristig angelegt sein. Auch kurze Bemühungen können weit wirkende Folgen haben.

In der hiesigen Öffentlichkeit steht Glauben, der klar bestimmt ist, oft unter Verdacht, besonders wenn Verbindlichkeit erwartet wird.
Ich halte das für einen Fehler. Im Unterschied zu den USA bewegen wir uns von einer staatsgestützten Form von Kirche und Religion in ein unbestimmteres und vielfältigeres Feld hinein. In den USA gibt es keine staatlich privilegierte Religion, sondern es besteht ein religiöser Markt der Gruppen, Denominationen, Religionen und Ideen. In der dortigen Konkurrenz ist Bestimmtheit von jeder Gruppe geradezu gefordert – wenn sie überhaupt wahrgenommen werden will. Sonst hat sie keine Chance.

Bei uns sehe ich immer noch die Meinung vorherrschen, dass wir für alle zugänglich sein müssten, ohne dass grosse Hürden aufgebaut werden dürften. Darum bauen wir Bestimmtheit ab oder suchen sie auf das zu beschränken, was allen gefällt und niemand herausfordert. Das ist aber der sicherste Weg, um nicht mehr wahrgenommen und ernst genommen zu werden. Man wird konturlos und nicht mehr bemerkt. Man kann nicht allen gefallen wollen. Aber wenn sich niemand mehr an einem stösst, ist man nicht mehr das Salz, das wir doch sein sollen.

Als theologischer Lehrer stellen Sie fürs 21. Jahrhundert Gott als Thema ins Zentrum.
Ja, aber auf bestimmte Weise. Das Gottesthema kann ein Platzhalter für alles Mögliche werden. Deshalb kommt alles darauf an, dass man auf bestimmte Weise von Gott spricht, und diese Weise hat sich für christliche Theologie an der Geschichte Jesu Christi zu orientieren. In ihr wird das Reden zu, von und über Gott zentral durch Kreuz und Auferstehung bestimmt. Wenn man diesen Bezug ausblendet, verliert man den Punkt, von dem her sich ein konkretes Verständnis von Gott, vom Menschen und der christlichen Gemeinschaft und Kirche überhaupt erst aufbauen lässt….

…und vom Heiligen Geist geredet werden kann.
Ja. Man kann den Heiligen Geist sehr hoch halten und ihn ständig im Mund führen. Doch auch er muss bestimmt sein. Er wird der Heilige Geist genannt – da ist die Unterscheidung von anderen Geistern mitgesetzt. Was das heisst, beschäftigte schon die ersten Christen stark. Von Anfang an standen sie vor der Herausforderung zu bestimmen, was zum christlichen Verständnis des Geistes gehört. Die Einbindung des Geistes als dritte Person in die Trinität ist eine Antwort auf diese Frage. Sie besagt, dass der Geist unbestimmt bleibt und damit eine problematische oder gar gefährlich Grösse sein kann, wenn er nicht durch den Bezug zum Sohn und zum Vater, den Bezug zur Geschichte Jesu Christi und den Bezug zur Geschichte Gottes mit Israels bestimmt ist. Ohne das bleibt unklar, was zum Geist gehört.

Im Rahmen der Trinitätslehre wird der Geist eingebunden in den Prozess Gottes mit der Menschheit: Er wird bestimmt als der Geist dieses Gottes, dieses Vaters und dieses Sohnes. Als Kraft oder Präsenzweise des Göttlichen können ihn auch andere verstehen. Aber das Göttliche bleibt dabei unbestimmt, und der Geist auch. Er mag dann alles Mögliche eröffnen, aber ihm fehlt die Bestimmtheit, um ihn als Schlüssel zum Erfassen von Gottes Liebe als der Wirkkraft in allem verstehen zu können.

Warten Sie auf ein grösseres Wirken des Heiligen Geistes?
Er wirkt die ganze Zeit. Gott war nie gegenwärtiger als heute. Wir wären gar nicht da ohne ihn: Dass die christliche Kirche noch existiert, kann man nur verstehen, wenn man den Heiligen Geist am Werk sieht. Nur dann kann man auch darauf setzen, dass die Kirche nicht so bleiben wird, wie sie ist, sondern irgendwann einmal der Tag kommen wird, wo man nicht trotz der Kirche, sondern wegen und mit der Kirche an Gott glaubt.

Dr. Ingolf U. Dalferth wirkte 1995-2013 als Ordentlicher Professor am Lehrstuhl für Systematische Theologie, Symbolik und Religionsphilosophie der Universität Zürich.