Gottesdienst zwischen Tradition und Pop
Was ist – und was soll – reformierter Gottesdienst angesichts des postmodernen Lebensgefühls? Die LKF-Tagung am 9. Juni 2007 in Bern zeigte Spannungsfelder und Wege in die Zukunft.
Seit Zwinglis Reformation steht die Predigt im Zentrum des Gottesdienstes. Ralph Kunz, Professor für praktische Theologie an der Universität Zürich, betonte in seinem Vortrag die Offenheit des reformierten Gottesdienstverständnisses. Für Reformierte „ist Tradition nie sakrosankt“; es gelte, Liturgien zu schaffen, die der Erneuerung des Menschen dienen. Daher gehe es nicht um eine fixierte Agende, ein „liturgisches Minimal- oder Notprogramm“, erst recht nicht um die Verteidigung der hergebrachten Liturgie. Aber man könne anderseits “nicht jeden Sonntag das Rad neu erfinden“.
Reformiertes Stilbewusstsein?
Kunz, der in einem Buch Anregungen zu einem zukunftsorientierten „liturgischen Wildwuchs“ gesammelt hat, fragte an der LKF-Tagung vor 70 Personen nach reformierter Identität und ihren Ausdrucksformen in den Gottesdiensten landauf landab, nach reformiertem Stilbewusstsein angesichts von katholischen, orthodoxen und charismatischen Formen.
Er erinnerte an den erzieherischen Ansatz und das puritanische Ethos des Humanisten Zwingli, der Zürich mit der Bibel umfassend läutern wollte (der Rat ordnete 1521 an, alle Misthaufen aus der Stadt zu entfernen). Der Reformator „wollte nur eins: es suubers Züri. Das Reinigungsmittel war die Bibel.“ Das vor der täglichen Übersetzungsarbeit in der Prophezey gesprochene Gebet verband Psalm 119 und Römer 12,1f: „prophetisch verbundenes Gesetz und Evangelium sind die Grundlage des Gottesdienstes“.
Ein lehrhafter Gottesdienst, der zurüstet
Zwingli übernahm den so genannten Pronaus, einen „sang- und klanglosen Nebengottesdienst“, der auf die karolingische Reform zurückging: Unser Vater, Apostolicum, Dekalog, Offene Schuld – und deutsche Predigt. „Nichts soll ablenken von der heiligen Mitte. Augen zu und Ohren auf.“ Es ging um Nachfolge und praktisches Christsein: „Man lernt im Gottesdienst. Man wird für den Alltag zugerüstet. Man hört aufmerksam zu. Man spart Geld.“ Calvin brachte die Elemente in einen Guss: allgemeine Absolution – Anbetung – Predigt – Fürbitte – Sendung. Von dieser Prägung kommen die Reformierten her; sie leiden auch unter ihren Schattenseiten (wenn die Pfarrer Mores lehren und von oben herab anpredigen). Im Zentrum steht das Reden Gottes. „Wir werden angesprochen. Wir schaffen den Gottesdienst nicht. Wir sagen uns nicht selbst, wer wir sind… Gott reformiert uns durch und durch. Er sieht uns als Gerechte! Er rechnet uns unsere Misthaufen nicht an.“
Gratwanderung
Im Vergleich mit Messe (wo die Gemeinde das Wort verinnerlicht und verzehrt) und unterhaltender Gospelshow kommt das „klassische DRS 2-Programm“ der Reformierten verkopft und zu wenig niederschwellig daher. Kunz warnte indes vor dem Denken in falschen Alternativen (z.B. traditionelle / poppige Feier) und verglich das schöpferische Gestalten von Gottesdiensten einer Gratwanderung, die mit dem Grundanliegen der Reformatoren die Einheit der Gemeinde bewahrt. Dabei ist klar: „Wir sind auch in unseren Kirchen längst eine multikulturelle Gesellschaft geworden.“ Kunz folgerte, es sei ein positiver Zugang zum Wildwuchs zu gewinnen. „Es geht um den Geist und nicht um den Buchstaben. Das Wort darf getanzt, getrommelt und gejauchzt werden im Gottesdienst. Und wir bleiben reformiert. Es darf auch georgelt, gesungen und im Kanzelton gepredigt werden.“
Sinnlicher und fröhlicher
Kunz unterstrich: „Am Anfang der Liturgie, die Menschen reformiert, sind Bettler des Geistes.“ Gemeindeaufbau und -wachstum sei auch möglich, wenn die Sonntagsliturgie klassisch bleibe. „Wahre Erneuerung des Gottesdienstes kommt weder von oben noch von der Basis, weder vom Rand noch vom Kern der Gemeinde – sie kommt von reformierten Herzen, von Ohren und Augen.“ Es dürfe sinnlicher und fröhlicher als in der Reformationszeit (wo jahrzehntelang gar nicht gesungen wurde!) zugehen. Aber alles müsse „der Verherrlichung Gottes und der Heiligung der Menschen dienen“.
Das Geheimnis Gottes feiern
Grundlegende Aspekte und neue Wege der Gottesdienstgestaltung wurden von drei Pfarrerinnen vorgetragen: Sr. Doris Kellerhals, Oberin des Diakonissenhauses Riehen, erläuterte den Beitrag von Gemeinschaften und Orden, indem sie „Leiturgia als Lebensfunktion der ecclesiola in ecclesia“ darstellte. Von dem Moment an, als Kirche zur Staatskirche wurde, hätten Christen, dem Wort radikal verpflichtet, Kirche „in heiliger Einseitigkeit“ leben wollen. Kellerhals verwies auf die erste Gemeinde in Jerusalem (Apostelgeschichte 2,42ff) und bezog Gottesdienst auf die drei anderen Grundäusserungen von Kirche (Gemeinschaft, Zeugnis und Diakonie). Gottesdienst heisst, das Geheimnis des dreieinigen Gottes zu feiern, „der in sich Gemeinschaft ist und lebt“. Davon lebt die Gemeinde der Christen. „Sie öffnet sich dem Leben und der bedingungslosen Liebe gottes, um selbst Liebe und Leben weiterzugeben.“
Von anderen Kirchen lernen
Wie Zinzendorf festhielt, kann man sich „auf eine Abnahme des Geistes präparieren, sobald die Liturgie vernachlässigt wird“. Erweckungsbewegungen hätten im Lauf der Kirchengeschichte alte Vorgaben mit erstaunlicher Kreativität für ihre Zeit fruchtbar gemacht, sagte Kellerhals. „Aus der Wiedergeburt konkreter Gemeinschaft“ (Pannenberg) werde die Kirche ihre gegenwärtige Krise überwinden. In der ecclesiola gehören Gebetszeiten (Psalm –Gebet – Lesung – Hymnus) zum Tagesablauf. Reformierte Identität drückt sich „nicht in Abgrenzung von altkirchlichen liturgischen Traditionen“ (Eucharistiefeier, vgl. RG 153) aus. Die Riehener Oberin rief dazu auf, die grosse liturgische Tradition der anderen alten Kirchen – und reformierter Kirchen in anderen Sprachgebieten – aufzunehmen.
Offenheit fürs Transzendente
Die Gemeindepfarrerin Nicole Rochat schilderte, wie sie in Neuenburg (im Kontext bedrückenden kirchlichen Rückbaus und finanziellen Mangels) urbane Sensibilitäten und die Offenheit fürs Transzendente aufnimmt, mit dem Ziel, dass „Gott sich in der Fülle seiner Person“ zeige. „Je garde le coeur de ce qui est évangélique – il faut que je change la forme.“ Mit dem Aufbau und den Geräten der Stiftshütte erläuterte Rochat, was sich im Gottesdienst ereignen soll. Nach der Predigt notieren die Gottesdienstbesucher, was sie getroffen hat, und tauschen zu dritt aus. Die Abendmahlsliturgie ist vereinfacht; „die Menschen sollen sich vorstellen, dass sie am Tisch Jesu sitzen.“ Das Dankgebet geht über in die Fürbitte.
Aktuelle Inhalte – und Beziehungen
In Niederwangen bei Bern finden monatlich Gottesdienste statt, in der „offene und ehrliche Spiritualität“ Gestalt annehmen soll. Die Pfarrerin Ulrike Löffler, die diese Feiern mit einem grossen Team gestaltet, sagte, dass die junge Generation heute „keinen Anker mehr hat, keine Wahrheit, an der sie sich festhalten kann“. Sie plädierte für eine Vielfalt an Formen, um die unterschiedlichsten Menschen anzusprechen, und den Aufbau persönlicher Beziehungen. „Sie wollen den transzendenten Gott erfahren, nicht nur von ihm hören.“ Das Team der „10 nach 10-Gottesdienste“ wolle nicht einen Trend oder Stil kopieren, sondern herausfinden, „was bei uns im Ort dran ist“. Löffler hat in einer Predigt gefragt, was Jesus zu James Bond sagen würde, und ein Ehepaar zu 50 Jahren Ehe interviewt. Fröhliche, fetzige Lieder wechseln mit ruhigen, getragenen ab. Löffler wie Rochat beziehen Anliegen in die Fürbitte ein, die auf Zetteln notiert wurden.
In Workshops und einer Plenumsdiskussion unter Leitung von Pfr. Alfred Aeppli wurden Aspekte des vielschichtigen Themas vertieft. Mehrere Teilnehmende sprachen den Reichtum anderer Kirchen an, andere mahnten zu Sorgfalt und liebevollem Umgang mit der Tradition.